Liebe, Zen und hohe Berge
Viele westliche Praktizierende wollen zwar ernsthaft üben, aber sind nicht bereit, die Gelübde des Zölibats anzunehmen. Wie wollen wir als wachsende westliche Sangha damit umgehen, dass die sexuelle Anziehung, zumal in den meist gemischtgeschlechtlichen Orten der Praxis, eine große Rolle spielt? In seinem sehr persönlichen Beitrag möchte David Sumerauer darauf keine Antworten geben, aber zur Enttabuisierung beitragen.
Am Abend vor dem Rohatsu-Sesshin Anfang Dezember liegen Caroline und ich eng umschlungen auf ihrem Bett und stellen gemeinsam unsere „Regeln“ für die kommende Woche auf:
Wir werden nicht miteinander reden, keine kleinen Liebesbriefe vor die Tür des anderen legen und – natürlich – nicht miteinander schlafen. Vielleicht, aber das werden wir nach ein paar Tagen sehen, können wir ja ein-, zweimal schweigend miteinander kuscheln. Wahrscheinlich aber nicht! Ich bin zwar hochgewillt, weiterhin (oder besser: wieder) ein disziplinierter Zen-Mönch zu sein, will auch die Ruhe des Sesshin nutzen, um diese letzten so intensiven Wochen sacken zu lassen, bevor es wieder zurück in die „echte Welt“ geht – dennoch: Die Vorstellung, sieben Tage lang nicht mit Caroline zu sprechen, fühlt sich beängstigend an.
Was für ein Lachen
Um es gleich vorweg zu sagen: Caroline und ich werden während des Rohatsu sämtliche unserer selbst auferlegten Regeln brechen. Das wird das Sesshin für uns beide, so meine ich, nicht weniger schön und auch nicht weniger befreiend machen.
Schon am ersten Tag der 90-tägigen Praxisperiode ist sie mir aufgefallen. Ein paar Blicke und ein kurzes Gespräch über anarchistische Utopien, kalifornische Pflanzen und ein wenig über unsere jeweiligen Geschichten haben ausgereicht und mir war klar, wer mein „Dharma-Crush“ in den nächsten Monaten sein würde.
Es ist meine erste Praxisperiode – und auch Carolines, die allerdings die letzten drei Jahre im Green Dragon Temple in der Bay-Area gelebt hat, der wie Tassajara zum San Francisco Zen Center gehört. Davor hatte sie als Sozialarbeiterin für die Young Woman Christian Association in Oberlin, Ohio, gearbeitet, vor allem mit jungen benachteiligten schwarzen Frauen. Was für Augen! Was für ein Lachen! Und was für eine schöne, aufrichtige Sorge um unsere kostbare Welt. Alles in allem, was für ein Mensch, was für eine Frau …
Tassajara, das 1967 von einer Gruppe US-amerikanischer Drop-outs um den japanischen Zen-Priester Shunryu Suzuki gegründet wurde, ist nicht nur das älteste buddhistische Kloster außerhalb Asiens, sondern auch das erste, in dem Männer, Frauen und Andere gemeinsam leben und praktizieren. Als ich 2017 das zweite Mal länger in Tassajara war und neben dem Mönchsleben als Ethnologe zu Fragen der klösterlichen „Identitätspolitik“ forschte, meinte eine Gesprächspartnerin immer wieder zu mir, dass es doch viel interessanter wäre, das Entstehen romantischer Beziehungen an diesem Ort zu untersuchen, wobei, wie ich gehört habe, Sexualität auch in den eingeschlechtlichen traditionellen Klöstern Asiens eine große Rolle spielt. Noch einmal stärker allerdings in westlichen Retreat-Zentren, in denen Menschen aller Geschlechter miteinander üben.
