LANGFASSUNG: Es ist die Bewusstheit, die unsere Liebe schützt

Ein Interview mit Wilfried Reuter geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2018/1 Liebe unter der Rubrik Liebe.

Vor 25 Jahren traf der Berliner Arzt Wilfried Reuter die buddhistische Nonne Ayya Khema. 1997, kurz bevor sie starb, beauftragte sie ihn, selbst Dharmalehrer zu werden. In seinem Zentrum mitten in Berlin, dem Lotos Vihara, können Menschen ein breites Spektrum buddhistischer Meditationsformen kennenlernen und praktizieren. Im Gespräch mit Susanne Billig lotet er aus, wie sich in der Lehrer-Schüler-Beziehung Hingabe und tiefes Vertrauen mit Klarheit und Bewusstheit vereinbaren lassen. Wir publizieren hier online eine Interviewfassung, die etwa doppelt so lang ist wie das Interview im gedruckten Magazin.

Das Licht der Erkenntnis weitergeben | Foto von Josh Boot auf Unsplash

Susanne Billig: Was hat Sie motiviert, selbst Dharmalehrer zu werden? Sie hätten doch auch sagen können: Das mache ich nicht, das liegt mir nicht.

Wilfried Reuter: Ich war begeistert vom Dharma und habe gesehen, wie hilfreich selbst ganz einfache buddhistischen Anleitungen – zu Achtsamkeit, zu Mitgefühl – für das ganz normale Leben sind. Immer mehr von dem, was ich von Ayya Khema gelernt habe, konnte ich auch in meiner Arbeit als Arzt verwenden. Und wie das häufig so ist: Wenn man etwas gelernt hat, das einen begeistert, dann möchte man es auch gerne teilen. Allerdings war ich anfangs sehr streng, sehr konzeptionell unterwegs. Ich glaube, dass ich im Laufe der Jahre immer weicher und offener geworden bin.

Warum war Ayya Khema eine gute Lehrerin?

Sie war eine gute Lehrerin, weil sie das Dharma lehrte auf eine Weise, die sehr einfach und alltagsbezogen war. Es war auch spürbar, dass sie vom Leben einiges kannte. Sie war gelernte Bankkauffrau, hatte zwei Kinder, zwei Ehen geführt, war in der Welt umher gekommen, hatte auch als Nonne und buddhistische Lehrerin viel Erfahrung. Dazu kam, dass sie mich persönlich angesprochen hat und ich spüren konnte, dass sie Interesse an mir als Person hat. Ich kann mich an Anrufe erinnern, in denen es eigentlich um Organisatorisches ging, aber sie sprach mich auch fürsorglich an, interessierte sich dafür, was ich an dem Tag erlebt und noch vorhatte, dachte sich in meine persönliche Situation hinein und ermahnte mich, nicht zu viel zu arbeiten. 

Unser Thema ist die Beziehung zwischen Lehrerin, Lehrer und Schülerin, Schüler – wie war Ihr Verhältnis zu Ayya Khema? Was war das für eine Art von Beziehung?

Ich war am Anfang skeptisch. Das war sicherlich auch mein Ego-Bewusstsein, das nicht einsah: Wieso soll ich aufstehen, wenn sie den Raum betritt? Denn so war es üblich. Das widerstrebte mir am Anfang sehr, schließlich stehe ich ja auch sonst vor niemandem auf – warum soll ich es nun tun, nur weil jemand eine braune Kutte trägt? Aber das fiel dann relativ schnell von mir ab, als ich sie näher kennenlernte und sie sich auch auf mich einließ. Ihre Art zu lehren begeisterte mich, und so erwuchs daraus allmählich eine Liebe. Ich habe sie, glaube ich, wirklich sehr geliebt. Natürlich war das eine Liebe, die nichts zu tun hatte mit der Liebe zwischen Mann und Frau oder Frau und Frau, Mann und Mann, sondern es war eine reine Liebe, so würde ich es nennen. 

Eine reine Liebe, wie sah die aus?

Ich habe sie verehrt, geliebt, ich habe oft an sie gedacht, ich habe Herzklopfen gehabt, wenn sie angerufen hat, und ich habe versucht, so viel Zeit wie möglich in ihrer Nähe zu sein. Etwas anderes als eine reine Liebe wäre bei Ayya Khema absurd gewesen. Sie war eine Nonne und eine alte Frau, ich ein vergleichsweise junger Mann. Der Gedanke kam mir auch nicht im Ansatz, dass da irgendetwas anderes als eine reine Liebe Platz haben könnte. Unsere Gespräche waren auch klar immer wieder dharmabezogen, auch wenn wir über persönliche Dinge sprachen. So habe ich zum Beispiel mein Beziehungsleben mit ihr besprochen und die schwere Krankheit, die ich damals hatte. Ich hatte, kurz bevor ich sie kennenlernte, einen Schlaganfall gehabt und der wiederum war aus einer Krisensituation in meinem Leben entstanden. Alles das wusste Ayya und ich konnte mich ihr damit anvertrauen.

