Tiefschwarze Leinwand – gegenwärtiger Moment

Ein Interview mit Vidyagita geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der 3/2024 Geist unter der Rubrik Buddhismus und Kunst.

Die Kunsthistorikerin Vidyagita, seit 2005 Mitglied des buddhistischen Ordens Triratna, führt regelmäßig Gruppen von Besucherinnen und Besuchern durch die Sammlung moderner Kunst des Museums Folkwang in Essen. BUDDHISMUS aktuell hat sie an ihrem Arbeitsplatz besucht und mit ihr über das spirituelle und friedensstiftende Potenzial der Kunst gesprochen.

BUDDHISMUS aktuell: War dir die Liebe zur Kunst in die Wiege gelegt?

Ja und nein. Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, mit meinen Eltern jemals in einem Kunstmuseum gewesen zu sein. Meine Mutter hatte allerdings bei uns zu Hause „schöne bunte Bilder“ aufgehängt. Später wurde mir klar, dass sie von der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ stammten, von Wassily Kandinsky und Franz Marc Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Wunsch, nach dem Abitur Kunstgeschichte zu studieren, kam ganz aus mir selbst. Doch zunächst scheiterte das an den finanziellen Möglichkeiten; ich stamme aus  einer einfachen Familie. Nach einer Zeit in Italien und zwei Jahren Seefahrt als Matrosin auf einem Viermaster ging ich in die USA, arbeitete dort viele Jahre in der Innenausstattung und erst, als ich wieder zurück in Deutschland war, erfüllte sich mein lange gehegter Wunsch, Kunstgeschichte zu studieren. 

Du bist im Vorstand und im Leitungsteam des Buddhistischen Zentrums Essen der Triratna-Gemeinschaft und leitest dort Veranstaltungen und Retreats, vom Einstieg in die Meditation bis zum tiefen Dharmastudium. Auch Kunst-Retreats bietest du an. Werden, wenn Menschen Kunst sinnlich wahrnehmen, in ihnen Ebenen angesprochen, die man als spirituell bezeichnen kann?

Kunst kann sehr anregend und auch erhebend sein. Nutzen kann ich das aber nur, wenn ich mich ihr auch in dieser Haltung zuwende. Auch Kunst, die in spirituellen Kontexten entstanden ist, braucht immer noch die Rezeptivität, die Empfänglichkeit, um auf spirituelle Weise wahrgenommen zu werden und in denen, die sie betrachten, spirituell zu wirken. 

Vorhin habe ich von Wassily Kandinsky gesprochen. Er brachte 1911 das Buch „Über das Geistige in der Kunst“ heraus. Darin wollte er bewusster und sichtbarer machen, wie wir durch Linie, Farbe und das Zusammenspiel der Komposition geistig stimuliert und emotional angeregt werden. Ob ein Mensch das dann spirituell nutzt, ist natürlich noch eine andere Frage – „spirituell“ bedeutet ja, sich selbst über das Psychologische hinaus in einem größeren Kontext wahrnehmen und auch verwirklichen zu wollen und in dieser Weise lebendig sein zu wollen. 

© Susanne Billig

In unserem Vorgespräch hast du erzählt, dass du bei manchen Museumsführungen eine ganze Stunde lang ein einziges Kunstwerk präsentierst, dich also sehr intensiv damit auseinandersetzt. Wie erlebst du dabei persönlich das Zusammenkommen von Kunst und Spiritualität?

Meine Arbeit fordert mich dazu auf, mich immer wieder in den Ausdruckswillen und das Empfinden eines anderen einzudenken und einzufühlen, um den Blickwinkel, die Ansicht dahinter zu erfassen. Darin steckt für mich die Entwicklung von Gewahrsein, Achtsamkeit, Empathie. Das schärft den Blick für Zusammenhänge, und auch Weisheitsaspekte sind enthalten – oder zumindest können sie wie kleine Goldklümpchen geschürft werden. 

