Mut zur Verantwortung

Ein Beitrag von Sylvia Wetzel veröffentlicht in der Ausgabe 2023/4 Verantwortung unter der Rubrik Schwerpunkt Verantwortung.

Wer für das eigene Handeln in Gedanken, Worten und Taten die Verantwortung übernehmen möchte, muss sich gründlich selbst erforschen. Mit ihren Vorschlägen und Übungen dazu orientiert sich die Dharma-Lehrerin Sylvia Wetzel an traditionellen Karma-Lehren und übersetzt sie für die heutige Zeit. 

Was ist Verantwortung? Beim Wort genommen ist es eine mutige Antwort auf Herausforderungen, die ich annehmen will. Der englische Begriff responsability betont die Fähigkeit, ability, zu antworten, respond

Mich inspiriert seit Jahren die Aussage von Helmut Schmidt: „Wer Verantwortung trägt, der muss sowohl für die beabsichtigten wie die unbeabsichtigten Folgen aufkommen.“ Seither achte ich stärker auf die unschönen und nicht von mir beabsichtigten Folgen meines Handelns. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt betont den Mut, den Handeln braucht – da wir seine Folgen nie genau wissen, nur abschätzen können. Die buddhistischen Lehren empfehlen vor allem das Nachdenken über Motive und Absichten und die Folgen unseres Handelns mit Körper, Rede und Geist. 

Als buddhistische Lehrerin empfinde ich eine doppelte Verantwortung: gegenüber der buddhistischen Tradition und der europäischen Kultur. Der buddhistischen Tradition bin ich dankbar für die Lehren und Übungen, die mir seit über vierzig Jahren Orientierung im Denken, Fühlen und Handeln geben. Der europäischen Kultur danke ich für Aufklärung und Menschenrechte, für das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und für die Frauenbewegung, für christliche Werte, vielfältige Literatur und Kunst und vieles mehr. 

Zusammengefasst lässt sich die Verantwortung, die ich wahrnehme, so beschreiben: Lehre ich buddhistische Thesen und Übungen ohne kulturelle Übersetzung, werde ich meiner europäischen Herkunft und den Menschen hier nicht gerecht. Lehne ich alte Lehren als vorgestrig ab, verhalte ich mich verantwortungslos gegenüber der buddhistischen Tradition. Sie hat die Lehren des Buddha rund 2 500 Jahre bewahrt und für unterschiedliche Kulturen in Asien und anderen Teilen der Welt immer wieder kulturell übersetzt. 

Weil ich, aus Verantwortung für beide Traditionen, meine Motive und Absichten und die Folgen meiner Art des Unterrichtens immer wieder neu überprüfe, möchte ich mich in diesem Beitrag auf traditionelle Hinweise aus den Karma-Lehren beziehen und sie für unsere Zeit übersetzen. Schließlich geht es beim Thema Verantwortung darum, die Motive und Folgen unseres Handelns in Gedanken, Worten und Taten eingehend zu reflektieren. Genau dazu fordern uns die traditionellen Karma-Lehren auf.

1. Verantwortung: Die Folgen unseres Handelns bedenken

Der Begriff Karma, von Sanskrit kri, „handeln“, bedeutet zunächst einfach „etwas tun“. Das Wort „kreativ“ hat übrigens dieselbe Wurzel. Menschen wollen wissen, warum etwas geschieht und wozu es führt, deshalb achten sie auf Ursachen und Wirkungen. Das verführte sie schon zu Buddhas Lebzeiten dazu, mit diesem Thema linear und monokausal umzugehen. Ursachen und Wirkungen in einfachen Abläufen zu erkennen und zu nutzen, dient dem Überleben, und auch Tiere können das gut. Aber menschliches Leben ist sehr komplex, und darum treffen simple Vorstellungen von klar identifizierbaren Ursachen und nachfolgenden Wirkungen selten zu. Leider treffen wir auch im Buddhismus auf solche Vereinfachungen, obgleich die Karma-Lehren eigentlich sehr differenziert gemeint sind. So heißt es zum Beispiel im tibetischen Stufenweg zum Erwachen, lamrim: „Wer eine schöne Stimme hat, hat im letzten Leben meist die Wahrheit gesagt“ oder „Wer hässlich ist, war im vorigen Leben häufig wütend“ – in unseren heutigen Ohren klingt das irritierend naiv und überheblich.

