Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Mann …

Ein Beitrag von Sylvia Wetzel veröffentlicht in der Ausgabe 2015/3 Gender unter der Rubrik Gender. (Leseprobe)

Die erste Konferenz westlicher buddhistischer Lehrender mit S. H. dem Dalai Lama fand im März 1999 in Dharamsala statt und es ging dabei um die Schattenseiten des Buddhismus im Westen. Die buddhistische Meditationslehrerin Sylvia Wetzel leitete dabei die folgende Meditation für den Dalai Lama an und beschrieb dabei den Weg eines Mannes in einem von Frauen dominierten Buddhismus. Am Ende zeigte sich der Dalai Lama tief bewegt und meinte, so habe er die Situation noch nie betrachtet. Bei der nächsten Konferenz 1994 hingen im selben Audienzsaal statt der Bilder der sechzehn männlichen buddhistischen Heiligen sechzehn Bilder weiblicher Buddhas. Sie hängen immer noch dort – doch die Meditation erscheint uns auch noch immer aktuell.

Weiße Tara

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Mann! Sie interessieren sich für Meditation und für den Buddhismus. Sie besuchen einen tibetischen Tempel, legen Ihre Schuhe ab und treten ein. Da sehen Sie sie, an der Wand gegenüber dem Eingang: Buddha Tara auf einem kostbaren tibetischen Rollbild (thangka), vielleicht zweimal drei Meter groß. Sie erinnern sich, Buddha war eine Frau. Alle tausend Lehr-Buddhas unseres glücklichen Zeitalters sind Frauen. So zumindest lehrt es die Tradition. Auf dem Thangka ist Buddha Tara umgeben von ihren 16 engsten Schülerinnen, den 16 Arhantis, befreiten, freien Frauen. Die Rollbilder, gesäumt von leuchtendem schweren Brokat, erstrahlen in wunderschönen Farben. Mit Hunderten von Menschen warten Sie auf die Ankunft der XIV. Dalai Lama, Friedensnobelpreisträgerin und beliebtes Oberhaupt des tibetischen Volkes. Sie wissen, dass die Dalai Lamas die Inkarnation der Lotosgöttin sind, der stets weiblichen Verkörperung von Liebe und Mitgefühl auf dieser Erde. Die Dalai Lama wird von hohen Würdenträgerinnen begleitet, die sich genau wie ihr verehrtes Oberhaupt seit Jahrhunderten zum Wohl aller Lebewesen für eine weibliche Inkarnation entschieden haben.

Gerade treten die buddhistischen Nonnen ein, aufrechte, selbstbewusste, schöne Frauen in leuchtend roten und gelben Roben; sie werden respektvoll auf die für sie reservierten Plätze in den ersten Reihen geleitet. Hinter ihnen huschen die Mönche herein; etwas schüchtern und verschämt nehmen sie die Plätze in den hinteren Reihen ein. Sie wissen, dass bis auf ein, zwei Ausnahmen alle großen Lamas Frauen waren. Über allen thront die friedliche und machtvolle Gestalt der Grünen Tara. Der Vortrag der Dalai Lama ist erhellend und inspirierend. Sie fühlen sich zutiefst verstanden, fühlen sich wohl im Kreis dieser nach Einsicht und Liebe strebenden Menschen. Und doch, etwas nagt. Wahrscheinlich „das Ego“, das haben Sie zumindest schon einmal in diesen Kreisen gehört. Wenn einem etwas seltsam vorkommt, sollte man immer zuerst daran denken, dass das bloß der Kampf „des Ego“ gegen die Wirklichkeit ist.

ENDE DER LESEPROBE

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Sylvia Wetzel

Sylvia Wetzel befasst sich seit 1968 mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Sie unterrichtet seit 1986 Entspannung, Meditation und Buddhismus im deutschsprachigen Raum und in Spanien. Ihr besonderes Interesse gilt der Reflexion von kulturellen Bedingungen und Geschlechterrollen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher. Sylvia Wetzel ist auch Ehrenrätin der Deutschen Buddhistischen Union, in deren Rat sie 15 Jahre aktiv mitgearbeitet hat, davon 9 Jahre im Vorstand. Sie ist Mitbegründerin und war zwölf Jahre Redakteurin der Zeitschrift „Lotusblätter“, die später in BUDDHISMUS aktuell umbenannt wurde.

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