Meditation als eine intelligente Beziehung zum eigenen Geist

Ein Interview mit Akincano Marc Weber geführt von Bettina Geitner veröffentlicht in der Ausgabe 2015/2 Meditation unter der Rubrik Im Gespräch.

Ein Gespräch mit dem Dharmalehrer und Therapeut Akincano M. Weber darüber, wie Meditation die Vertrautheit und Freundschaft mit dem eigenen Geist fördert und was unter Geistesschulung tatsächlich zu verstehen ist.

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Bettina Geitner: Welche Meditation lehrst du?

Akincano M. Weber: Ich praktiziere und unterrichte Satipaṭṭhāna, die Übung der Vierfachen Geistesgegenwart. Die großen Text überlieferungen dazu sind bekannt: Die Lehrreden zur Atmungsachtsamkeit (Ānāpānasati-Sutta), zur Körperachtsamkeit (Kāyagatāsati-Sutta) und zu den Vier Anwendungen der Geis tesgegenwart (mehrere Satipaṭṭhāna-Suttas) sind die berühmtesten; weitere Textsammlungen mit wichtigen Belehrungen zu diesem Thema sind weniger bekannt, aber mittlerweile leicht zugänglich.

BG: Wo kannn man da Vipassana verorten? Vipassana ist ein schillernder Begriff mit unterschiedlichen Auslegungen geworden. Wie definierst du Vipassana?

AMW: Lass mich mit den alten Darlegungen beginnen. Dort wird unter vipassanā vor allem das Resultat und nicht die Übung selbst verstanden; vipassanā ist die Frucht von meditativer Schulung, es ist nicht der Name der Übung. Die Idee, unter vipassanā die Übung selbst zu verstehen, scheint eine relativ junge Entwicklung der letzten 100 Jahre zu sein; sie lässt sich, vor allem von Burma ausgehend, auf eine Reihe von meist säkularen Erneuerungsbewegungen zurückführen. Gerafft verstehe ich unter vipassanā die anschauliche (nicht etwa nur begrifflich „etikettierende“) Vergegenwärtigung der Drei Daseinsmerkmale in jedem Ereignis meines Erlebens – die fortlaufende und bewusste Erfahrung, dass jedes Phänomen meines Daseins unbeständig, abhängig und unpersönlich ist.

Viele Übende heute verstehen jedoch unter Vipassana eine bestimmte Methode von Meditation, von diversen Schulen vertreten, wie sie hier im Westen unter dem Namen „Einsichtsmeditation“ bekannt ist. Die Lehrreden des Pali und die ganze frühbuddhistische Tradition beschreiben Vipassana jedoch als das Resultat einer Übung namens bhāvanā, (wörtlich „Geistesentfaltung, Entwicklung“) – was wir uns angewöhnt haben, etwas hemdsärmelig „Meditation“ zu nennen. (Niemand scheint genau zu wissen, wie es dazu kam, dass die christliche meditatio – „reflektierendes Nachdenken“ – plötzlich zum Allerweltsbegriff für buddhistische Geistesschulung mutierte.) Die alten Darlegungen machen klar, dass für dieses Schulungsprogramm Achtsamkeitstraining, Sammlung, Ethik, kontemplative Erforschung und die Ausbildung von universeller Empathie unverzichtbar sind – Freundlichkeit, Mitgefühl, Freude, Gelassenheit. All diese Aspekte von Geistesschulung (bhāvanā) haben als Frucht eine verkörperte und befreiende Einsicht (vipassanā) in die Daseinsmerkmale.

So wünschenswert Popularisierung ist: Begriffe wie Yoga, Achtsamkeit oder eben Vipassana werden durch sie aus ihren Kontexten herausgehoben und verlieren ihre Schärfe und Bedeutungskontur. Es ist irreführend, Vipassana als bloße Technik oder Methode zu behandeln und zu glauben, dass wir uns die erwähnten übrigen Aspekte von Geistesschulung sparen könnten. Geht man der Sache ernstlich nach, lohnt es sich zu unterscheiden: Was sagen die ältesten Texte, wie werden diese von Kommentaren interpretiert, welche historischen Richtungen haben sich in mehr als zweitausend Jahren entwickelt und was davon wird heute tatsächlich gelehrt?

