Schmerz der Verbundenheit, Schmerz des Unverbundenseins

Ein Interview mit Isolde Schwarz geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2021/4 Verbundenheit unter der Rubrik Verbundenheit. (Leseprobe)

Sich mit anderen Menschen und der Natur eng verwoben zu fühlen, erzeugt Freude und Geborgenheit, aber auch eine verlässliche Portion an Schmerz. Welche Einsichten, Haltungen und Übungen können im Umgang damit helfen? Ein Gespräch mit Isolde Schwarz, Lehrerin für Meditation, Taiji, Qigong und Achtsames Selbstmitgefühl.

© Dietlind Zimmermann

BUDDHISMUS aktuell: Beginnen wir einmal mit den positiven Seiten der Verbundenheit. Wie lassen sich die beschreiben?

Isolde Schwarz: Die positiven Seiten der Verbundenheit kennen sicherlich alle: Wenn ich in der Verliebtheitsphase die ganz Welt umarmen möchte, jeden Menschen, der mir auf der Straße begegnet, aus vollstem Herzen anlachen könnte. Feiner und subtiler, aber genauso kraftvoll erlebe ich diese Verbundenheit in der gemeinsamen Praxis des Meditierens, Rezitierens oder in gemeinsamer Taiji-Bewegung, wo alle wie durch einen Atem schwingen. Die positiven Seiten menschlicher Verbundenheit berühren mein Herz auf stärkende Weise, lassen mich mit anderen zusammen lachen und geben mir Halt, wenn es mir schlecht geht, weil ich fühle: Es gibt Menschen, die mir beistehen. 

Verbundenheit erlebe ich auch in der Natur: Wenn mein Blick sich in der Unendlichkeit der Oderauen-Landschaft verliert, „kann mein kleines Selbst sich auflösen, während sich mein Bewusstsein in diese Weite ausdehnt. Ich verbinde mich dann mit etwas, das viel größer ist als meine kleine Welt. Ich erinnere mich daran, dass ich nicht nur dieser begrenzte Körper und Verstand bin, sondern auch diese unendliche Weite, die ich erblicke.“ So drückt es Mark Coleman in dem Buch „Die Weisheit der Wildnis“, aus.1 Diese tiefe Verbundenheit gibt mir immer wieder Vertrauen und Zuversicht, auch in unsicheren Zeiten wie während der Pandemie.

Du unterrichtest MSC, die Abkürzung steht für Mindful Self-Compassion. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines solchen Kurses im Achtsamen Selbstmitgefühl befassen sich in einem Seminarteil auch mit dem „Schmerz der Verbundenheit“. Das wirkt erst einmal überraschend. Worin besteht dieser Schmerz?

Wir haben alle schon den verblüffenden Moment erlebt, wenn sich eine Person neben uns den Finger einklemmt oder sogar nur davon erzählt, wie ihr das passiert ist: Ein Schauer durchläuft unseren Körper – genauso, als würden wir selbst diesen Schmerz erleben. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes Schmerz der Verbundenheit. Die Nervenzellen, die dieses Mitschwingen verursachen, werden Spiegelneuronen genannt und haben unseren Vorfahren das Überleben gesichert. Spiegelneuronen imitieren, was wir sehen, damit wir das Befinden eines anderen Menschen fühlend nachvollziehen können. Blitzschnell erkennen wir dann, ob wir Freund oder Feind, Gefahr oder Gefahrlosigkeit gegenüberstehen. Das Mitschwingenkönnen ist also eine wichtige Qualität unseres menschlichen Zusammenlebens. Natürlich schwingen wir noch intensiver mit, wenn unsere Liebsten leiden oder Menschen, für die wir in der Pflege verantwortlich sind. Je größer die Fähigkeit des Mitschwingens, umso größer der Schmerz des Mit-Leidens, der Schmerz der Verbundenheit.