Für mich steckt in Kunst enorm viel Potenzial und Mut. Außerdem beschreibt sie unsere Kulturgeschichte: Kunst zeigt die Schritte von Menschen, sich immer wieder über Lebenszusammenhänge, Lebensthemen Gedanken zu machen, sie über das Sprachliche hinaus zu ergründen und das Erkannte in den Künsten auszudrücken. Dazu gehören viele Fähigkeiten – mit Material umzugehen, fein wahrzunehmen, auch das Vorbewusste. Schließlich muss man in der Lage sein, etwas durch ein Arrangement von Farben, Formen, Linien oder eben Musiktönen oder poetischen Worten im Raum spürbar zu machen.  

Mich interessiert auf meinem buddhistischen Weg immer sehr der Prozess der Wahrnehmung selbst. Wie nehme ich Realität wahr? Wo kann ich mich bei meinen Projektionen erwischen? Wie wirken Farben? Was ist überhaupt eine Farbe? Was ist Blau? Was ist Blau neben Rot? 

Genau! In diesem Zusammenhang schätze ich enorm die Bestrebungen der verschiedenen Künste nach dem Zweiten Weltkrieg, noch weiter vom Gegenständlichen loszulassen – ob das jetzt die New York School um Barnett Newman und Mark Rothko ist oder die sogenannte informelle Kunst in den Nachkriegsjahren in Europa. Insbesondere Rothko und Newman haben großflächig einfach nur Farbe angeboten, Farbspiele, Farbräume. Barnett Newman, kein religiöser, aber eben durchaus ein feingeistiger Künstler, schreibt darüber in seinem Aufsatz „Das Erhabene ist jetzt“, auf Englisch „The Sublime Is Now“. Hier im Museum kann ich zum Beispiel anhand eines Bildes von ihm, das eine große tiefschwarze Leinwand zeigt, vermitteln, dass jeder Moment, in dem wir sind, nicht überschaut und nicht durchdrungen werden kann. Und dass jedem Moment auch ein Aspekt der Hingabe innewohnt. Das bewusster wahrzunehmen und der Begegnung mit abstrakter Kunst die Angst zu nehmen ist eine wichtige Aufgabe in der Vermittlung. 

Gibt es so etwas wie Sternstunden der Kunstvermittlung?

Mir ist es wichtig, diesen Prozess dialogisch zu machen. Das heißt, ich versuche die Menschen aus dem passiven Wahrnehmen und stillen Urteilen herauszuholen und ihr Erleben für sie selbst transparenter zu machen. An der Art, wie sie dann weitere Fragen oder Wahrnehmungen formulieren, merke ich, wie sich das anfängliche Denken – das wiedererkennen möchte, Gegenständliches einordnen möchte, Orientierung im Gewohnten sucht – allmählich löst. Es wird weiter und offener.

© Susanne Billig

Manchmal kommen nach einer Führung auch Leute zu mir und erzählen: „Das Bild hängt seit Jahrzehnten über meinem Bett, aber ich wusste nie warum. Jetzt weiß ich es. Sie haben mir eine neue Perspektive vermittelt.“ Das sind natürlich wunderbare Rückmeldungen. Genau darum geht es mir und diesem Museum.

Wie trägst du deine Beschäftigung mit Kunst in dein Zentrum und deine Gemeinschaft?

Manchmal lade ich den Sangha zu einer Führung ein, oder Menschen aus der Gemeinschaft fragen Führungen an. Ich habe auch wöchentliche Dharma-Studiengruppen, wo es zum Beispiel um den Edlen Achtfältigen Pfad geht oder das Bodhisattva-Ideal. Mit meiner kunsttherapeutischen Ausbildung im Hintergrund möchte ich die Theorie und das Zuhören mit dem Schöpfen aus der eigenen Kreativität erweitern. Bei manchen Themen bietet es sich an, mit der Gruppe einfach mal Farbe und Papier herauszuholen, das Thema malend auf Papier zu bringen und anschließend drüber zu sprechen.

Dabei kenne ich auch die Ängste, die beim Malen eine Rolle spielen können, und zähle mich zu den vielen, die nach der Grundschule lange meinten, dass sie nicht malen können. Tatsächlich habe ich meine kunsttherapeutische Ausbildung auch begonnen, um aus diesem Selbstbild auszubrechen. 