BG: Was bedeutet es dann konkret, Vipassana zu praktizieren?

AMW: Im Sinne des eben Gesagten scheint es klüger, die Übung als mehr als nur „Vipassana“ zu verstehen. Konkret: Du setzt dich hin und findest heraus, was in deinem Geist passiert und was du schon tust – erkennbare Absichten, wo deine Aufmerksamkeit hingeht oder hängenbleibt, wie sich der innere Ort anfühlt, von dem aus du meditierst. Dir deiner geistigen Gewohnheiten nicht klarzuwerden bedeutet schlicht, dass du ihnen auf die eine oder andere Weise folgen wirst. Nun ist ein tauglicher Anker für dein Aufmerksamkeitstraining erforderlich; die klassischen Beispiele sind Atem- und Körperempfindungen. Als dein Meditationslehrer würde ich versuchen, dir aufzuzeigen, wie du deine Aufmerksamkeit wieder einfängst, wenn sie wegläuft, wie du identifizierst, was sie steuert, wie du dich sammeln kannst; vor allem aber dir helfen, dir selbst deine eigene Freundin zu bleiben, wenn es nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hat. Wirkliche Praxis beginnt dort, wo es nicht läuft wie geplant.

Bevor es weitergeht, würden wir sehen, wie viel du von deiner körperlichen Haltung, von deiner energetischen Verfassung und deiner Atmung mitbekommst, und wie sehr es dir gelingt, deine Aufmerksamkeit zu verfeinern und sie kontinuierlich werden zu lassen. Nach einer Weile wirst du ruhiger und erfährst aufschlussreiche Einsichten, was in deinem Inneren vorgeht, wie du dich selbst und andere erlebst. Diese Einsichten sind psychologisch und streng genommen noch nicht, was die alten Texte als vipassanā bezeichnen, aber du verstehst mehr und mehr, was in dir passiert und wie du durch deine innere Haltung, durch Akzentverschiebung, geduldige Stärkung und Sensibilisierung deiner Aufmerksamkeit und durch Nichtreaktion auf Impulse deinen Geist beruhigen, klären und stillen lernst. Das geschieht mithilfe des ganzen Satipaṭṭhāna-Programms, wo du all dies in vier großen Bereichen übst – jenem des körperlichen Erlebens, jenem deiner lust- und unlustbetonten Reaktion auf körperliche und geistige Vorgänge, jenem der affektiven Verfassung und letztlich jenem deiner Geistesinhalte und der Muster, in welchen diese ablaufen.

Wichtiger als dich auf eine bestimmte Methode oder Technik einzuschwören wäre mir, dass du Meditation als eine Beziehung verstehst – eine Beziehung zu deinem eigenen Geist und Erleben. Durch meditative Übung gestalten wir die Beziehung zu uns selbst. Wie in anderen Beziehungen auch, ist in der Beziehung zur eigenen Geistesverfassung nicht immer dasselbe angesagt oder nützlich. Der Geist gleicht in vielem einem Kind – gelegentlich ist es heilsam, dass wir besonders klar sind, Impulse geben und unverstellt zeigen, was wir spüren, zu anderen Zeiten, dass wir uns unserer Urteile enthalten und geduldig bleiben können, dass wir streng, sanft und einfühlsam oder strukturiert sind, neugierig, frech, verspielt oder fordernd. Wie gegenüber anderen Menschen auch, ge lingt die Tiefe in unserer Beziehung zum eigenen Geist durch die Mischung aus Sensibilität, Vertrauen, Respekt, wirkungsvollem Modulieren und Empathie.

© Christoph Mann
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BG: Gerade bei schmerzhaften Gefühlen ist es bekanntermaßen oft schwierig, bei der Meditation, die man sich vorgenommen hat, zu bleiben. Wie sollte man in der Meditation mit unangenehmen Gefühlswahrnehmungen umgehen?