Strenge Regeln im Zen-Kloster
Um zu verhindern, dass Menschen, die schon länger in Tassajara wohnen, die daraus entstehende Hierarchie gegenüber Neuangekommenen ausnutzen, gibt es in Bezug auf Liebe und Sex eine Reihe von Vorschriften, allen voran die berühmte „Six-Months-Rule“, die inzwischen von vielen US-amerikanischen Sanghas benutzt wird. Der Hintergrund ist, dass sich verschiedenste „Skandale“ – das Wort ist zwar gebräuchlich, banalisiert aber die Erfahrung sexueller Ausbeutung – meist darum drehen, dass männliche Lehrer mit Schülerinnen und Schülern schlafen und immer wieder das Vertrauen westlicher Praktizierender in die Gründer und Oberhäupter der verschiedenen Gruppen erschüttern.
Die Six-Months-Rule besagt, dass Menschen, die noch keine sechs Monate in Tassajara gelebt haben, keine neuen sexuellen Beziehungen beginnen dürfen. Wichtiger noch ist, dass auch diejenigen, die schon länger dort leben, in die Pflicht genommen sind, diese Regel einzuhalten, also nichts mit Leuten anzufangen, die neu ins Kloster gekommen sind. Auch denen, die zum ersten Mal an einer der beiden jährlichen Praxisperioden teilnehmen, ist es verboten, eine romantische Beziehung zu beginnen. Die Regeln verlangen auch, wie es in unserem shingi, den Klosterregeln, in schönstem buddhistischen Bürokratenenglisch heißt: refraining from expressing your romantic or sexual interest to that person. Untersagt ist also nicht nur, ein romantisches oder sexuelles Interesse auszuleben, sondern auch, es überhaupt zu offenbaren.
Tatsächlich achtet das sonst liberale San Francisco Zen Center penibel auf die Einhaltung dieser Regeln. Ich habe von vielen Fällen gehört – und manche in meinen Sommern hier auch miterlebt –, in denen langjährige Mönche rausgeschmissen wurden, weil sie Beziehungen mit Neuangekommenen angefangen hatten.
Was gibt’s, David?
Am Tag nachdem Caroline und ich ein Paar geworden sind, gehe ich nach dem mittäglichen Work-Circle, zu dem sich die Sangha einmal am Tag versammelt, um Aufgaben zuzuteilen oder von anstehenden Ritualen und anderem zu erfahren, zu unserer Äbtissin Furyu Schroeder und frage, ob sie einen kurzen Moment Zeit für mich habe. Ich mag Fu – und ich vertraue ihr. Auf zwei Holzstühlen vor dem kaisando – einem Tempel, der an den Gründer erinnert und in dem die Fotos von Shunryu Suzuki sowie unserer drei Zen-Ahnen vor ihm hängen, lassen wir uns nieder.
Fu sieht mich mit ihren großen, klaren Augen fragend an:
„Was gibt’s, David“?
Ich atme tief durch. Die Nacht habe ich kaum geschlafen. Freude, Euphorie, aber auch Angst haben mich wachgehalten. Caroline und ich hatten die Regeln gebrochen. Würde sie uns auffordern, erst einmal keinen Kontakt mehr zu haben? Oder würde sie uns gar bitten, die Praxisperiode zu verlassen?
„Also, Fu, gestern haben Caroline und ich länger miteinander gesprochen und irgendwann wurde die Intimität zwischen uns so tief, dass wir nicht anders konnten, als über unsere Gefühle zu reden.“
Fu weiß bereits, dass ich in Caroline verliebt bin, davon hatte ich ihr in einem dokusan, einem spirituellen Gespräch unter vier Augen, vor ein paar Wochen erzählt – und den Rat erhalten, mich weiter an die Regeln zu halten und meine platonische Freundschaft mit Caroline zu genießen.
Jetzt sagt sie nichts, sondern schaut mich nur erwartungsvoll an.
„Naja, also Caroline scheint mich auch sehr zu mögen. Ich habe sie für den Januar nach Deutschland eingeladen. Und sie will kommen“, sage ich und lächle, obwohl ich immer noch Angst vor dem habe, was Fu sagen wird.
Meine Entscheidungen – mein Eigentum?
