Lobpreis des Alterns

Ein Beitrag von Jetsunma Tenzin Palmo veröffentlicht in der Ausgabe 2019/3 jung & alt unter der Rubrik jung & alt. (Leseprobe)

Verfall ist das Wesen aller bedingten Dinge und der natürliche Lauf des Lebens weist in Richtung Verfall und Tod. Das sind gute Umstände, betont Jetsunma Tenzin Palmo, um den späten Lebensjahren einen besonderen Glanz und Wert zu verleihen.

Der Buddha beschrieb Geburt, Krankheit, Alter und Tod als dukkha oder Leiden. Wenn wir nicht jung sterben, erleben wir das Alter. Deshalb betrifft dieses Thema die allermeisten Menschen. Doch unsere Gesellschaft gibt sich einem Jugendkult hin und verleugnet den natürlichen Lauf des Lebens in Richtung Verfall und Tod. Die meisten Menschen hoffen, für immer jung und schön zu sein; tatsächlich wird „Schönheit“ sogar meist mit „Jugendlichkeit“ gleichgesetzt. Zahllose Bücher und Artikel geben Ratschläge, wie man das Alter am besten von sich fernhalten und für immer jung bleiben kann. Doch ganz gleich, wie oft wir uns das Gesicht liften lassen und wie vielen Bewegungs- und Diätprogrammen wir uns unterwerfen: Irgendwann werden unsere körperlichen Kräfte schwinden und wir werden wahrscheinlich mit Krankheiten umgehen müssen.

Verfall ist das Wesen aller bedingten Dinge. Wenn wir älter werden, sehen wir, wie Menschen in unserem Umfeld – Freundinnen, Freunde, Familienmitglieder – krank werden und sterben. Das zwingt uns, diese Zustände als natürlich und unvermeidlich zu erkennen. Der Buddhismus stellt sich den schwierigen Tatsachen von Leben und Tod – ja, er nutzt sie sogar als Weg und als Werkzeug, um Geburt und Tod zu überwinden.

Sich im Alter neu fokussieren

In traditionelleren Gesellschaften wird das Älterwerden als natürlich angesehen. Man versucht nicht, es so lange wie möglich zu vermeiden oder zu leugnen. Stattdessen erkennt man an, dass ein Mensch am Ende eines langen Lebens auch ein Mehr an Wissen und Verständnis erworben hat. Alter – das hat mit Weisheit und Erfahrung zu tun. Darum bringt man älteren Familienmitgliedern Respekt entgegen, gesteht ihnen weiterhin eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu und sieht sie oft sogar als Führer und Ratgeber an.

Auch der Westen kennt den Archetypus der weisen alten Frau und der Hexe, und die meisten Zauberer in den Märchen sind ältere Menschen. Tatsächlich zeigen faltige alte Gesichter mit leuchtenden Augen voller Liebe und Intelligenz oft wahre Schönheit. Doch obgleich Menschen über fünfzig heute die Mehrheit in unserer modernen Gesellschaft ausmachen, werden ältere Menschen immer stärker an den Rand gedrängt, von der Welt isoliert und ignoriert. Wen wollte es also wundern, wenn viele von ihnen das Gefühl haben, ihre nützlichen Tage seien vorbei und sie könnten keinen Beitrag mehr zur Gesellschaft leisten Wen wollte es wundern, dass Menschen das Alter fürchten und es so lange wie möglich von sich wegschieben möchten.

Die Frage ist also: Wie gehen wir mit unserem unvermeidlichen Altern in einer Weise um, die für unser Leben sinnvoll ist? In traditionellen buddhistischen Ländern ist es üblich, die Aufmerksamkeit in dieser Lebensphase stärker auf den Dharma zu lenken und das eigene Leben nun so zu gestalten, dass es auf den Tod und auf zukünftige Wiedergeburten gut vorbereitet ist. In traditionellen buddhistischen Gesellschaften legen viele ältere Menschen die Acht Gelübde ab und verbringen ihre Zeit in der Meditation oder mit anderen verdienstvollen Aktivitäten. Sie umschreiten heilige Gegenstände, machen Tempelbesuche und Niederwerfungen oder pflegen den religiösen Gesang. Der Dharma wird zum Mittelpunkt ihres Lebens – sie geben sich ihm ganz hin. Auf diese Weise bleibt ihr Leben sinnvoll und bedeutsam, auch wenn sich der Fokus verschoben hat.

Gerade Frauen sind in jüngeren Jahren oft damit beschäftigt, die Rollen zu erfüllen, die die Gesellschaft für sie bestimmt hat. Als Objekte des Begehrens streben sie danach, so attraktiv und verlockend wie möglich zu sein, um männliche Fantasien zu erfüllen. Als Ehefrauen und Mütter widmen sie sich der Pflege ihrer Häuser und Familien. Die meisten Frauen gehen heute beruflich auch Vollzeittätigkeiten nach, in denen sie hart arbeiten müssen, um voranzukommen. Trotz aller modernen Vorteile führen Frauen heute doch ein sehr stressbelastetes Leben, um den Erwartungen anderer gerecht zu werden.

