Seine größte Erfüllung ist, anderen zu dienen

Ein Interview mit Christof Spitz geführt von Birgit Stratmann veröffentlicht in der Ausgabe 2015/3 Gender unter der Rubrik Porträt.

Buddhismus aktuell sprach Mit Christof Spitz, der seit über 20 Jahren für den Dalai Lama dolmetscht.

XIV. Dalai Lama und Christof Spitz | © Jens Nagels

Birgit Stratmann: Wann haben Sie zum ersten Mal vom Dalai Lama gehört oder an ihn gedacht?

Christof Spitz: Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung Ende der 70er-Jahre über Tibet. Da fiel dieser Satz des Dalai Lama: „Dein Feind ist in Wirklichkeit dein bester Freund, denn er lehrt dich Geduld, wie es ein Freund niemals könnte.“ Ich hatte das Gefühl, dass das bei ihm vollkommen authentisch war, er lebt, was er sagt. Das war ein bewegender Moment für mich, ich fühlte mich spirituell stark angesprochen.

BS: Wie war es, als Sie ihm dann direkt begegnet sind?

CS: 1982 hatten wir vom Tibetischen Zentrum ihn nach Hamburg eingeladen. Er erklärte einen kurzen Text zur Geistesschulung. Eine Zeile lautete: „Wenn du zufrieden bist mit dem, was kommt, bist du in jeder Situation glücklich.“ Diese Zeile hat es sogar aufs Titelblatt der Bild-Zeitung geschafft. Beim öffentlichen Vortrag sprach der Dalai Lama, der gerade aus der Sowjetunion kam, darüber, dass der Eiserne Vorhang nichts Beständiges sei und selbst solche Systeme sich irgendwann änderten. Das war 1982. Ich fand das eine sehr mutige Aussage und dachte: Welch ein Idealismus! Nur sieben Jahre später fiel der Eiserne Vorhang.

BS: Dann fingen Sie an, für den Dalai Lama zu übersetzen. Wie kam es dazu?

CS: Das war 1991, als das Tibetische Zentrum seinen zweiten Besuch in Hamburg unter der Schirmherrschaft von Carl Friedrich von Weizsäcker organisierte. Mein Lehrer Geshe Thubten Ngawang hielt die Zeit für gekommen, dass ich selbst übersetzen sollte, und das Büro des Dalai Lama engagierte mich dafür.

BS: Wie ist es denn so, für ihn zu arbeiten? Ist er ein strenger Arbeitgeber?

CS: Mir gegenüber war er nie streng, sondern fast schon wie ein liebevoller väterlicher Freund. Oft nimmt er meine Hände, manchmal bezeichnet er mich als „Dharmafreund“. Natürlich, wenn er eine Aufgabe hat, konzentriert er sich voll darauf, und da kann er wenig Rücksicht auf meine Befindlichkeit nehmen, ob ich mitkomme, ob ich alles verstehe.

BS: Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich die Unterweisungen mit der Zeit noch verdichtet haben. Geht Ihnen das auch so?

CS: Er war immer schon unglaublich dynamisch. In den 90er-Jahren habe ich auf einer Veranstaltung mit Jugendlichen erlebt, mit welcher Eindringlichkeit er ihnen ins Gewissen geredet hat: „Es ist eure Zukunft, ihr müsst es in die Hand nehmen. Unsere Generation tritt jetzt langsam ab.“ In solchen Momenten geht seine Stimme hoch, seine Augen funkeln, ja glühen schon fast.

BS: Er ist sich treu geblieben mit dieser Direktheit und Emotionalität?

CS: Ja, ganz bestimmt. Obwohl er so berühmt ist, würde er nicht mit seinen Ideen hinterm Berg halten und wie ein Diplomat sprechen.

BS: Er warf der chinesischen Regierung „kulturellen Völkermord“ vor…

CS: …und ist gleichzeitig Verfechter des Mittleren Weges, also der tibetischen Autonomie im chinesischen Staatsverband. Dafür hat er von Tibetern viel Kritik erfahren, aber er hat an seiner Position festgehalten und versucht, andere davon durch Argumente zu überzeugen.

BS: Denken Sie, es war eine richtige Entscheidung, dass er 2011 seine politischen Ämter zurückgegeben und die politische Führung im Exil niedergelegt hat?

CS: Mir erscheint das sehr vernünftig. Der Dalai Lama erzielt oft mit einer Handlung mehrere Wirkungen: Er legt seine politischen Ämter nieder, dadurch stößt er eine weitere Demokratisierung der tibetischen Gesellschaft an, und gleichzeitig nimmt er der chinesischen Propaganda den Wind aus den Segeln, die sagt, es gehe ihm nur um seine Privilegien.