Als ich später in Deutschland Freundinnen von meiner neuen Liebe erzähle, zeigen sich viele irritiert davon, dass ich direkt mit den Oberen der spirituellen Hierarchie darüber sprechen wollte. War ich etwa in die Fänge einer buddhistischen Sekte geraten, die durch eine Disziplinierung des Körpers und der Sexualität die Kontrolle über den Geist ihrer Mitglieder erreichen möchte? Auch mir erscheint es mit dem Abstand einiger Monate und in der Anonymität der Großstadt München eigenartig, wie wichtig es Caroline und mir war, aus unserer Beziehung von Anfang an kein Geheimnis zu machen. Es ist schwer zu vermitteln, wie nahe und vertraut sich jede der 34 Personen unserer gemeinsamen Praxisperiode irgendwann anfühlte, auch diejenigen, die mir unsympathisch waren und mit denen ich kaum sprach. In einem so fein austarierten Beziehungsgefüge, in dem wir alle durch anhaltenden Schlafmangel, die nächtliche Kälte (die Thermalwasserheizungen des Zendos und des Gemeinschaftsraums waren ausgefallen und viele von uns lebten in unbeheizten und recht zugigen Holzhütten) und vor allem die viele Meditation extrem weich gewaschen und sensibel waren, würde eine neue enge Beziehung auch auf alle anderen Einfluss haben. Mein Leben und meine Entscheidungen „gehörten“ nicht mehr mir allein, besser gesagt war es offenkundiger als sonst, dass sie noch nie mein Eigentum, sondern immer vollständig geteilt gewesen waren.
In jenem Gespräch lächelte Fu mich fröhlich an:
„O, David, das freut mich sehr für euch beide! Vor allem freut es mich für dich, dass deine Gefühle erwidert werden. Sonst wäre das hier wohl ein sehr trauriges Gespräch.“
„Aber haben wir damit nicht die grundsätzlichen Regeln gebrochen?“ Fast bin ich enttäuscht, keine harten Worte und Ermahnungen zu hören.
„Ja – das stimmt. Aber dazu will ich nichts sagen. Ich habe mich auch nicht immer an diese Regel gehalten, als ich jünger war. Aber ich kann dir gerne ein paar Vorschläge machen. Ich glaube, es könnte für euch schön sein, eure Beziehung, solange ihr noch hier seid, aufzubauen, ohne miteinander zu schlafen. Früher nannte sich das ‚Einander den Hof machen‘ – und das kann etwas sehr Wertvolles sein.“ Und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: „Und wenn ihr doch miteinander ins Bett geht, dann erzähl mir einfach nichts davon. Ich denke, es ist eine großartige Idee, dass Caroline dich so bald wie möglich in Deutschland besucht. Weißt du, ich habe Caroline in den letzten Jahren ganz gut kennengelernt und auch von dir habe ich einen gewissen Eindruck. Für die Art von Leben, die euch beide anzieht, könntet ihr wirklich gute Partner sein.“
So schnell lösen sich angstvolle Gedankenketten manchmal auf.
Die schönsten Wochen meines Lebens
Die nächsten Wochen zählen zu den schönsten meines Lebens. Was für eine besondere Qualität es hat, wenn eine große Liebe von so viel Ruhe, Gemeinschaft, Meditation und inmitten abgeschiedener Berge und Täler und Flüsse ihren Anfang nehmen kann. Viele der Masken, Ängste und Sicherheitsstrategien, die ich – und wohl auch Caroline – sonst mit mir herumtrage, sind weggefallen. Vielleicht fühlt sich unsere Begegnung auch deshalb so schicksalshaft und absolut an.
Jeden Tag finde ich, wenn ich frühmorgens in die Kälte trete, eine kleine selbstgebastelte Postkarte mit immer innigeren Liebesbekundungen vor meiner Tür liegen. Freilich, das bisschen Ruhe, das sich im Laufe der vergangenen Monate in meinem Kopf eingestellt hatte, ist dahin. Aber ich entbehre es gerne – und sitze meine Zeit auf dem Kissen voller Vorfreude auf unsere gemeinsamen Momente mehr ab, als dass ich die Verwirklichung des Buddhageistes erfahre. Einzig an Zeit fehlt es uns beiden. Während der Stunden, die wir dem strengen Tagesplan abtrotzen, ist meistens ein Wecker gestellt, damit wir die nächste Meditation oder den nächsten Dharma-Talk nicht verpassen. Aber das macht unsere Begegnungen umso kostbarer.