AMW: Ich rate dir, eine realistische Beziehung zu deinem Schmerz aufzubauen. Manchmal können wir Dinge nicht ändern. Wir können jedoch immer wählen, in welche Art Beziehung wir treten. Geistesgegenwart (sati) ändert die Erfahrung von Leid auf verschiedenen Ebenen. Die einfachste Veränderung ist jene des Objektes im Blickfeld des eigenen Erlebens. Das heißt, ich wähle, wohin meine Aufmerksamkeit geht – statt auf den Schmerz richte ich sie vielleicht auf etwas Angenehmes. Mit etwas Training klappt das durchaus, vor allem wenn die Schmerzen nicht all unsere Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen. Wenn das nicht mehr geht, kann ich meine Beziehung zum Schmerz verändern. Statt mich meiner schmerzlichen Erfahrung mit Aversion zuzuwenden, kann ich lernen, mir den Schmerz nicht länger zu verübeln oder ihn nicht länger zu bekämpfen. Wenn ich beginne, ihm statt der gewohnt verärgerten nun eine bewusst begütigende Aufmerksamkeit zu gewähren – verwandelt diese Haltung erstaunlicherweise auch meinen Schmerz selbst. Lässt sich der Schmerz auch auf diese Weise nicht ändern oder länger ertragen, wird ein tieferes Loslassen mir in einem weiteren Schritt erlauben, die eigene Ohnmacht zu akzeptieren – und damit den Ort zu ändern, aus dem heraus ich erlebe. In radikaler Weise die Bedingtheit des eigenen Ich-Konstruktes zu akzeptieren ermöglicht eine Verwandlung und ein Über-sich-Hinauswachsen. Ich höre auf, die Dinge meines Erlebens ändern zu wollen, wo ich doch nichts außer mir selbst ändern kann. Hier hilft es, sein Herz zu bitten, Zuflucht zu nehmen, sich in den Schoß des Buddha zu überantworten und in der Tiefe meines Vertrauens die Kraft zum Annehmen zu finden.

So lange wir können, gestalten wir die Inhalte unseres Erlebens. Werden wir dessen müde oder können nicht anders, beginnen wir, gewohnte Verhaltensmuster zu ändern. Kommen wir schließlich an den Punkt – ob aus Einsicht oder aus Verzweiflung –, wo wir unsere Selbstbilder und Identifikationen loslassen, wird es möglich, über die Engen und Selbstbeschränkungen hinauszuwachsen. Nicht dass dies besonders leicht geschieht – es ist schwieriger, als es sich hier anhört.

BG: Ich habe das Gefühl, wenn ich etwas verstanden habe, dann ist es immer mit meinem Herzen. Niemals denkend oder beobachtend. Das Herz versteht es.

AMW: Du hast völlig Recht. Vipassana ausschließlich als Übungsmethode und nicht als Verwirklichungserfahrung zu sehen birgt Gefahren. Diese Übungsmethode obendrein auf „reines Beobachten“ zu beschränken, ist eine weitere unglückliche Verengung. (Nyanaponika Thera, der den Begriff, eingebettet in ein viel breiteres Verständnis von Meditation, in einem seiner klassischen Werke geprägt hat, hat dies gegen Ende seines Lebens bedauert.) Der beobachtende Geist ist immer ein distanzierender Geist. Meditation als Beobachtung des Erlebten distanziert sich zugleich von diesem Erleben. Für einige Verfassungen mag dies ganz nützlich sein – etwa Ärger oder Angst. Viele Aspekte unseres Erlebens vermag aber Beobachtung allein weder zu verwandeln noch tiefer zu verstehen – oft ist solches „Beobachten“ nicht nur unwirksam, sondern geradezu abträglich.

Unglücklicherweise ermutigen etwa systematische Beobachtungsübungen auch dissoziative Neigungen in Menschen, die aus ihrer psychologischen Biografie heraus bereits einen distanzierenden Gestus pflegen. Meditation, verstanden als eine intelligente Beziehung zum eigenen Geist und inneren Leben, erfordert viel mehr als nur Beobachten, genauso wie einem schreienden Kleinkind durch Beobachten alleine nicht geholfen ist.

