Meditation in Schweigen und Stille
In seinem Beitrag für das neue Heft von „BUDDHISMUS aktuell“ mit dem Schwerpunktthema „Stille“ erläutert der Meditationslehrer Fred von Allmen den Sinn von Stille und Schweigen in Meditationskursen, ihre förderlichen Aspekte, aber auch ihre potenziellen Gefahren. Denn das Interesse an Achtsamkeit und Meditation steigt heute stark an – ebenso das Bedürfnis vieler Menschen nach Meditationskursen, die im Schweigen stattfinden.
„Meditations-Retreat im Schweigen“, eine Ankündigung, der gegenüber nur wenige keine innere Reaktion verspüren: Von entgeisterter Abwehr oder blasiertem Desinteresse über spirituelle Ambitionen bis zu draufgängerischem Entdeckergeist kann sie eine breite Skala von Gefühlen auslösen.
Nicht nur das Interesse an Achtsamkeit und Meditation verzeichnet heute eine geradezu exponentielle Steigerung, sondern auch das Bedürfnis vieler Menschen nach Meditationskursen, die im Schweigen stattfinden. Vielen ist längst klar, dass für eine vertiefte innere Arbeit Schweigen und Stille äußerst förderlich sind.
Wer an solchen Kursen oder Retreats teilnimmt, verpflichtet sich zum Schweigen, nicht nur verbaler Art, sondern auch zum Unterlassen aller anderen Arten sonst so selbstverständlicher, aber zerstreuender Kommunikationsweisen oder Sinnesberieselungen, wie das Schreiben von Notizen, das Führen von Tagebüchern, das Hören von Radio, das Gucken von TV, das Lesen von Zeitungen und Büchern, das Führen von Telefongesprächen oder das Kommunizieren über E-Mails, Facebook, Twitter, Snapchat oder andere Medien. Natürlich sind regelmäßige unterstützende Treffen mit den Lehrenden verbindlich und wenn nötig, kann man sich mit Problemen auch an das Kursmanagement wenden.
Ein sakraler Raum entsteht
Solche Retreats finden heute oft mit Dutzenden oder gar Hunderten von Teilnehmenden statt, wobei aber Ruhe und Vertiefung trotzdem möglich sind, dank eben dieses Schweigens. Dadurch wird nämlich eine außergewöhnliche Situation geschaffen, in der sich jede und jeder mit sich selber konfrontiert und gewissermaßen allein wiederfindet; eine Situation, herausfordernd schwierig und befreiend zugleich! Es ist, als würde man für sich allein in einer Höhle leben (nota bene einer Höhle ohne Feuchtigkeit und Ungeziefer, aber mit Heizung und Bad), hat aber dazu die Unterstützung der Lehrenden und der Gruppe der Mitmeditierenden, die einen starken energetischen und moralischen Rückhalt bilden: Alleinsein mit sich selber, kombiniert mit Getragensein durch die Gemeinschaft. Es entsteht eine Art ‚Sacred Space‘, ein ‚Sakraler Raum‘. Dieser kann vielerlei heilsame Wirkungen hervorbringen:
Zunächst fördert er das Zur-Ruhe-Kommen des alltäglichen Aufgewühltseins und Beschäftigtseins des Geistes. Wenn die spielenden Kinder den Waldsee verlassen und der Wind sich legt, verebben die Wellen, das Wasser beruhigt sich, Schlamm und Sand können sich setzen und der Waldsee wird still und klar. Himmel und Wolken werden auf der glatten Oberfläche gespiegelt und man kann durch das Wasser hindurch bis auf seinen Grund sehen. Meditation im Schweigen ermöglicht dasselbe für unseren Geist und unser Herz. Sie werden ruhig und wir können ihre ganze Tiefe ausloten. Der thailändische Meditationsmeister Ajahn Chah sagte: „Dein Geist wird still werden, wie ein klarer Waldteich. Alle Arten wunderbarer und seltener Tiere werden zum Teich kommen, um zu trinken, und du wirst die Natur allen Daseins klar erkennen. Du wirst viele eigenartige und wunderbare Dinge kommen und gehen sehen, doch du wirst still sein. Das ist die Glückseligkeit des Buddha.