Auch in Europa treffen wir auf solche Phänomene. Manche Christen glauben heute noch, trotz der europäischen Aufklärung und dem Aufstieg eines anspruchsvollen geistes- und naturwissenschaftlichen Denkens, dass Leiden die Strafe für Sünden sei. Und nicht wenige buddhistisch Übende im Westen glauben an Selbstoptimierung durch buddhistische Übungen, was die Komplexität des spirituellen Entwicklungsweges ignoriert. Doch: Aller Anfang ist schwer, und es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zu erkennen, wann wir in unserer buddhistischen Praxis in einen Überlebens- und Leistungsmodus geraten, den wir eigentlich hinter uns lassen wollen. Den Wunsch nach Selbstoptimierung zu bemerken, lässt sich also als erster Schritt auf einem Weg der Selbsterkenntnis interpretieren und akzeptieren, dem gewiss noch weitere folgen werden.

2. Verantwortung: Motive und Absichten erkunden

Warum und wozu will ich etwas tun? Das sind zwei wichtige Fragen, mit denen wir die inneren Gründe für unser Handeln erkunden können. Der psychologische Begriff „Motivation“ beschreibt vor allem, warum, aus welchem Bedürfnis heraus wir etwas tun. „Absicht“ bezieht sich auf das Ziel einer Handlung, das Wozu. 

Laut den Lehren des Mahayana sind vier Entwicklungsschritte in unserer Motivation zu unterscheiden. Wir suchen und wünschen uns: 1. kurzfristige Befriedigung, 2. langfristige Befriedigung, 3. Befreiung von Verblendungen und 4. Erwachen zum Wohle aller.

Die erste Motivation gilt als weltlich, denn sie richtet sich nur auf das kurzfristige eigene Wohl, das wir zu erreichen suchen durch Besitz, Ruhm, Anerkennung und angenehme Gefühle oder auch, indem wir den Verlust von Dingen und Status vermeiden ebenso wie Ablehnung und Kritik oder unangenehme Gefühle.Solche kurzfristigen Bedürfnisse richten sich auf unser Überleben in der Welt. Das ist notwendig, reicht aber nicht für ein sinnvolles Leben. Die Erfüllung langfristiger Bedürfnisse hilft uns, erwachsen zu werden und Verantwortung für unser Leben zu übernehmen. 

Erst die dritte Motivation, die Befreiung von Verblendungen, gilt als ernsthafter Schritt auf dem buddhistischen Weg. Hier geht es um den Wunsch, die eigenen Verblendungen – nicht mehr nur die der anderen – zu erkennen und abzubauen. Wer in diese Motivation hineingewachsen ist, befindet sich bereits auf dem Weg zu einem konstruktiven Miteinander unterschiedlicher Menschen. Die Bereitschaft, an den eigenen Verblendungen zu arbeiten, bildet auch die kognitive und emotionale Voraussetzung für die Achtung der Menschenrechte. Sie kann nur gelingen, wenn wir mit unterschiedlichen Menschen auskommen wollen und können. Den nicht aufhebbaren Widerspruch zwischen der Vision abstrakter Gleichheit und der Erfahrung konkreter Verschiedenheit können wir nur aushalten, wenn wir unsere Verblendungen – in tiefenpsychologischer Sprache: unseren Schatten – erkennen und abbauen und möglichst viele heilsame Fähigkeiten entwickeln, um klug und mitfühlend mit uns und anderen Menschen umgehen zu können.

Als Krönung des Mahayana-Weges gilt der Wunsch, zum Wohle aller zu erwachen. Das bedeutet konkret, dass wir möglichst viele Fähigkeiten entwickeln möchten, mit denen wir anderen beistehen und sie zu einem heilsamen Leben inspirieren können. 

