Lernen vom Bodhisattva des großen Mitgefühls
In den Ländern Ostasiens sind viele Menschen vertraut mit Avalokiteshvara, dem Bodhisattva des großen Mitgefühls – auch Guanyin, Quan Am, Kannon, Kwan Um oder Chenrezig genannt. Von ganzem Herzen richten sie ihre Wünsche an ihn, denn sie wissen: Durch seine hohe Erleuchtungsstufe vermag Avalokiteshvara ihre Hilferufe zu erhören und ihre Leiden zu lindern. Welche Tugenden hat Avalokiteshvara kultiviert, um solch wunderbare Fähigkeiten zu entfalten, und was können wir davon lernen? Eine Betrachtung von Shifu Simplicity.
Sattva – fühlendes Wesen. Bodhi – Erwachen, Erleuchtung, absolute Bewusstheit. Ein Bodhisattva strebt die volle Erleuchtung eines Buddha an und möchte gleichzeitig allen Wesen zum Ende des Leidens verhelfen. Der Geist eines Bodhisattva ist nicht verwirrt oder getrübt. Er hat die illusorische Natur aller weltlichen Phänomene durchschaut, ist gleichzeitig von großem Mitgefühl und Weisheit erfüllt und kümmert sich an erster Stelle um das Wohl der anderen. Auch ein Mensch, der diesen noblen Wunsch ausgesprochen und sich auf diesen Weg gemacht hat, kann als Bodhisattva bezeichnet werden – er oder sie wäre dann sozusagen ein „Anfänger-Bodhisattva“.
Avalokiteshvara – „der Kontemplierende, der die Töne der Welt hört“. Dieser Bodhisattva hat seit unzähligen kalpas, also sehr langen Zeitperioden, die Meditationsmethode des Hörens angewendet. Mit Hören ist hier nicht gemeint, die Töne im Außen zu hören, sondern vielmehr, nach innen in sich hineinzuhören. Das bedeutet jedoch nicht etwa, den eigenen Gedanken zu lauschen, sondern ganz direkt, nur einfach zu hören. Es ist das Hören nach innen auf die eigene wahre Natur. Dabei verwurzelt sich die oder der Praktizierende im direkten, reinen Geist, ohne zwischen Mögen und Nichtmögen zu unterscheiden und ohne zu bewerten. Der reine Geist, der jenseits der Dualität von „ich“ und „andere“ ist, wird auch Soheit oder absolute Bewusstheit genannt. Wer dies verwirklicht hat, findet keinen Unterschied mehr zwischen Geist, Buddha und allen Wesen. Ein solcher Mensch ist von einem großen Mitgefühl unterschiedslos allen Wesen gegenüber erfüllt und von dem aufrichtigen Wunsch, das Leiden anderer zu beenden. Gleichzeitig ist sein oder ihr Geist in jeder Situation frei und gelassen, weshalb Avalokiteshvara im Herz-Sutra auch als der „Bodhisattva der Gelassenheit“ bezeichnet wird.
Viele Menschen schauen zu den wunderbaren Fähigkeiten des Bodhisattvas auf und richten an ihn ihre Hilferufe. Doch die Fähigkeiten Avalokiteshvaras sind kein Zufallsprodukt, sondern sie entspringen den Ursachen seiner Praxis. Es ist gar nicht schwer, vom Bodhisattva zu lernen und selbst auch an denselben Ursachen zu arbeiten. Wir brauchen im Alltag nur zu versuchen, unser Ego loszulassen, unsere Ich-Zentriertheit zu verlassen und unser Augenmerk stattdessen stärker auf andere Menschen und auch Tiere zu richten. Wenn wir uns für sie einsetzen, statt nur an unsere eigenen Bedürfnisse zu denken, manifestiert sich bereits in diesem Moment der Bodhisattva in uns.
Was genau ist Mitgefühl?
Der Kern des Buddhismus ist das Mitgefühl und jeder von uns trägt diese Qualität im Herzen. Doch leider handeln die meisten Menschen einen großen Teil ihrer Zeit aus der Gewohnheit ihrer Ich-Bezogenheit heraus, was das Mitgefühl des eigenen Geistes trübt. Doch was genau bedeutet Mitgefühl? Einfach ausgedrückt ist es ist die Empathie mit allen anderen, die daraus erwächst, dass wir loslassen und unseren Blickwinkel verschieben. Wenn man sich in die Rolle eines anderen hineinversetzt, sein oder ihr Erleben spürt, entsteht diese Empathie meist recht schnell. Im Alltag brauchen wir uns nur ein wenig Mühe zu geben und schon können wir in die Herzen anderer hineinhören, können ihren Geist erkennen und unsere subjektive Sichtweise und Beurteilungen loslassen. Aus dieser Erfahrung heraus erwächst der Wunsch und die konkrete Handlung, anderen zu helfen und Freude zu bringen. Unser Mitgefühl kann intuitiv walten und findet dazu überall Gelegenheiten:
Stellen wir uns vor, wir wären eine Professorin und bemühen uns, Studierenden einen Zusammenhang klarzumachen, aber sie schauen derweil auf ihre Handys oder tuscheln miteinander. Wie fühlen wir uns in dem Moment? Aus Verständnis für dieses Gefühl folgen wir als Studierende deshalb aufmerksam und konzentriert dem Vortrag. Oder wir beobachten, wie jemand in einer Gruppe ausgestoßen wird, fühlen seine Einsamkeit, entwickeln Mitgefühl und reichen ihm die Hand. Oder wir hören, wie sich jemand beschwert, wir hören genau zu, direkt in sein Herz hinein, und verstehen sein Leiden, woraufhin wir diesem Menschen – ohne uns in die Beschwerde mitreißen zu lassen – eine warmherzige Reaktion zukommen lassen.