BS: Er ist ja immer offen für neue Ideen.

CS: Ja, seine Offenheit ist eine seiner ganz großen Stärken und ein Zeichen seiner Weisheit. Seit er seine Heimat Tibet verlassen musste, hat er seinen Horizont erweitert, etwa durch enge Kontakte zu Wissenschaftlern. Er entwickelte innerhalb des tibetischen Buddhismus Interesse an Lehren aus der Nyingma-Tradition und kam hier an eine Grenze: Innerhalb der Gelug-Schule gibt es sektiererische Strömungen im Zusammenhang mit Verehrern des Schutzgeistes Shugden, denen sein nicht sektiererischer Ansatz ein Dorn im Auge ist. Dieser Kult steht in krassem Gegensatz zu dem, was der Dalai Lama als Toleranz und Wertschätzung für andere Wege ansieht. Durch seine Abgrenzung von den Shugden-Anhängern hat er sein eigenes Profil für einen Rime-Buddhismus geschärft.

BS:Hat sich der Buddhismus durch den Kontakt mit den Wissenschaftlern für ihn eigentlich relativiert?

CS: Relativiert wäre zu viel gesagt. Aber zum Beispiel hat er einige Lehren aus dem Abhidharma über die Kosmologie verworfen, auch gegen die Traditionalisten. Außerdem plädiert er dafür, die buddhistischen Lehren durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu erweitern. Er relativiert allerdings den Buddhismus, indem er ihn nicht als ein Allheilmittel für alle Menschen und Kulturen ansieht. Und er engagiert sich stark für sein Konzept der säkularen Ethik unabhängig von Religion.

BS: Interessant ist, dass er so viele Menschen aus so vielen Schichten anspricht. Wie erleben Sie ihn da?

CS: Er ist immer sehr menschlich und humorvoll und stellt eine große Nähe zu allen her, die ihn aufsuchen. Es kommen nicht nur Prominente, sondern auch Menschen in Not, Tibeter, Alte und Kranke. Er tröstet sie auf eine liebevolle Weise, gibt ihnen Pillen und verweist sie auf tibetische Ärzte. Das ist sehr rührend. Auch wenn er politische Führer oder Amtsträger trifft, versucht er eine Beziehung auf persönlicher Ebene herzustellen. Das hält ihn nicht davon ab, in politischen Gesprächen die Punkte anzusprechen, die ihm wichtig sind, sei es zu Tibet oder zur Bedeutung menschlicher Werte. Bei ihm finden wir eine große Bandbreite von Emotionen und Haltungen: Zuneigung, Wärme, Humor, eine starke Präsenz bei allem, was er tut, politischen Sachverstand, philosophisches Interesse und eine unglaubliche Klarheit im Denken.

BS: Haben Sie sich durch ihn verändert?

CS: Das wäre zu hoffen! Er ist für mich ein Lehrer, nicht nur als Mensch, sondern auch in philosophischen Fragen. Er kennt die Texte bis in die Details. Er kann unglaublich gut Zusammenhänge erklären und Verbindungen ziehen von Mah mudr zum Dzogchen, vom Tantra zum S tra usw. Sein Verständnis erkenntnistheoretischen Wissens und der Leerheit geht sehr tief, das spüre ich beim Übersetzen. Davon habe ich unglaublich viel gelernt. Und natürlich inspirieren mich auch seine Unterweisungen zur Praxis, wie man all das ins tägliche Leben integriert.

BS: Was wünschen Sie dem Dalai Lama zum 80. Geburtstag?

CS: Ich wünsche ihm zuerst Gesundheit, Vitalität und ein langes Leben. Dass er noch lange seine wichtigen Aufgaben erfüllen kann. Auch, dass es in der Tibetfrage einen Fortschritt gibt und die Tibeter mehr Selbstbestimmung genießen und ihre eigene Kultur in Würde leben können. Und dass sein Lebenswerk, das, was er im tibetischen Buddhismus angestoßen hat mit der Öffnung in die Moderne und Harmonie unter den Traditionen, Bestand hat. Persönlich wünsche ich ihm, dass er mehr Zeit für das findet, was er gern hat: lesen, studieren, reflektieren und meditieren. Aber als Bodhisattva hat er natürlich das Ziel, anderen zu dienen. Darin sieht er seine größte Erfüllung – wie es in seinem Lieblingsvers von Śāntideva, mit dem er sich täglich motiviert, zum Ausdruck kommt: „Solange der Himmelsraum besteht und solange die Welt besteht, solange möge auch ich bestehen, um die Leiden der Wesen zu beseitigen.“