Inzwischen können wir jedoch auch in der modernen Welt ein interessantes Phänomen beobachten: Viele ältere Menschen, besonders Frauen, die ihre Lebensaufgaben als Ehefrauen, Mütter und im Beruf erfüllt haben, richten ihre Aufmerksamkeit stärker nach innen. Sie wenden sich der Kunst zu, alternativen Heilberufen, der Psychologie oder dem Studium und der Praxis spiritueller Wege. Diese Frauen sind oft hochgebildet und sehr motiviert, deshalb können sie auch im Alter noch neue Fähigkeiten erwerben und in ihrer Umgebung viel Positives bewirken. Anstatt ihre Seniorenzeit mit Golfspielen oder Fernsehen zu verbringen, öffnen sie sich ihrer inneren, spirituellen Welt. Beispielhaft möchte ich eine Gruppe älterer Frauen nennen, die ich vor einiger Zeit in einer wohlhabenden Kleinstadt in Florida kennenlernte. Sie hatten angefangen, sich einer sehr aufrichtigen spirituellen Praxis zu widmen und sich außerdem sozial zu engagieren. Dabei wirkten sie nicht nur in ihre unmittelbare Nachbarschaft hinein, sondern weiteten ihren Radius sogar auf andere Kulturen und Länder aus – und sie fühlten sich glücklich und erfüllt, ihre Zeit zum Wohl anderer und zu ihrem eigenen Wohl einzusetzen.

„Hätte ich doch nur den Mut gehabt …“

Es gibt etwas, das Sterbende sehr bedauern: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mir im Leben selbst treu zu bleiben, anstatt das Leben zu führen, das andere von mir erwartetet haben.“ Viele Menschen, die ich kenne, sind sich allerdings treu geblieben. Im letzten Abschnitt ihres Lebens konnten sie dann spüren, dass sie diese Zeit im Vergleich zu den Jahren davor als noch erfüllender und sinnvoller empfanden. Denn im Alter können Menschen ihre wahren Interessen entdecken, anstatt sich ausschließlich an gesellschaftliche Erwartungen anzupassen. Sicherlich sind die früheren Lebenserfahrungen nötig für das, was sich später entwickelt – so wie ein Baum seine wahren Eigenschaften entfaltet, indem er ganz allmählich und mit der Zeit wächst. Dennoch können ältere Menschen deutlich das Gefühl haben, endlich den wahren Grund ihres Lebens gefunden haben. Wir haben die Wahl: Entweder wir sehen das Alter als eine Zeit an, in der unsere Träume allmählich verblassen – oder wir sehen darin den Beginn einer neuen und aufregenden Ära.

Als buddhistische Frauen haben wir die wichtige Aufgabe, einen alternativen Lebensentwurf vorzuleben, der den Weg zu mehr Freiheit und einem sinnvolleren Leben weisen kann. Wir haben nun mehr Zeit für uns selbst und können sinnvoll und engagiert leben, spirituelle Pfade erforschen und soziales Engagement praktizieren. Das Alter ist eine großartige Gelegenheit, all die Fähigkeiten, die wir im Laufe unseres Lebens erworben haben, heilsam für uns und andere einzusetzen. Wir werden zu einem neuen Leben wiedergeboren, ohne das alte wegwerfen zu müssen! Auch wenn unsere alten Knie zu sehr schmerzen, um noch im Schneidersitz zu sitzen, auch wenn gesundheitliche Probleme uns körperlich bremsen – unser Geist kann immer noch hell und klar sein und unsere Meditation kann sich vertiefen und reifen. „Wie kann ich jetzt, wo meine weltlichen Verantwortungen erfüllt sind, dieses Leben am praktischsten nutzen, um mir und anderen zu helfen? Was muss ich tun, um weitere Fortschritte auf dem Dharmapfad zu erzielen?“ Das sind die Fragen, die wir uns als ältere Buddhistinnen und Buddhisten stellen können. Das muss nicht bedeuten, dass wir nur noch an langen Retreats teilnehmen oder ganz und gar in die buddhistische Gemeinschaftsarbeit eintauchen. Es gibt viele Möglichkeiten, uns zu entwickeln und unseren Geist zu zähmen. Wenn wir älter werden, haben sich die emotionalen Tumulte und großen gefühlsmäßigen Umwälzungen üblicherweise gelegt. Wir haben ein grundlegendes Verständnis unseres Lebens und unserer Person entwickelt, und hoffentlich hat sich auch unsere formale Praxis im Laufe der Jahre vertieft. Jetzt haben wir Zeit und Raum, die Bodhi-Bäumchen unserer Praxis bis zur Verwirklichung zu nähren und den Bodhi-Baum der Erkenntnis zu ermutigen, sein volles Potenzial zu entfalten.

Für viele alternde Buddhistinnen und Buddhisten stellt sich auch die Frage, wo sie leben sollen, wenn sie schwächer werden. Da Familien heute immer kleiner werden und eine Betreuung zu Hause oft nicht mehr gewährleisten können, müssen viele ältere Menschen – vor allem im Westen, aber zunehmend auch in asiatischen Ländern – damit rechnen, ihre späteren Lebensjahre in einem Pflegeheim zu verbringen. Es kann ein düsterer Ausblick sein, dass man am Ende umgeben ist von Menschen und Pflegepersonal ohne Interesse an spirituellen Themen. Deshalb ist es an der Zeit, über Seniorenheime für ältere Buddhistinnen und Buddhisten zu sprechen – gemeinschaftliche Einrichtungen, die nicht auf eine bestimmte Tradition beschränkt sind. Das Hauptproblem ist wahrscheinlich die Finanzierung, doch solche Seniorenheime wären wichtig, und es wäre lohnend, mehr in diese Richtung zu denken und zu planen.

ENDE DER LESEPROBE

Dies ist eine Leseprobe. Möchten Sie mehr lesen?
Hier können Sie BUDDHISMUS aktuell als Magazin bestellen: www.janando.de

Jetsunma Tenzin Palmo

wurde 1943 in London geboren und mit 21 Jahren in Indien zur tibetisch-buddhistischen Nonne ordiniert. Bekannt wurde sie durch ihr 12-jähriges Retreat in den Höhen des Himalayas. Sie ist heute eine gefragte Lehrerin, die auf leicht verständliche Weise die Lehre Buddhas zu vermitteln vermag.

Alle Beiträge Jetsunma Tenzin Palmo