Wenn wir uns darin üben zu hören, was jemanden im Herzen bewegt, dann verstehen wir etwas, was nicht konkret in Worten ausgedrückt wird. Im Sutra der Acht Erkenntnisse großer Wesen heißt es:
Ein Bodhisattva unterscheidet beim Geben nicht zwischen Freund und Feind.
Ein Bodhisattva hilft allen bedingungslos, ohne zu werten. Wir können das nicht nur Menschen, sondern auch Tieren gegenüber praktizieren. Wenn wir sensibel und aufmerksam sind, hören wir schon intuitiv an der Art, wie ein Hund heult, ob er sich gerade in einer Notlage befindet, und wenn dies so ist, prüfen wir, ob es eine Möglichkeit gibt, ihm zu helfen.
Einmal habe ich abends in meinem Klosterzimmer meditiert. Außer mir war niemand im Wohnbereich. Ich hörte in der Ferne ein metallisches Rattern, das ich zunächst nicht weiter beachtete. Auch nach der Meditation war das Geräusch noch zu hören – und plötzlich wusste ich instinktiv, dass dort irgendwo ein Tier in Not sein musste. Also ging ich los und entdeckte, dass sich eine Fledermaus in ein leeres Zimmer verirrt hatte und verzweifelt immer wieder gegen das feine Moskitogitter vor dem Fenster flog, um hinauszukommen. Ich öffnete die Tür weit und sagte ihr, dass hier der Ausgang sei. Sie flog ins Freie.
Solche Erlebnisse sind nicht selten, wenn wir die Avalokiteshvara-Methode des Meditierens üben und uns dafür sensibilisieren, das Leiden anderer Wesen zu hören. Wenn wir uns des Leids der Tiere bewusst werden, können wir auch mit freudigem Herzen einer Mücke etwas Blut spenden und so mit diesem Wesen eine positive karmische Verbindung eingehen. Der Mückenstich stört uns dann kaum – verglichen mit dem großen Ärger, den wir ohne Mitgefühl über einen Mückenstich empfinden. Wir können uns des Lebenswillens aller Tiere bewusst werden und ihre Angst nachempfinden, wenn sie zum Schlachten geführt werden. Daraufhin können wir uns entscheiden, auf tierische Produkte, zumindest so gut es geht, zu verzichten, um so weniger Leid von Tieren mit zu verursachen – auch das ein bewusster Akt des Mitgefühls. Manchmal wünschen wir uns, wir könnten die Welt retten. Doch das kann auch kein erleuchteter Bodhisattva. Wichtig ist, dass wir lernen und wachsen und uns bemühen und stets mit Weisheit handeln.
Die Strenge des Bodhisattvas
Der Geist eines Bodhisattvas betrachtet alle Wesen mit Gleichmut und stößt kein einziges Wesen zurück. Das bedeutet nicht, dass man alles durchgehen lassen muss. Wenn Menschen anderen schaden und unethisch handeln, muss auch ein Bodhisattva manchmal streng sein und zu Mitteln greifen, die dazu geeignet sind, die schädigende Person zu erreichen und zu lehren, und andere schützen.
Die zahllosen Situationen des täglichen Lebens lassen sich nicht mit standardisierten Prinzipien beantworten. Wenn Mitgefühl die Grundeinstellung ist, muss sie immer zusammen mit Weisheit zum Ausdruck gebracht werden. Mitgefühl ist auch nicht das Gleiche wie Mitleid: Wir können zwar das Leiden anderer nachvollziehen, werden davon aber nicht zu Boden geworfen. Ein Bodhisattva versteht die illusorische Natur aller Phänomene und damit auch der anderen Wesen.
Damit bleibt er frei und gelassen.
Aus dem Tempel heraus,
der wie der Mond auf dem Wasser erscheint,
manifestiert ein Bodhisattva alle guten Taten
wie in einem Traum.