Einsamkeit ist in unserer fragmentierten Gesellschaft ein wachsendes Problem, für junge wie für alte Menschen. Wir leiden darunter – gehört das auch zum Schmerz der Verbundenheit

Einsamkeit ist der Schmerz des Unverbundenseins. Er entsteht aus der tiefen Sehnsucht nach Verbindung mit anderen Menschen, weil es entweder niemanden gibt oder die bestehenden Beziehungen als nicht nah genug erlebt werden. „Somit sind Einsamkeit, Sehnsucht und Trauer soziale Gefühle, die bei Verlust und Abwesenheit von Bindung erlebt werden können“, schreibt Christine Brähler in ihrem Buch „Neue Wege aus der Einsamkeit“2. Darin zeigt sie auf, wie Selbstmitgefühl zu einem tieferen Verbundensein mit uns selbst führen kann.  

Einsamkeit ist ein komplexes Geschehen, und ich möchte mir nicht anmaßen, leichtfertig Tipps zu geben. Dennoch könnte ein erster und wesentlicher Schritt zur Erleichterung und Wiedererlangung eines Verbundenheitsgefühls die Entdeckung und Entwicklung einer liebevollen Beziehung zu sich selbst sein. Wir können beginnen zu lernen, selbst wohlwollend und freundlich mit uns umzugehen – so, wie wir auf eine liebe Freundin reagieren würden. 

Wie genau kann diese Form der Selbstzuwendung aussehen?

In dem 2010 von den Psychologen Kristin Neff und Christopher Germer entwickelten empirisch gestützten MSC-Trainingsprogramm aktivieren wir unsere Selbstheilungsfähigkeit durch Selbstmitgefühl mit Übungen und Meditationen. Wir üben eine Haltung ein, in der wir uns selbst das geben, was wir am meisten brauchen. Das mag verwunderlich und ungewohnt klingen, aber die Natur hat uns mit einem Bindungs- und Fürsorgesystem ausgestattet und es so eingerichtet, dass wir Fürsorge empfangen und in beide Richtungen geben können: anderen und uns selbst. Bewusst können wir beginnen, uns selbst tröstend und wärmend die Hand aufzulegen, liebevoll mit uns zu sprechen, uns selbst Halt und Trost zu geben, uns uns selbst zuzuwenden.

Wir erfahren Sicherheit dann nicht mehr durch unser Verteidigungssystem, sondern eben durch Bindung und Fürsorge. Mit einem offenen und friedvollen Herzen erleben wir dann einen Zustand voller Verbundenheit und Offenheit. Für mich als Taiji- und Qigong-Praktizierende führt dieser Weg auch ganz körperlich in die Vier Unermesslichen Herzensqualitäten, die Buddha gelehrt hat: Mit einem Herzen, das erfüllt ist von liebender Güte, dehne ich mich mit weit ausgebreiteten Armen in alle Himmelsrichtungen aus, nach oben, nach unten, in alle Richtungen und überall hin, zu allen und zu mir selbst – dann spüre ich Verbundenheit und Offenheit im ganzen Körper, vor allem im Herzen. 

© Alfred Folkers

Nun könnte man auf die Idee kommen zu sagen, und viele Menschen tun das auch: „Ich meide jede Bindung, dann muss ich den Schmerz nicht erleben.“ Kann das eine Lösung sein?

Es ist wirklich schade, dass viele Menschen die Konsequenz ziehen, sich in sich selbst zurückziehen, wenn sie verletzt worden sind oder Ablehnung erfahren haben. Leider kann es dann sein, dass sie stattdessen den Schmerz der Einsamkeit, des Unverbundenseins spüren. 

Wir können zwei Arten von Leid in Beziehungen erleben: den Schmerz der Verbundenheit und den Schmerz des Unverbundenseins. Mit Schmerz des Unverbundenseins ist Leid gemeint, das entsteht, wenn Menschen mich verletzen, wütend machen, ablehnen oder ich mich alleingelassen fühle. Es ist das Leid, das entsteht, wenn ich in einer Beziehung nicht bekomme, was ich mir wünsche. Indem ich als Konsequenz aber jegliche Bindungen meide und mich zurückziehe, isoliere ich mich immer mehr und fühle mich schließlich einsam und unverbunden. Als Schmerz der Verbundenheit kann man den Schmerz beschreiben, der auftaucht, wenn, wie wir oben schon besprochen haben, uns nahestehende Menschen leiden und wir mitleiden. Das wiederholt zu erleben, ist ein Moment großen Leids, der bis zur Fürsorgemüdigkeit und zum Burn-out führen kann.