„Die Leere
(Bruder David Steindl-Rast)
der Stille ist unerschöpflich reich;
alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.“
Schweigen erlaubt uns auch, die innere Bewegung des Geistes zu erkennen, weil er auf einmal nicht mehr seinen gewohnheitsmäßigen, oft automatischen Impulsen, Überdeckungsmanövern und Fluchttendenzen nachgeben kann. Unsere Bedürftigkeit nach Anerkennung, Zerstreuung und Unterhaltung wird überdeutlich spürbar. Aber wir können einmal auch ohne Floskeln und Small Talk auskommen und dürfen dasein, ohne dem Zwang zu oft mühsamen Selbstdarstellungen ausgeliefert zu sein. Schweigen ist ein großes Geschenk: an uns selber und an die anderen. Bruder David Steindl-Rast schrieb darüber: „Die Leere der Stille ist unerschöpflich reich; alle Worte dieser Welt sind nur ein Tropfen ihrer Fülle.“
Schweigende können sich auch einsam fühlen
Die meisten Retreat-Teilnehmenden finden, dass sie, nachdem sie sich innerlich mit dem Schweigen einverstanden erklärt haben, Zustände tieferer Ruhe und Klarheit erfahren. Das konsequente Schweigen kann jedoch auch Schwierigkeiten hervorrufen: Wir können uns abgeschnitten, getrennt und einsam fühlen. Manch einer assoziiert Schweigen mit alten traumatischen Kindheitserfahrungen, wenn zum Beispiel in der Familie nur geschwiegen wurde, wenn Konflikte und Feindseligkeit herrschten. Dadurch wird die Erfahrung eine des Getrenntseins und damit der Einsamkeit. Weil sich durch das Schweigen die Tendenzen der Projektion unserer Vorstellungen auf andere unbehindert entfalten können, wird ahnungslos die eigene Stimmung und innere Verfassung auf die anderen Teilnehmenden projiziert. Eine Person kommt zum Gespräch mit den Lehrenden und berichtet, die ganze Gruppe sei eine „Bande von Depressiven“, die nächste fühlt, dass sie von allen Teilnehmenden tiefe Zuneigung erhält, und die dritte wiederum erfährt die anderen als verklemmt. Eine wichtige Erfahrung ist die des Erkennens und schließlich des Zurücknehmens der Projektionen des eigenen Geistes.
Alleinsein und Schweigen erlauben uns, unsere persönliche Welt näher und intimer kennenzulernen. Sie lassen aber auch die eh schon diffuse Grenze zwischen sich und den andern, Innenund Außenwelt, noch unergründlicher erscheinen. Mit uns allein sein ermöglicht uns, durch Praxis und tiefes Erforschen des Herzens den zutiefst heilenden Zustand des All-EinSeins zu erfahren. Mit uns allein sein kann uns aber auch in die Abgründe der Einsamkeit unserer Seele stoßen. Wir können uns zutiefst verbunden fühlen mit dem Leben, den Menschen und der Natur oder völlig isoliert und ausgeschlossen, wie das so oft auch in den anonymen Gemeinschaften großer Städte oder in Menschenmengen geschieht. Immer aber bietet sich in Stille und Schweigen die Gelegenheit, ja, die Herausforderung, an den Wurzeln unseres Selbstverständnisses zu forschen und befreiende Erkenntnisse zu erlangen. So wie es in der Bhagavad Gita heißt:
„Lehre uns, dass gerade so,
wie das Wunder der Sterne im Himmel
sich nur bei Nacht offenbart,
sich auch das Wunder des Lebens
nur in der Stille des Herzens zeigt.“
Fred von Allmen
Fred von Allmen ist Meditations- und Dharmalehrer, Mitbegründer und Koleiter des Meditationszentrums Beatenberg in den Berner Alpen und Autor mehrerer Bücher.