Smartes Phone oder weiser Mensch?
In einer Welt, die von Smartphones und digitalen Reizen beherrscht wird, verliert sich unsere Gesellschaft immer mehr in virtuellen Welten – oft ohne es bewusst wahrzunehmen. Die Chan-buddhistische Nonne Shifu Simplicity zeigt, wie wir uns aus dem Griff der ständigen Handynutzung lösen können, um uns einer ernsthaften buddhistischen Praxis zuzuwenden und das Leben jenseits von Bildschirm und Ablenkung wiederzuentdecken.
Die Rolltreppe fährt mich hinunter zur Berliner U-Bahn. Der Bahnsteig ist voller Menschen, doch alle starren wie gebannt auf ihr Handy und wirken auf mich wie Zombies, lebendige Schatten ihrer selbst. Als ich dann in der U-Bahn sitze, beobachte ich die Menschen. Auch hier sind fast alle wieder mit ihren Telefonen beschäftigt. Selbst ein Kleinkind im Kinderwagen wischt auf einem Tablet hin und her; ein Junge lehnt an der Haltestange und schaut ein TikTok-Video, ohne zu merken, dass andere Fahrgäste Mühe haben, sich noch an „seiner“ Haltestange festzuhalten. Alle hier scheinen in ihrer eigenen virtuellen Welt gefangen zu sein und die Menschen um sich herum nicht wahrzunehmen. „Ist das die Gesellschaft, in der wir leben wollen?“, frage ich mich. „Ist das die neue Realität unseres Zusammenlebens?“
Wenn ich in Bus und Bahn unterwegs bin, verhalte ich mich, wie es leider nur wenige Menschen heute noch tun: Bewusst schaue ich mir meine Mitmenschen an, nehme meine Umgebung aktiv wahr. Das Handy lasse ich in der Tasche, entschlossen, das auch weiterhin so zu handhaben – nicht nur für mich, sondern auch, um einen Gegenpol zu setzen und eine leise Botschaft zu senden: „Hey, Leute! Hier ist das Leben.“

Dieses Ding in unserem Leben
Als buddhistisch Praktizierende wünschen wir uns, achtsamer zu leben und üben die Sitz- oder Gehmeditation, um unseren konfusen Geist zu beruhigen. In Retreats bemühen wir uns durch intensive Meditation, tiefere Konzentration zu erreichen, und ermöglichen es unserer Weisheit und Klarheit, sich zu zeigen. Wir arbeiten daran, unsere Gier, unseren Ärger und unsere Unwissenheit zu vermindern, und hoffen, sie irgendwann ganz auslöschen zu können. Wir leben die buddhistische Ethik (silas), um uns selbst und andere vor Leid und Hindernissen zu bewahren – jetzt und in Zukunft. Vor Augen steht uns das Ziel der Erleuchtung: das Samsara hinter uns zu lassen und zu erkennen, dass es kein eigenständiges Ich gibt. Um diesem Ziel näher zu kommen, studieren und praktizieren Buddhistinnen und Buddhisten das Dharma und widmen als ordinierte Nonnen oder Mönche sogar ihr gesamtes Leben dieser Aufgabe.
Doch nun ist da „dieses Ding“, das Smartphone, in unsere Welt gekommen. Fast heimlich hat es sich in unseren Alltag eingeschlichen und mittlerweile einen festen Platz darin eingenommen. Anfangs waren viele von uns begeistert, wie praktisch es doch ist: Man kann sich mit anderen vernetzen, Bilder verschicken, chatten, Videos schauen, E-Mails checken, Orte finden, Tickets buchen, online bestellen, Games spielen und so viel mehr. Doch so praktisch es auch ist, in kurzer Zeit entfaltet das angeblich smarte Phone sein Suchtpotenzial und kann uns bald vollständig im Griff haben. Wir werden hineingezogen in die Welt der vielen bewegten Bilder, warten auf Likes und Kommentare – und ehe wir uns versehen, haben wir viele Stunden des Tages vor dem kleinen bunten Bildschirm verbracht.