Der übliche Rat in so einer Situation ist, sich von zu enger Bindung abzugrenzen, um den Schmerz der Verbundenheit nicht zu spüren.

Abgrenzung kann keine Lösung sein – denn das würde ja bedeuten, sich auch vom eigenen Erleben abzugrenzen, von den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Wir brauchen aber unsere Sensibilität, um gesund zu bleiben und gut für uns selbst sorgen zu können, ganz besonders in leidvollen Lebenssituationen.

Damit sind wir bei der Selbstfürsorge. Sie wird ja auch häufig in Situationen des Burn-outs und der Fürsorgemüdigkeit empfohlen. Das ist natürlich eine gute und wichtige Empfehlung – sie hat nur den Nachteil, dass wir ihr in den herausfordernden Situationen mit Pflegebedürftigen, Angehörigen oder Freundinnen und Freunden, die unserer Unterstützung bedürfen, nicht nachgehen können. Die übliche Art der Selbstfürsorge – spazieren gehen, schlafen, Urlaub machen, sich massieren lassen und so weiter – findet außerhalb der belastenden Situation statt. Wir brauchen aber etwas, das uns in der Situation stärkt und erdet.

Sowohl dem Schmerz der Verbundenheit als auch dem Schmerz des Unverbundenseins können wir mit liebevoller Fürsorge und Weichheit begegnen, anstatt ihn zu bekämpfen. Wie wir es schon im Zusammenhang mit der Einsamkeit angesprochen haben, können wir tatsächlich lernen, uns dem Schmerz zuzuwenden und uns selbst freundlich zu halten, inmitten dieses Schmerzes. Nicht um ihn loszuwerden, sondern weil er da ist und so wehtut. 

Auch das mag sich ungewohnt oder gar unvorstellbar anhören. Aber wenn wir uns vor Augen führen, wie wir mit einer Freundin in einer ähnlichen Situation umgehen würden, fällt uns vielleicht schnell ein, wie wir auch uns selbst trösten und halten könnten. Durch ein geduldiges, liebevolles und hingebungsvolles „Training“ von Selbstmitgefühl entwickeln wir allmählich die Ressourcen, uns selbst Beistand und Geborgenheit zu geben. Wir können lernen, mehr und mehr zu erkennen, was wir wirklich brauchen, und unser Leben danach ausrichten.

Kristin Neff definiert drei Elemente des Selbstmitgefühls3, die auch die Schritte auf dem Weg zu einem fürsorglichen Umgang mit uns selbst wunderbar beschreiben:

Anmerkungen

1 Mark Coleman: „Die Weisheit der Wildnis“, Arbor Verlag 2013

2 Christine Brähler: „Neue Wege aus der Einsamkeit“, Irisiana Verlag 2020

3 Kristin Neff: „Selbstmitgefühl Schritt für Schritt“, Arbor Verlag 2017

Weitere Informationen

Website von Isolde Schwarz und Nadja Ledenig mit mehreren geführten Audio-Meditationen zum Thema und kostenlosem Meditationsangebot: mindfulcompassion.de

Center for Mindful Self-Compassion: CenterForMSC.org

Webseite der deutschsprachigen MSC-Lehrenden: msc-selbstmitgefuehl.org

ENDE DER LESEPROBE

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Isolde Schwarz

Isolde Schwarz ist Sozialpädagogin und lehrt im Taiji-Weg-Berlin seit 25 Jahren Taiji, Qigong und Meditation. Sie hat ein buddhistisches Grundlagenstudium bei Tan Ajahn Piyadhammo absolviert. Beide gemeinsam gründeten 2010 die „Bewegte Philosophie“.

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