Schon der Gründer von Triratna, Urgyen Sangharakshita, hat den Wert der Kunst betont.

Ja, grundlegende Impulse kommen von ihm. Sangharakshita wurde mit Mitte 20 als Theravada-Mönch ordiniert und geriet dann – als Feingeist und poetisch interessierter und auch talentierter Mensch – in das Dilemma, nicht zu wissen, ob er jetzt noch Gedichte schreiben durfte oder was ihm die Tradition an künstlerischem Ausdruck gestattete. Er hat sich dann intensiv mit dem Thema beschäftigt und schon in den 1950er-Jahren den Aufsatz „The Religion of Art“ („Die Religion der Kunst“) geschrieben. So begannen seine tiefgründigen Reflexionen zum Wert der Kunst auf dem spirituellen Weg. 

Daraus haben sich bei Triratna viele Stränge entwickelt. Zum Beispiel gibt es seit 30 Jahren die englischsprachige Triratna-Kunstzeitschrift „Urthona“. Der Titel lehnt sich an eine mythologische Figur im Werk des englischen Dichters und Malers William Blake an. Die Zeitschrift erscheint einmal im Jahr als farbiges Printmagazin, das Kunst und Kultur aus der ganzen Welt aus zeitgenössischer buddhistischer Perspektive reflektiert und erforscht.

Neben Künstlerinnen und Künstlern bei Triratna gibt es auch viele Praktizierende, die einfach nur privat Kunst machen. Das bewegt eines unserer Ordensmitglieder seit 2013 dazu, alle vier Jahre eine Sammlung mit dem Titel „Triratna Arts and Culture“ zusammenzustellen. Er lädt Triratna-Praktizierende aus der ganzen Welt ein, sich mit ihrer Arbeit vorzustellen. Man kann die Sammlung als PDF auch im Internet finden (Link siehe unten).

Buddhistische Künstlerinnen und Künstler malen nicht ausschließlich Buddhafiguren. Was macht das buddhistische Kunstschaffen aus? 

Das hat wieder mit der Motivation zu tun. Warum möchte ich etwas kreieren und zeigen? Bei einem Reportage- oder Dokumentarfotograf beispielsweise geht es dann nicht nur darum, welche Themen er aussucht, sondern auch darum, welche Perspektive er einnimmt. Ist sein Blick auf Menschen unterstützend? Ist er sich ihrer Würde gewahr? Das reicht bis zu der Frage, welchen Institutionen er seine Fähigkeiten zur Verfügung stellt.

Ein weiterer Aspekt ist: Als Buddhistinnen und Buddhisten unserer Zeit besitzen wir einen reichen Schatz an buddhistischer Ikonografie, der im Laufe vieler hundert Jahre entstanden ist, hauptsächlich in anderen Kulturkreisen. In östlichen Ländern ist eine Bildwelt entstanden, die für viele Menschen verkörpert und innerlich wachruft, wonach sie selbst streben. Das gilt aber nicht für alle, vielleicht besonders nicht alle westliche Buddhistinnen und Buddhisten. Ich sprach eben von der Kultur schaffenden Kraft der Kunst. Damit wird die Frage interessant: Braucht es mehr als die überlieferte Ikonografie, um den Buddhismus tief in der westlichen Kultur zu verwurzeln? In diesem Feld arbeiten unter anderem unsere Ordensbrüder Aloka undChintamani. In ihre künstlerische Arbeit fließt nicht nur ihre jahrzehntelange buddhistische Praxis. Sie forschen auch danach, wie Aspekte der überlieferten buddhistischen Ikonografie hier und heute Bedeutung transportieren. Es ist eine wichtige Aufgabe, aus echter, tiefer Praxis heraus zeitlose und universell relevante Bilder zu finden, die für uns das verkörpern und innerlich wachrufen, was wir anstreben. 

© Vidyagita

Kunst ist nicht nur ästhetisch angenehm und geistig erhebend, sondern sie kann auch konfrontierend sein. Es gibt Kunst, die uns schockiert, anpackt, aufrührt oder auch frustriert, weil sie sich schwer erschließt. Wie blickst du als Buddhistin auf die herausfordernde Seite der Kunst?