Ganz unterschiedlich reagieren meine Freunde und Freundinnen vor Ort – in Tassajara entstehen Freundschaften sehr schnell – , als ich ihnen von unserer Liebe erzähle. Ashley, meine Sitznachbarin im Zendo, ist begeistert und freut sich mit uns, auch wenn ich merke, dass das tragische Ende ihrer letzten Beziehung angesichts unseres jungen Glücks wieder mehr Raum in ihr einnimmt.
Brooks dagegen, mein wichtigster männlicher Gesprächspartner, reagiert irritiert und zieht sich von mir zurück. Ich hatte schon zuvor mit ihm über meine Verliebtheit gesprochen und ihn gebeten, mich dabei zu unterstützen, meiner Caroline-Obsession nicht nachzugeben und mich ihr nicht zu offenbaren. Gleichsam als Warnung hatte er mir eine kleine Geschichte erzählt:
„Weißt du, eine gute Freundin von mir hat mal ein einmonatiges Vipassana-Retreat gemacht. Also komplett im Schweigen und ohne Augenkontakt mit den anderen Teilnehmenden. Sie hat sich nach einer Woche heftig in einen Mann verliebt, mit dem zusammen sie oft die Küche putzte. Sie war sich ganz sicher, dass er auch Gefühle für sie hatte, weil sich die Stimmung zwischen ihnen so intensiv anfühlte. Meine Freundin ist eine Romantikerin. Ihre Vorstellung war, dass sie sich eines Tages beim Putzen wie zufällig in die Augen schauen würden – und dann alles klar wäre. Ihre Geschichte ging recht weit: Sie würden gemeinsam ein Retreat-Center aufbauen, Kinder haben, gemeinsam alt und weise werden. Naja. Als sie dem Zufall auf die Sprünge helfen wollte und irgendwann den Augenkontakt mit ihrem Angebeteten forcierte, sah dieser nur etwas irritiert weg – und mied danach sichtlich ihre Anwesenheit. All ihre Projektionen fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.“
Auch Leslie, die als Senior Resident Teacher die zweite spirituelle Leitungsfunktion des Klosters innehat, hat mich vor Kurzem noch gebeten, mich trotz meiner Verliebtheit an die Regeln zu halten. Jetzt erzähle ich auch ihr, dass Caroline und ich uns doch nähergekommen sind, und bin erstaunt, dass sie nicht die leiseste Enttäuschung zeigt. Wie Fu reagiert sie erfreut – und wenig überrascht.
Wie viele Paare hat Leslie in ihren vierzig Jahren in Tassajara zusammenkommen und wieder auseinandergehen sehen? Als ich sie frage, ob sie irgendwelche Praxisratschläge für meine neue Situation hat, lacht sie bloß:
„David, gerade brauchst du keinen Ratschlag, außer den, euren gemeinsamen Wahn zu genießen, solange er anhält. Aber das ist wirklich nicht schwierig. Ihr schaut euch in die Augen und sagt, wie schön ihr einander findet, und alles das fühlt sich besonders und einzigartig an. Das ist auch gut so.“
Leslie schaut mich an, ihr Ausdruck wird ein wenig ernster und was sie jetzt sagt, hallt lange in mir nach:
„Aber sei dir bewusst, David: Es ist unausweichlich, dass ihr einander Leid zufügen werdet. Wenn ihr beide wirklich im nächsten Sommer zusammen hierher zurückkommen solltet, dann, so bin ich mir sicher, werde ich dir den einen oder anderen Ratschlag geben können. Ich selbst bin seit über vierzig Jahren verheiratet und meine Ehe mit Keith ist noch immer mein wichtigstes Übungsfeld. Liebesbeziehungen sind eine lohnenswerte, aber sehr, sehr harte Praxis. Verstehst du, was ich dir sage?“
David Sumerauer
geboren 1990, studierte Ethnologie, Geschichte und Germanistik in München und Mumbai. An einem Münchner Gymnasium leitet er Workshops zu Philosophie und Meditation. Seine Reportagen und Kurzgeschichten sind in studentischen Zeitungen und Anthologien erschienen.