BG: Setzt Vipassana einen ruhigen Geist voraus?

AMW: Erkenntnis erfordert Klarheit; erst ein stiller und gesammelter Geist versteht tiefer, daher sind Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung, zu stabilem Gewahrsein und zur Geis – tessammlung unverzichtbar. Wichtig sind nicht athletische Bewusstseinszustände, wichtig ist, alltagstaugliche Fertigkeiten zu finden, die den Geist beruhigen, ihn sammeln und läutern – egal in welcher Verfassung wir ihn antreffen. Auch hier ist die Idee, ich könnte mich hinsetzen und Vipassana „machen“ irreführend. Pragmatische Praxis braucht immer eine Komponente von Sammlung. Ich rate Meditierenden, wenigstens die Hälfte ihrer zur Verfügung stehenden Zeit mit samatha-Praxis zuzubringen.

Viele Menschen finden zu Meditation über die schmerzliche Erfahrung, dass ihr Geist nicht ihr Freund ist. Menschen suchen Hilfe, weil sie merken, dass ein ungeschulter Geist einem das Leben schwer machen kann. Neurowissenschaftler beteuern, was wir alle wissen: dass Aufmerksamkeit natürlicherweise schweift, dass dies sogar in bestimmtem Maße nötig ist. Aber sie erzählen uns auch, was wir aus der Anschauung genauso wissen: dass uns solches Herumschweifen kein bisschen zufrieden und heiterer macht: Der wandernde Geist ist ein unglücklicher Geist. Daher ist es sinnvoll, den Geist zu schulen, seiner Aufmerksamkeit Aufgaben zu geben, diese bündeln und lenken zu lernen – im Sinne dessen, was in der Psychologie „willkürliche“ Aufmerksamkeit genannt wird – statt unwillkürlich nur dem nachzulaufen, was in unserem Sinnes-system gerade am lautesten anklingt.

BG: Vipassana wird als klares Sehen der Daseinsmerkmale bezeichnet und andererseits als Durch-den-Körper-Spüren oder „Bodyscan“. Wie kann klares Sehen stattfinden, wenn ich mich durch den Körper spüre?

AMW: Der vermeintliche Widerspruch fällt weg, wenn wir von der verengenden Vorstellung von Vipassana als bloß Sehen und Beobachten ablassen. Der Bodyscan – das Durchkämmen von Körperempfindungen – ist eine von sechs spezifischen Körperachtsamkeitsübungen aus den Satipaṭṭhāna-Darlegungen. Wie könnten wir etwas klar erkennen ohne den Körper? Alles, was du weißt, weißt du über deinen Körper. Dein Gehirn und deine Sinne sind Teil dieses Körpers; dein Bewusstsein ist ganz buchstäblich verkörpert. In der Psychologie der Lehrreden findest du die Aussage, dass die kleinste Einheit von Erleben immer drei Dimensionen umfasst: Eine geistige (nāma), eine körperliche (rūpa) und eine des Bewusstseins (viññāṇa ). Diese Erkenntnis hat buddhistischem Denken den Fluch einer Subjekt-Objekt-Spaltung erspart, von welchem sich die abendländische Philosophie noch heute nicht wirklich erholt hat.

BG: Kann sich durch Meditation nicht auch eine innere Gleichgültigkeit gegenüber dem Außen entwickeln? Was schützt davor, und woher wissen wir, wann es angemessener ist, zu handeln, als nicht zu handeln?

AMW: Wenn du merkst, dass du gleichgültig wirst, dann ist das nicht ein Zuviel an Gleichmut, sondern du bist dem nahen Feind des Gleichmuts aufgesessen, der Indifferenz. Sie ist ein meditatives Hindernis und taucht auf, wenn wir den Beziehungsaspekt in unserer Praxis vernachlässigen. Einen Ausgleich dazu findest du, wenn du neben der Stillung des Herzens auch deine Beziehungsfähigkeit pflegst. Die Vier Unermesslichen Herzensverfassungen (brahmavihāra) sind nicht bloß Meditationsobjekte, sondern auch vier Paradigmen gelebter Empathie mit konkreten Menschen.