Mir fällt dazu spontan der Besuch einer Documenta-Ausstellung ein. Ich wollte eine breite Treppe hinuntergehen und war innerlich eigentlich schon unten angelangt, da fiel mein Blick auf ein sehr breites Gemälde, das ich dabei unterquerte. Ich blieb stehen, denn die Farbigkeit, die Formen und Figuren zogen mich sofort in ihren Bann. Langsam erschloss sich mir, dass es dem chilenischen Künstler um den sehr schmerzhaften, wenn nicht brutalen Umgang mit Homosexualität in seinem Heimatland ging.

Ja, Kunst hat die Möglichkeit, mich an Aspekte von Realität heranzuführen, denen ich sonst mangels Gelegenheit vielleicht nicht begegnen würde, entweder weil sie in den Nachrichten nicht vorkommen oder weil sie mir in einem Dokumentarfilm oder einer Zeitungsreportage zu heftig wären, sodass ich vielleicht ausweichen würde. 

Es ist ein Potenzial der Kunst, auch unangenehme Aspekte von Realität zu zeigen. Als Rezipientin habe ich die Möglichkeit, mich dem in meiner eigenen Zeit anzunähern. Ich kann mir in meinem eigenen Tempo Gedanken machen und die Gefühlstöne meiner Antwort wahrnehmen – im Buddhismus sprechen wir von vedana. Die Kunst lädt mich in noch fremde Welten ein und ich kann mein Gewahrsein für das aufgeworfene Thema erweitern und mein Mitgefühl entwickeln. 

Ganz gleich, ob sie Kunst machen oder rezipieren, ist für Buddhistinnen und Buddhisten die Frage wesentlich: Mit welcher Motivation, in welcher ethischen Ausrichtung, mit welcher Weltsicht, mit welchem Blick auf die Menschen zeige ich das, von dem ich meine, dass es gezeigt werden sollte? Es gibt viel Kunst, die weder spirituell erhebend noch ethisch wertvoll ist – von sich aus muss sie es nicht sein.

Wir leben in Zeiten, die viele von uns erschrecken. Die Möglichkeit großer internationaler Kriege wird nach Jahren des Friedens im Westen wieder realer. Viele von uns fühlen sich machtlos angesichts dieser Zustände. Was kann Kunst da tun? Wofür kann sie da sein? Gibt es ein Frieden schaffendes Potenzial der Kunst? 

Mein Geist geht dabei sofort zu dem Potenzial von Kunst, Gewahrsein, Achtsamkeit, Empathie und Mitgefühl zu erweitern. Das sind alles nicht zu überschätzende Werte in dieser Welt, und wenn Kunst dazu beitragen kann – und das kann sie – , dann halte ich das für einen ungeheuer wichtigen Beitrag. 

Das Zweite ist, dass zum Schaffen und zum Rezipieren von Kunst immer Menschen gehören. Und Menschen haben Frieden schaffendes und Frieden erhaltendes Potenzial. Etwas schätze ich sehr an jeglicher Kunst, ob bildende oder darstellende: Sie ist international. Die Kunst schaffende Gemeinde ist transnational, sie überwindet Grenzen.  

Kunst und Architektur haben die Möglichkeit und teilweise auch die Aufgabe, neue Lebensentwürfe in den Diskurs zu bringen. Sind sie auch häufig utopisch, kaum real vorstellbar – einmal in die Welt gebracht, liefern sie Impulse, Energien, wie der bekannte Flügelschlag des Schmetterlings oder auch die Meditation. 

Es sind Flügelschläge, die unsere Welt braucht. 

Vielen Dank für das Gespräch und deine Arbeit!

Weitere Informationen

Der im Gespräch erwähnte Triratna-Kunstkatalog: tinyurl.com/triratna-kunstkatalog | Audiovorträge von Vidyagita: tinyurl.com/vidyagita-audio | Triratna Deutschland: triratna-buddhismus.de Triratna online erkunden (Englisch): thebuddhistcentre.com