Suchtpotenzial ist bekannt
Wir wissen, dass das Handy süchtig machen kann und nicht nur für Kinder schädlich ist, dass es Schlafstörungen, psychische und soziale Probleme verursachen kann, die Konzentrationsfähigkeit senkt und die Fähigkeit, sich länger und ausdauernd mit einem Thema zu beschäftigen. Auch können wir in den sozialen Netzwerken beobachten, wie Anonymität Menschen enthemmt und ihren Umgang miteinander immer aggressiver werden lässt. Auch wenn die meisten spüren, dass sie eigentlich viel zu viel Zeit am Handy verbringen, fällt es ihnen schwer, das Ding einfach mal für längere Zeit beiseitezulegen.
Im „Sutra der 42 Kapitel“, das von der frühen Lehre Buddhas geprägt und in der Mahayana-Überlieferung hoch geachtet ist, heißt es in Kapitel 24:
„Buddha sagt: Keine Art von Begierde ist stärker als Sex. Die sexuelle Begierde kann mit nichts verglichen werden. Glücklicherweise gibt es nur eine solche starke Form der Begierde. Wenn es noch eine weitere gäbe, könnte niemand in dieser Welt den Weg zur Erleuchtung verwirklichen.“
Immer wieder betont Buddha in zahllosen Sutren, dass wir die Befreiung von allem Leiden, das Ende des samsara, den Kreislauf der Wiedergeburten, nur dann erlangen, wenn wir sämtliche Begierden – ob groß oder klein – radikal aufgeben und abschneiden. Die Begierde nach Sexualität ist dabei die hartnäckigste, die es zu überwinden gilt. Deshalb verankern die Vinaya-Regeln für Ordinierte das Zölibat und das strikte Gebot, keinerlei sexuelle Handlungen auszuüben.
Schon oft habe ich mir Gedanken darüber gemacht, dass es in unserer digitalisierten Welt möglicherweise mit dem Handy eine weitere ähnlich starke Begierde gibt. Wir wollen Freiheit, wünschen uns, Meister unseres Selbst zu sein, doch stattdessen machen wir uns freiwillig zu Sklaven. Als Praktizierende reflektieren wir ehrlich über unser Verhalten und können sehr genau beobachten, was der digitale Konsum mit uns macht und warum wir immer wieder zum Handy greifen. Woran liegt es denn? Ist es Einsamkeit oder Langeweile? Die Suche nach Trost oder Ablenkung. Oder ist es innere Unruhe? Wir können uns daran erinnern, warum wir eigentlich praktizieren wollen, und sehen, wie sehr die intensive Handynutzung unseren Zielen und Wünschen im Weg steht.
Das Smartphone ist nicht „an sich“ schlecht; es kann durchaus nützliche Wirkungen entfalten. Doch wie bei jeglichem Konsum gilt auch hier: Weniger ist mehr. Deshalb gibt es auch in vielen Klöstern einen sehr eingeschränkten Zugang zu digitalen Medien. Die Handynutzung stellt ein großes Hindernis in unserer Dharmapraxis dar, selbst wenn wir in diesem Leben nicht das Ziel haben, die Erleuchtung zu erlangen. Wie oft sagen wir uns, wir hätten an diesem Tag keine Zeit oder seien zu müde zum Meditieren oder für andere Arten der Praxis. Wenn wir uns abends aber ehrlich fragen, wie viel Zeit wir am Bildschirm verbracht haben – und davon die nützliche Bildschirmzeit abziehen –, dann sehen wir, wie viele Stunden wir mit YouTube, TikTok, Facebook, Netflix, Spielen oder Messenger-Chats vergeudet haben. Da wäre viel Zeit gewesen, um zu meditieren. Aber die Sucht macht uns faul, träge und passiv, denn es ist bequemer, sich einfach nur berieseln zu lassen, anstatt den Geist zu fokussieren. Und genau diese Gewohnheit ist für unsere Praxis tödlich.
Reizüberflutung und algorithmische Blasen
Wir wünschen uns mehr Klarheit, aber stattdessen vernebeln wir unseren Geist für Stunden mit digitalem Müll. Das ständige Scrollen macht etwas mit unserem Geist, denn jeder Sinneseindruck wird in unserem Bewusstsein gespeichert. Wir meinen vielleicht, die Dinge, die wir anschauen, seien harmlos, und erkennen nicht, welchen subtilen und stark negativen Einfluss auch die scheinbar unwichtigen Inhalte auf uns haben können.