3. Verantwortung: Mit Scheitern umgehen

Die Karma-Lehren beschreiben sehr genau, wann eine Handlung in dem Sinne als vollständig zu betrachten ist, dass sie karmische Folgen nach sich zieht: Erstens ist eine andere Person von meiner Handlung betroffen, zweitens handle ich mit Absicht, drittens führe ich die Handlung tatsächlich aus und stelle sie mir nicht nur vor und viertens vollende ich die Handlung und freue mich darüber. Meines Erachtens ist es sinnvoll, den ersten Punkt um die Rücksicht auf unsere eigenen Interessen und Bedürfnisse zu erweitern, denn unser Handeln sollte auch uns selbst nicht schaden. 

Es versteht sich, dass wir unsere Motive und Absichten prüfen sollten, bevor wir etwas tun. Dennoch passiert es immer wieder, dass wir erst im Nachhinein merken, dass wir andere verletzt haben. Dann können wir die schädlichen Folgen abschwächen, indem wir das anerkennen und bedauern. Die Lehren empfehlen eine Reinigung in vier Schritten: 1. Bedauern aus Einsicht, 2. Klärung der tiefsten Absichten oder Zufluchtnahme, 3. Vorsatz, es nicht wieder zu tun, und schließlich 4. als Heilmittel oder Gegenmittel etwas tun, was dem unheilsamen Tun ganz natürlich entgegenwirkt. Wir können uns zum Beispiel um besondere Aufmerksamkeit bemühen, wenn wir einem anderen Menschen in letzter Zeit wenig zugehört haben.

Durch die vier Schritte der Reinigung können sich Schuldgefühle verringern, die uns vielleicht belasten. Es geht im Buddhismus nicht um Sünde und Schuld, sondern um die Einsicht, warum ein Verhalten schädlich war und wie es uns gelingen kann, unsere Einstellungen und unser Verhalten in heilsamer Weise zu transformieren.

4. Verantwortung: Üben

Als ständig wirksame Kraft der Reinigung gilt im Buddhismus die Praxis der ethischen Regeln und regelmäßiges Üben. Auch mit kurzen Übungen untertags können wir Herz und Geist läutern. Darum möchte ich jetzt drei Übungen vorstellen, die ich entwickelt habe, um einige wichtige Karma-Lehren kulturell zu übersetzen. Viele Menschen, die meine Vorträge und Kurse besuchen, berichten, dass sie sich mit diesen Übungen besser verstehen und inspiriert fühlen, ein anderes Verhalten auszuprobieren. 

Zum Setting: Persönlich halte ich es so, dass ich ein paar Tage mit derselben Übung experimentiere. Dafür reserviere ich mir vier bis fünf Mal die Woche jeweils 10 bis 15 Minuten. Während der Übung sitze ich mit Stift und Papier auf meiner Couch.

Für alle drei Übungen gilt: Wir stimmen uns mit ein paar Minuten Atemmeditation oder stillem Sitzen ein. Dann fragen wir uns: Warum und wozu will ich das üben? Wir lesen die Übungsanleitung, machen uns bei Bedarf ein paar Notizen. Die Übung beschließen wir mit einer Zusammenfassung. Dazu beantworten wir uns folgende Fragen: Was ist mir aufgefallen oder klarer geworden? Was hat mich berührt? Wir fassen das in einem Bild, Satz oder Wort zusammen, notieren es vielleicht schriftlich und lassen es ein paar Momente wirken. Ganz zum Schluss sprechen wir einen traditionellen Widmungsvers oder formulieren in eigenen Worten den Wunsch, wie sich diese Übung auf unser Leben mit uns selbst und anderen auswirken soll. 

„Motive und Absichten“

Wir notieren uns acht bis zehn Abläufe oder Handlungen, die in der letzten Woche oder im letzten Monat im Vordergrund standen. Dann fragen wir uns: Warum und wozu habe ich das getan? Diente das der Befriedigung kurzfristiger oder langfristiger Bedürfnisse? Ging es um Besitz, Ruhm, Anerkennung beziehungsweise Zuwendung und/oder angenehme Gefühle? Oder ging darum, Verlust, Kritik und unangenehme Gefühle zu vermeiden? Hat mein Handeln mir geholfen, meine Verblendungen besser zu erkennen? Hat es meine Ausrichtung auf das Wohl aller Wesen gefördert? Welches Tun will und kann ich verringern und welchen Anliegen will ich mehr Raum geben?