Die buddhistische Nonne und Dharmalehrerin Ayya Khema

Doch solch eine Liebe kann auch abrutschen. Wann wird die Liebe des Schülers gegenüber dem Lehrer oder der Lehrerin schief und ungesund?

Die Grenze ist natürlich nicht nicht scharf zu markieren. Das ist ja genau das Problem – für Lehrende und Lernende. Wäre die Grenze scharf zu markieren, stünden ja Warnlampen vor so etwas wie Missbrauch. Schief wird es dann, wenn wir die Projektionen, die wir aufeinander haben, nicht durchschauen. Projektion leben von der Unbewusstheit. Hier sollte der Lehrende bewusster sein als die Schülerin oder der Schüler. Der Lehrende sollte erkennen, was da geschieht, also ein deutlich höheres Maß an Bewusstheit haben. Schief wird es auch dann, wenn sich so etwas wie Begehrlichkeit einschleicht auf der körperlichen oder auch auf der finanziellen Ebene und wenn sich Abhängigkeiten aufbauen.

Haben Sie so etwas erlebt?

Ich habe sicherlich häufiger Begehrlichkeiten erlebt von Schülerinnen mir gegenüber, aber da hat mir meine Bewusstheit sehr geholfen, die ich ja auch in den ganzen Jahren als Frauenarzt trainieren konnte. In meinem Beruf hatte ich ja als Mann ständig mit Frauen zu tun und auch mit dem Thema Sexualität. Frauen brachten mir Vertrauen entgegen und ich durfte intime Dinge hören, zu denen außer dem Partner oder der Partnerin sonst eigentlich niemand einen Zugang hatte. Diese Ebene braucht eine besondere Behutsamkeit und Bewusstheit. 

Aber zurück zu der Frage: Wo ist die Grenze? Die Grenze ist fließend und es ist wichtig, unsere Bewusstheit als unseren Schutz anzusehen. Was passiert gerade in mir? Wie fühlt sich die Atmosphäre zwischen uns gerade an? Wie offen, wie rein? Wie sehr kann in jedem Moment jemand anders dazu kommen? Und inwieweit baut sich etwas auf, bei dem jemand anders jetzt stören würde? In dem Moment wird es schon schwierig.

Der Lehrer sollte bewusster sein, sagen Sie. So liegt es ja auch in der Natur des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Der Lehrer, die Lehrerin ist einige Schritte voraus und lehrt den Weg. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Wie schaffe ich es als Schüler, als Schülerin, auf der einen Seite Liebe und Vertrauen in diese Beziehung zu legen – und auf der anderen Seite wachsam zu bleiben? Schließt sich das nicht gegenseitig aus? 

Ich glaube, es kann Phasen geben im Lehrer-Schüler-Verhältnis, in denen ich tatsächlich wie an der Hand meines Vaters gehe und das Vertrauen habe, der Vater führt mich über die belebte Straße und ich komme sicher auf der anderen Seite an. Und dennoch braucht es so etwas wie einen gesunden Menschenverstand und ein intuitives Bewusstsein, die mir sagen: Fühlt sich diese Beziehung unbefangen, leicht und vertrauenswürdig an? Oder mischen sich da gerade Dinge hinein, Begehrlichkeiten, die das Ganze irgendwie trübe und unklar machen? Welche Art von Zuneigung bringt denn der andere mir entgegen? Geht es dem wirklich um mich, oder geht es ihm auch ein Stück weit um sich selbst? Ich denke, wenn ich einen Zugang zu meiner Intuition habe, dann spüre ich das.

Es gibt unterschiedliche Arten von Lehrern. Manche wollen nur das Dharma lehren. Andere lehren nur Meditationen und beantworten auch nur Fragen zur Meditation. Doch für mich ist ein spiritueller Lehrer mehr. Ein guter Dharmalehrer ist auch ein guter Seelsorger, ebenso wie auch ein guter Psychotherapeut ein guter Seelsorger ist – ohne das Wort Seele jetzt definieren zu wollen; ich denke, man versteht, was ich damit meine. Ich habe in meiner Arztpraxis immer wieder Menschen erlebt, die in Krisensituationen kamen, beispielsweise durch schwere Krankheitsdiagnosen. Oft hörte ich dann die Frage: Können Sie mir einen guten Psychotherapeuten nennen? Doch ich glaube, diese Menschen brauchten eigentlich keinen Therapeuten, sondern einen Seelsorger. Jemanden, der sich „um die Seele sorgt“. 