Auch interessante Artikel und Berichte können zu einer Reizüberflutung beitragen. Dabei müssen wir nicht alles wissen, was auf dieser Welt geschieht. Ganz zu schweigen davon, dass der Inhalt vieler Artikel nicht gerade heilsam ist und uns oft mit einem Gefühl der Ohnmacht oder sogar Angst zurücklässt, auf die wir dann wieder mit Medienkonsum reagieren. Auch werden wir unbewusst beeinflusst, wenn wir in algorithmische Blasen geraten, also in digitale Filterwelten, in denen Algorithmen uns bevorzugt Inhalte zeigen, die unseren bisherigen Ansichten und Vorlieben entsprechen und uns so immer stärker in einer einseitigen Informationswelt halten. Dadurch verfallen wir sehr leicht in dualistische Sichtweisen und werden weniger kompromissbereit.

Es ist schwer, den Geist frei und klar zu halten – in der Meditation können wir das an subtilen inneren Anhaftungen beobachten. Wer einmal ein intensives Meditationsretreat mitgemacht hat, kennt vielleicht diese Erfahrung: Nach Tagen des Schweigens und der Meditation, in denen wir auch in den Pausen nichts lesen oder schreiben, kommt der Geist allmählich zur Ruhe. Lesen wir dann nur einen Satz oder hören wir beispielsweise den Essensvers, hängt dieser Satz oder nur eines seiner bedeutungslosen Worte wie in einer Wiederholungsschleife in unserem Geist fest. Das ist Anhaftung: Der Geist will etwas ergreifen und festhalten. Das passiert auch im normalen Alltag, bloß ist unser Geist viel zu grob, als dass wir es direkt bemerken würden.
Wie Buddha sprach auch der chinesische Philosoph Laozi in Kapitel 12 seines Daodejing von der Gefahr der Sinnesreize: „Die fünf Farben machen uns blind, die fünf Töne machen uns taub, … die Jagd macht uns verrückt.“ Die Formen, Farben und Töne in unserem digitalen Gerät verblenden uns zunehmend und wir sind tatsächlich regelrecht auf der Jagd nach neuen interessanten Reels, Likes oder emotionalen Kommentaren. Der Geist wird dadurch zunehmend rastloser und verliert den Bezug zur Realität. Wir sprechen davon, im gegenwärtigen Moment leben zu wollen – doch wir tun genau das Gegenteil.
Aus dem Traum im Traum erwachen
Buddha lehrt uns, dass sowohl unser Selbst als auch die Welt, in der wir leben, Illusionen sind: Wir leben in einem Traum. Buddha, der Erwachte, der vollkommen Bewusste, ist aus diesem Traum endgültig erwacht und sieht die Realität unverstellt. Der erwachte Geist ist ganz klar und unbewegt, er erkennt die Ursachen und Bedingungen aller Phänomene und kann entsprechend heilsam handeln. Wir alle haben das Potenzial zu erwachen, und es ist ein Geschenk, in diesem Leben als Mensch geboren zu sein und zusätzlich noch das Dharma kennengelernt zu haben. Wir haben die Chance, dieses Potenzial so gut wir können auszuschöpfen. Wenn wir uns aber stattdessen in die digitale Welt zurückziehen, ist es so, als würden wir in einem Traum im Traum leben, in einer zweiten Schicht der Illusion. Wir versperren uns damit nicht nur den Weg zur Erleuchtung, zum Erwachen aus diesem Traum, wir verpassen sogar das auf der relativen Ebene reale Leben.
Das Leben mit allen Sinnen spüren
Indem wir die Paramitas praktizieren, verbinden wir uns wieder mit dem echten Leben, das wir mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen können. Dies gelingt besonders gut, wenn wir Tätigkeiten mit unseren Händen und unserem Körper verrichten, wie achtsames Geschirrspülen, Essenkochen, Handwerken oder Sport. Ist es nicht viel schöner, einen Waldspaziergang zu machen und dabei den Boden unter den Füßen zu spüren, die Waldluft zu atmen und unsere Bewegung zu erleben, als nur auf der Couch vor einem Bildschirm zu sitzen? Ein realer Sonnenuntergang hat eine beruhigende Komponente, die wir nur angesichts der Wirklichkeit und nicht am Handy erleben können. Wir sollten auch darauf verzichten, den Sonnenuntergang sofort zu fotografieren und das Bild dann in der Welt herumzuschicken. Die Sonne und der Mond haben uns so viel zu sagen – um es zu hören, brauchen wir nur ganz da zu sein. Mehr denn je müssen wir lernen, innezuhalten, still zu werden und uns nach innen zu richten.