Wenn wir widrigen Lebensumständen begegnen, sehen wir sie als Übungsfelder auf dem Bodhisattva-Weg. Denn alles, was wir durchmachen, dient uns in der Zukunft als wertvolle Erfahrung bei der Aufgabe, anderen zu helfen. Viele Gefühle und Erfahrungen können wir schließlich erst wirklich nachvollziehen, wenn wir sie am eigenen Leib erlebt haben. Ein Mensch, der jung, gesund und immer fit ist, kann sich schwer in die Rolle eines chronisch Kranken hineinversetzen, dessen Tage von Kraftlosigkeit oder andauernden Schmerzen erfüllt sind. Eine eigene Krankheit hilft, Demut zu entwickeln und Mitgefühl zu entfalten. Im Sutra der Acht Erkenntnisse großer Wesen heißt es:
Ich bin gewillt, das Leiden aller Wesen auf mich zu nehmen.
Mit dieser Einstellung erweitert sich unser Herz stetig, und die eigenen kleshas – die Trübungen des Geistes wie Gier, Ärger, Unwissenheit und Egoismus – vermindern sich allmählich. Das große Gelöbnis des Mitgefühls gibt Kraft, Geduld und Ausdauer, die wir auf dem langen und oft auch steinigen Weg zur Buddhaschaft benötigen. Anderen zu helfen ist nicht immer einfach. Es hilft, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass Zeit relativ ist und wir uns nur so gut bemühen können, wie es die Bedingungen im jeweiligen Moment ermöglichen. Manchmal können wir nichts anderes tun, als mit anderen Wesen gute karmische Bedingungen zu schaffen, die dann in zukünftigen Leben reifen. Denn wir können zwar versuchen, jemandem in einer Notsituation zu helfen, aber jede und jeder trägt nach wie vor die Konsequenzen für das eigene Karma.
Ich bin gewillt, das Leiden aller Wesen auf mich zu nehmen.
Mit dieser Einstellung erweitert sich unser Herz stetig, und die eigenen kleshas – die Trübungen des Geistes wie Gier, Ärger, Unwissenheit und Egoismus – vermindern sich allmählich. Das große Gelöbnis des Mitgefühls gibt Kraft, Geduld und Ausdauer, die wir auf dem langen und oft auch steinigen Weg zur Buddhaschaft benötigen. Anderen zu helfen ist nicht immer einfach. Es hilft, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass Zeit relativ ist und wir uns nur so gut bemühen können, wie es die Bedingungen im jeweiligen Moment ermöglichen. Manchmal können wir nichts anderes tun, als mit anderen Wesen gute karmische Bedingungen zu schaffen, die dann in zukünftigen Leben reifen. Denn wir können zwar versuchen, jemandem in einer Notsituation zu helfen, aber jede und jeder trägt nach wie vor die Konsequenzen für das eigene Karma.
Ein Bodhisattva lernt nie aus
In der buddhistischen Kunst wird Bodhisattva Avalokiteshvara manchmal mit tausend Armen dargestellt, in den Händen die verschiedensten Werkzeuge – sie symbolisieren die vielseitigen Methoden, anderen Wesen zu helfen. Sogar ein Schwert kann manchmal zur Anwendung kommen. In jeder seiner Handflächen befindet sich ein Auge, das Symbol für Weisheit. Weil der Bodhisattva so viele Wege und Verfahren kennt, kann er genau die passende Methode für den jeweiligen Moment auswählen. Denn stimmt das Mittel nicht oder ist dies nicht der richtige Moment, dann ist der Einsatz eventuell vergeblich. Deshalb lernt ein Bodhisattva nie aus, bis er die volle Buddhaschaft erreicht hat. Und indem er und wir tiefere Erleuchtungsstufen erreichen, wachsen unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, anderen zu helfen.
Viele Menschen bitten Bodhisattva Avalokiteshvara um Hilfe in Notsituationen. Das Glück, wenn sich ein Wunsch an diesen Bodhisattva erfüllt hat, lässt sich allerdings in keiner Weise mit der Dharmafreude messen, die aus unseren eigenen Handlungen als Bodhisattva resultiert.
Wenn wir uns vor Bodhisattva Avalokiteshvara verbeugen oder niederwerfen, sollten wir also den Wunsch aussprechen, vom Bodhisattva zu lernen. Im Alltag können wir den Bodhisattva-Weg gehen, indem wir im Geist keine Wertungen und Unterscheidungen machen und alle Wesen so betrachten, als wären sie unsere Verwandten oder Freundinnen und Freunde. Auf diese Weise befindet sich unser Geist immer in der Bodhisattva-Welt.
Wenn wir Bodhisattva Avalokiteshvara in unserem reinen Geist gefunden haben – dann liegt die Perle der Wunscherfüllung direkt in unserer eigenen Hand.
Shifu Simplicity
Shifu Simplicity war früher Ärztin und ist seit 21 Jahren buddhistische Nonne. Sie verbrachte sechs Jahre in Plum Village und 14 Jahre im Chan-Kloster Chung Tai in Taiwan und leitet seit einem Jahr das Miao Fa Zentrum für Meditation und Chan-Buddhismus in Berlin.