So sehe ich auch meine Aufgabe als Dharmalehrer. Mit denjenigen, die sich vertrauensvoll nähern und auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis einlassen, gibt es erstens die dharma-freundschaftliche Ebene, es gibt zweitens die Ebene der Weitergabe von Wissen – also wie geht man mit Hindernissen in der Meditation um? – und drittens die seelsorgerische Ebene. Beispielsweise habe ich hier im Zentrum jeden Nachmittag Sprechstunde. In der Regel kommen Menschen mit ein, zwei Fragen zur ihrer Meditationspraxis und ein, zwei Fragen zum Leben – Partnerschaft, Sexualität, Arbeitsplatz, finanzielle Sorgen, Mobbing. Hier brauchen sie eine Seelsorge oder auch meinen Rat als Arzt. 

Was wäre von Seiten des Schülers oder der Schülerin eine unrealistische Erwartung an den Lehrer?

Eine unrealistische Erwartung wäre, dass die Lehrerin oder der Lehrer dem Schüler den Weg abnimmt. Wenn ich einem Schüler suggeriere, „du musst dich nur mir richtig hingeben, dann wirst du schneller erleuchtet“ – das halte ich für gefährlich und unrealistisch. Der Buddha selber hat sich als Wegweiser bezeichnet – und der Wegweiser führt niemandem zum Ziel, sondern der Wegweiser ist der Wegweiser. Darauf sollten wir Lehrende uns auch bescheiden. Gleichzeitig ist es unglaublich schwierig, dem Weg allein zu folgen. Der historische Buddha hat ja nicht umsonst gesagt, dass noble Freunde „das ganze spirituelle Leben“ sind. 

Es braucht in unserem Leben, für unsere Entwicklung, einen Menschen, der an uns glaubt und der uns mit liebevollen Augen anschaut, und das kann der Lehrer sein. Ayya Khema hat mich mit liebevollen Augen angeschaut und an mich geglaubt, und ich habe auch Schüler, die ich so anschaue. Dann beginnt tatsächlich spirituelle Verwandlung. Das ist aber nichts Mystisches, sondern das passiert auch in einer guten Freundschaft. Dazu brauchen wir keine Hierarchie von Lehrer-Schüler, aber es braucht die Bereitschaft, tatsächlich mit, wie der kleine Prinz sagen würde, „Herzensaugen zu schauen“.

Ich hab hier viele Gespräche, in denen Menschen berichten, dass sie so jemanden eben nicht haben. Jemanden, der bedingungslos an uns glaubt und bereit ist, sich immer wieder auf das Gute in uns auszurichten. Der hinter uns steht, wenn wir Rückhalt brauchen, neben uns geht, wenn wir Beistand brauchen, und auch mal vor uns steht, wenn wir nicht selber für uns einstehen können. Alles das ist für mich eine Definition von spiritueller Freundschaft, und der Lehrer ist ja auch spiritueller Freund.

Wir sprachen vorhin von der reinen Liebe. Was kann eine buddhistische Gemeinschaft dafür tun, damit das gewährleistet bleibt? Gibt es so etwas wie Hygiene- oder Vorbeugemaßnahmen, die immer wieder dafür sorgen, dass es ein guter Weg miteinander bleibt?

Ich denke ja, und ich nehme die derzeitigen Missbrauchsdebatten auch zum Anlass, diese Frage an die Menschen zu richten, die unser Zentrum besuchen. Ich möchte das nicht allein von mir aus beantworten, „so machen wir das, Basta“, sondern hoffe, dass dazu auch von anderen Ideen kommen.

Eine Möglichkeit besteht zum Beispiel darin, eine Vertrauensperson zu benennen. Das haben wir hier im Zentrum getan. Wenn also jemand eine Beschwerde oder irgendeinen Eindruck mitteilen möchte, sich aber nicht traut, es dem Lehrer selber zu sagen, dann kann er das über die Vertrauensperson tun. Diese Vertrauensperson ist aber bei uns in vielen Jahren noch nie angesprochen worden.