Meditation lernt sich schlecht alleine oder ausschließlich aus Büchern. Eine Beziehung zu Menschen, die auf diesem Weg mehr Erfahrung haben, ist unverzichtbar. Wie Sprache und Empathie ist auch Achtsamkeit nicht etwas, was wir alleine zustande bringen. Wir lernen diese Fähigkeiten, weil jemand zu uns spricht, sich empathisch zu uns verhält, uns Achtsamkeit vorlebt; dann ist es erforderlich, dass wir Hilfestellung bekommen, wenn wir diese Qualitäten zu üben beginnen – beim Sprechen, in einer empathischen Beziehung oder eben bei der Achtsamkeit. Schließlich brauchen wir andere bei der Ausübung dieser Fähigkeiten; das hilft uns, diese Fähigkeiten zu verfeinern und zu stärken. Mit Meditation ist es genauso: Du brauchst Vorbilder, Lehrer, eine Sangha – Leute, die dir zu spüren geben, dass es möglich ist, achtsam und gegenwärtig zu sein; die dir die nötigen Hilfestellungen angedeihen lassen, die zusammen mit dir auf Augenhöhe üben.

BG: Meditation ist mittlerweile erfolgreich auch ohne den buddhistischen Kontext wie z. B. in der MBSR (Stressbewältigung durch Achtsamkeit)? Wie beurteilst du diese Entwicklung?

AMW: Sie scheint mir begrüßenswert. Was immer Leute dazu bewegt, sich mit Achtsamkeit ihrem eigenen Geist zuzuwenden, ist ein Gewinn für alle Beteiligten. Menschen, die sich bewusst sind, was in ihrem Geist vorgeht, erhöhen das Niveau an Bewusstheit und ermöglichen dies für andere: bei ihrer Arbeit, in ihren Beziehungen, in Organisationen, deren Teil sie sind. Zum anderen glaube ich aber nicht an den Erfolg einer dekontextualisierten Meditationspraxis. Buddhistische Psychologie erwächst direkt aus kontemplativer Erfahrung, und es ist sinnvoll, jenseits bloßer Achtsamkeitstrainings etwas vom eigenen Geist zu verstehen. Es ist mir ein Anliegen, dass Ausbildende von achtsamkeitsbasierten Verfahren mehr über die Prozesse des Geistes verstehen und auf Erkenntnisse aus dem Schatz der kontemplativen Traditionen zurückgreifen können. Erfreulicherweise stoßen eine Reihe von buddhistischen Meditationslehrern bei der Achtsamkeitsbewegung auf reges Interesse.

BG: Neben der Meditation, was kann der Buddhismus dem Westen sonst noch geben?

AMW: Ich denke „der Buddhismus“ und „der Westen“ sind unhandliche und letztlich wenig wirklichkeitstaugliche Konzepte. Die Lehre des Buddha bietet Klärung bei einer Reihe von Fragen, mit denen sich der Westen besonders schwertut. Die abendländische Psychologie hat erstaunliche Erkenntnisse zusammengetragen, aber andernorts auch herzlich wenig zu sagen – bislang warten wir noch auf eine einheitliche Feldtheorie von Glück, eine Erklärung, wie Mitgefühl zustande kommt und in Menschen gestärkt werden kann, was Heilung tatsächlich befördert, wo genau nachhaltige Zufriedenheit wächst, usw. Unsere Gesundheitssysteme wissen nichts über Gesundheit zu sagen, sind vornehmlich Geldverteilungssysteme für die therapeutische Behandlung von erkennbaren Störungsbildern und scheinen davon auszugehen, dass Gesundheit das ist, was nach dem Wegfallen von Krankheitssymptomen übrig bleibt.