„Aufhänger, Stimmung, Hintergrund: Erwartungen und alte Muster“

Den Hintergrund dieser Übung bildet die Erkenntnis, dass äußere Umstände lediglich Auslöser unserer Erfahrungen sind. Grundstimmung, Erwartungen und reaktive Emotionen sind hingegen die Hauptursache dafür, wie wir Erfahrungen bewerten. 

Wir denken an eine kleine Irritation aus den letzten Tagen. Im Freiraum der Übung fragen wir uns: Was war der Auslöser oder Anlass für die Irritation? Waren es Worte oder Gesten, ein Blick oder ein Verhalten? In welcher Stimmung war ich unmittelbar davor? Entspannt oder neutral, nervös oder müde? Zum Hintergrundfragen wir: Welche Erwartungen hatte ich an die Situation, an die anderen und an mich? Und welches Muster, welche reaktiven Emotionen wurden ausgelöst? Kenne ich sie? Will ich mich weiterhin so verhalten? Was will und kann ich verändern? Kann ich dem Auslöser für Irritationen ab und zu ausweichen und häufiger für eine entspannte Stimmung sorgen? Will und kann ich meine Erwartungen überprüfen und verändern und ein anderes Verhalten ausprobieren? 

„Vier Schritte der Reinigung“

Den Hintergrund dieser Übung bildet der Umstand, dass wir ein Verhalten nur dann bedauern, wenn wir einsehen, dass es uns und anderen schadet. 

Wir denken an ein Verhalten, das wir gut von uns kennen und von dem wir wissen, dass wir andere Menschen damit immer wieder vor den Kopf stoßen. Wir reflektieren: Wollen wir weiterhin eingefahrenen Mustern folgen oder sie doch lieber bemerken und abbauen und ethisches Verhalten einüben? Im zweiten Übungsschritt können wir uns ein grundlegend anderes Verhalten vornehmen, zum Beispiel, nie wieder zu lügen oder jemanden abzuwerten. Auch wenn das unrealistisch sein mag, schafft ein deutlicher Vorsatz doch einen positiven karmischen Eindruck. Schließlich überlegen wir im dritten Schritt, welche Verhaltensänderung realistisch ist. Beispielsweise können wir uns vornehmen, in der nächsten halben Stunde oder bei der nächsten Begegnung freundlich oder zumindest höflich zu bleiben. 

Zur Vorbereitung auf schwierige Begegnungen können wir mit den Vier Unermesslichen üben: Wir üben Freundlichkeit und Freude, wenn es gut läuft, und Mitgefühl und Gelassenheit, wenn es Probleme gibt. Wenn uns das in einer Situation zu schwierig erscheint, versuchen wir mit einer gewissen Sturheit und Beharrlichkeit, einfach nur höflich zu bleiben. 

Literaturhinweise

Zur Vertiefung empfehlen sich einige der Bücher von Sylvia Wetzel: „Perlen buddhistischer Weisheit. Meditationen von A-Z“, Patmos 2023; „Hoch wie der Himmel, tief wie die Erde“, erweiterte Neuausgabe, Patmos 2022; „Grüne Tara, Freie Frau“, edition steinrich 2022; „Achtsamkeit und Mitgefühl“, Klett Cotta 2014.

Sylvia Wetzel

Sylvia Wetzel befasst sich seit 1968 mit psychologischen und politischen Wegen zur Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Sie unterrichtet seit 1986 Entspannung, Meditation und Buddhismus im deutschsprachigen Raum und in Spanien. Ihr besonderes Interesse gilt der Reflexion von kulturellen Bedingungen und Geschlechterrollen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher. Sylvia Wetzel ist auch Ehrenrätin der Deutschen Buddhistischen Union, in deren Rat sie 15 Jahre aktiv mitgearbeitet hat, davon 9 Jahre im Vorstand. Sie ist Mitbegründerin und war zwölf Jahre Redakteurin der Zeitschrift „Lotusblätter“, die später in BUDDHISMUS aktuell umbenannt wurde.

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