Das wahre Leben entfaltet sich in einem klaren, unbewegten Geist – ein Leben, das etwas Magisches besitzt und unerschöpfliches Potenzial birgt. Jede und jeder von uns trägt diesen reinen Geist bereits in sich. Das wahre Leben ist nicht vergleichbar mit den Sinnesfreuden des weltlichen Lebens, denn es hat eine ganz eigene Qualität: ruhig, klar, freudvoll – und letztlich mit Worten kaum zu fassen. Die Dharmapraxis schenkt uns Zugang zu dieser Erfahrung.
Loslösung üben – mit den sechs Paramitas
Was können wir also tun? Die sechs Paramitas sind die zentralen Qualitäten im Mahayana-Buddhismus, die ein Bodhisattva kultiviert, um die Buddhaschaft zu erreichen. Mit ihrer Hilfe können wir lernen, unseren Smartphone-Konsum zu reduzieren.
Dana, Großzügigkeit: Wir spenden unseren Mitmenschen, Partnerinnen und Partnern, Kindern, Freundinnen und Freunden, Fremden unsere Aufmerksamkeit, wir sehen sie und sind für sie da, wir hören ihnen aufmerksam zu, wir verbringen reale Zeit mit ihnen. Dadurch spenden wir auch uns selbst wohltuende Qualitätszeit.
Sila, Disziplin: Wir machen uns selbst konkrete Vorgaben, wie wir unsere Bildschirmzeit verringern wollen, und üben uns dann in Selbstdisziplin, um uns auch daran zu halten. Wir nehmen uns beispielsweise vor, unterwegs nicht aufs Handy zu schauen, sondern es wegzustecken oder ganz bewusst zuhause zu lassen – wir müssen nicht überall und immer erreichbar sein. Wir lassen das Handy in unserem Zimmer, wenn wir mit Freundinnen, Freunden oder der Familie zusammen sind, wenn wir essen, Tee trinken und Gespräche führen. Wir richten eine tägliche maximale Bildschirmzeit und regelmäßig handyfreie Tage ein.
Ksanti, Geduld, Ertragen: Wir halten die innere Unruhe oder Langeweile aus, die uns treibt, aufs Handy zu schauen. Dieser Prozess ist notwendig, um sich zu lösen. Stattdessen können wir Dharmamethoden anwenden und beispielsweise Buddhas Namen oder Mantren rezitieren, Gehmeditation praktizieren oder uns erinnern, ganz achtsam unseren Tee zu trinken.
Virya, Eifer: Wir geben nicht nach und praktizieren den Handyentzug konsequent.
Dyana, Konzentration: Ohne die ständige Berieselung können wir unsere Konzentration aktiv stärken und wieder Dinge tun, für die wir uns konzentrieren müssen, wie das Lesen oder Auswendiglernen von Dharmatexten oder die Meditation.
Prajna, Weisheit: Lassen wir die Ablenkung durch das Handy weg, wird unser Geist entwirrt, und wir geben uns die Gelegenheit, wieder mehr Klarheit aufkommen zu lassen. Anstatt Social-Media-Reels oder Videos anzuschauen oder Artikel zu lesen, können wir uns wieder intensiver mit dem Dharma beschäftigen, Sutren und Dharmatexte lesen und darüber nachdenken. Dharmavorträge sollten wir, wenn möglich, in Präsenz anhören, denn auch diese Art Videos können schnell zum Konsumobjekt werden. Wenn wir nicht innehalten, können wir das Dharma nicht wirklich aufnehmen, geschweige denn umsetzen.

Shifu Simplicity
Shifu Simplicity war früher Ärztin und ist seit 21 Jahren buddhistische Nonne. Sie verbrachte sechs Jahre in Plum Village und 14 Jahre im Chan-Kloster Chung Tai in Taiwan und leitet seit einem Jahr das Miao Fa Zentrum für Meditation und Chan-Buddhismus in Berlin.