Die Lehre des Buddha und ihre Psychologie vermitteln ein pragmatisches und wachstumsverheißendes Menschenverständnis; die Basis davon ist Ethik und meditative Selbsterkenntnis. Der Westen hat eben erst an der Oberfläche dieser Darlegungen aus buddhistischer Weisheit geschürft. Die Begegnung ist zustande gekommen, der Dialog dabei, sich zu vertiefen. Es wird länger dauern, als wir uns das alle gewünscht und gedacht haben. Zum Trost: Die letzte große Hochkultur, die sich Buddhismus in allen Bereichen angeeignet hat, war die chinesische vor 2000 Jahren – dort dauerte der geistesgeschichtliche Transfer etwa 200 Jahre. Ich gehe davon aus, dass ich seinen Abschluss nicht mehr erleben werde – und bin dankbar, in einer faszinierenden Zeit zu leben!

BG: In einem Essay zum Thema „säkularer Buddhismus“ sprichst du von deiner Präferenz für einen religiösen säkularen Buddhismus. Was verstehst du darunter?

AMW: Die Begriffe „Religion“ und „säkular“ sind vielschichtig – und, je nachdem, wen du fragst, sehr unterschiedlich aufgeladen. Vereinfacht: Ich meine damit zum einen, dass wir Religion nicht einfach den Traditionalisten, Fundamentalisten und Orthodoxen überlassen sollen. Nach meinem Verständnis ist das Religiöse eine Dimension des Wirklichen – nicht einfach Institution und Bodenpersonal vom liebem Gott oder Maitreya Buddha. Wenn wir uns im säkularen Getümmel aus therapeutischen, pädagogischen und klinischen Anwendungen buddhistischer Methoden aus dem Feld der Religion zurückziehen, bedeutet das nicht etwa das Verschwinden dieser Dimension des Religiösen, sondern nur, dass die Deutungshoheit für diese Dimension unseres Erlebens künftig in die Hände selbst ernannter Traditionalisten und Orthodoxen fällt.

Zum anderen: Wir leben in einem zutiefst säkularen Zeitalter. Die bestimmenden gesellschaftlichen Diskurse unserer Zeit und das Ringen um menschliche Werte werden in weltlichen Begriffen geführt: Wissenschaft, Psychologie, unsere Ökonomien und Rechtsapparate sprechen in säkularen Begriffen – ganz zu schweigen von Kunst und Kultur. Wenn, wie ich es mir wünsche, die Weisheitstraditionen buddhistischer Überlieferung in dieser Zeit erhellend wirken sollen, dann müssen sie den Dialog mit dieser Zeit aufnehmen, dürfen den säkularen Diskurs nicht spitzfindig zurückweisen und sich mit der Bewahrung ihrer Übertragungslinien und ihrer Terminologien bescheiden. Faszinierend findet Bewahrung gerade dadurch statt, dass man das zu Bewahrende in relevanter Weise dort einbringt, wo man ist. Genau das haben buddhistische Traditionen zu allen Zeiten getan, haben sich eingemischt, wo sie hingekommen sind, und haben dort tiefe Wirkungen hinterlassen – unsere unmittelbaren buddhistischen Überlieferungstraditionen kommen alle aus China, Tibet, den Ländern Süd- und Südostasiens, Korea, Japan – und längst nicht mehr aus Indien, wo alles einmal begonnen hat. Die Länder, die den buddhistischen Traditionen des Westens als Ursprungsorte gelten, sind bereits Zeugnisse gelungener Adaptation buddhistischer Überlieferung. Erfreulicherweise ist dieser Prozess im Westen in einer enthusiastischen Phase.

Akincano Marc Weber

Akincano Marc Weber, Dharmalehrer und Therapeut, unterrichtet international Meditation und Buddhistische Psychologie und führt eine Praxis für therapeutische Prozessbegleitung. Er fühlt sich der Tradition des frühen Buddhismus verbunden, war lange Jahre Mönch in der Waldtradition (Asien und Europa) und ist Mitbegründer des Bodhi-Institute. Er lebt mit seiner Frau in Köln.

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