Es gibt auch die Möglichkeit, mir nach Dharmavorträgen anonym auf einem Zettel Fragen zu stellen. Oder man kann andere Menschen befragen: „Ich hab das und das von Wilfried Reuter gehört oder an ihm wahrgenommen, was sagst du dazu?“ 

Es gibt auch keine geschlossenen Räume oder geschlossenen Treffen. Ich glaube, wir sind relativ transparent. Außerdem habe ich natürlich meine Gruppenleiter, das sind 16 von mir autorisierte Menschen, die abends Meditationsgruppen anleiten. Wir haben ein regelmäßiges Treffen, und diese Menschen – ebenso wie der Vorstand unseres Zentrums – sind auch eine Instanz, die mich hinterfragen kann. Das ist mir auch wichtig als Eigenschutz . Denn man kann – als Arzt wie als Dharmalehrer – natürlich auch Verleumdung erfahren. Dass jemand sagt, der Wilfried Reuter ist übergriffig, im Retreat oder wo auch immer sich Möglichkeiten bieten könnten. Auch deswegen ist mir ein Höchstmaß an Transparenz wichtig – Räume immer offen zu lassen, so dass ein Zimmer, in dem ich bin, immer auch von weiteren Menschen betreten werden kann.

Das Thema Missbrauch liegt derzeit für den Buddhismus massiv auf dem Tisch – was löst das in Ihnen aus? 

Es löst in mir Empörung, Wut und Trauer aus. Wut auf die Lehrer, dass sie nicht bewusster sind und mit ihren eigenen Bedürfnissen nicht besser umgehen können. Trauer um den Vertrauensverlust, der damit verbunden ist. Ich habe zum Beispiel eine Schülerin, deren Familie sehr skeptisch gegenüber dem Buddhismus ist. Sie sagte mir: „Wenn meine Familie einen ganzseitigen Artikel über Missbrauch im Buddhismus in der Süddeutschen Zeitung liest, dann macht sie mir das Leben noch schwerer.“

Solche Skandale sind Öl ins Feuer des kritischen Geistes, und das betrauere ich. Sie haben Auswirkungen auf suchende Menschen, die bereit sind, Vertrauen aufzubauen, und treiben sie in eine Misstrauenshaltung. Auf der einen Seite besteht ein großes Bedürfnis, vertrauensvolle Bindungen aufzubauen, auf der anderen Seiten haben aber viele Menschen hierzulande, vielleicht aus unserer deutschen Geschichte heraus, eine ordentliche Portion an Fehlersucher-Geist und zweifelndem Geist sich selbst, aber auch anderen gegenüber. Dieser zweifelnde Geist bremst uns; es ist schwer, weiterzukommen, wenn ich den Lehrer oder die Institution anzweifle. Dann gilt es erst einmal, diesen Zweifel zu heilen. Ich habe nichts gegen konstruktiven Zweifel, der auf das Gute ausgerichtet ist. Der destruktive Zweifel aber will das Haar in der Suppe finden – und das findet der natürlich dann auch, bläht das auf und macht daraus einen Balken. Dieser Tendenz wird durch die Missbrauchsvorfälle stark Vorschub gegeben, die richten also einen unglaublichen Schaden an.

Im tibetischen Buddhismus sagen manche Schülerinnen und Schüler: Ihr versteht das nicht. Unser Meister ist so erleuchtet, dass alles, was er tut, rein ist. Wenn er mich schlägt oder nackt fotografiert, dann bringt mich das weiter. Und sie beklagen, dass ihr Meister durch die öffentliche Kritik daran gehindert wird, diese hilfreiche Lehrform weiter auszuüben. Was sagen Sie dazu?

Ich habe mich in vielen Jahren intensiv mit tantrischem Buddhismus beschäftigt, der ja nun über tausend Jahre alt und in einer anderen Kultur entstanden ist. Wir leben jedoch in dieser Gegenwart, in Mitteleuropa, und ich halte es für äußerst fragwürdig, Praxisformen, die früher in einer anderen Kultur möglicherweise hilfreich waren, eins zu eins hierher zu übertragen. „Ich bin geschlagen worden, und es tat mir gut“ – wenn ich solche Aussagen höre, bin ich entsetzt. Ohne das pathologisieren zu wollen, denke ich: Jemand, der so etwas sagt, bräuchte möglicherweise einen Psychotherapeuten, der einmal Licht da hinein bringt. Was in mir sagt, es ist gut, geschlagen zu werden? Und wenn ein Lehrer jemanden nackt fotografiert, um das Ego zu reduzieren, dann glaube ich dem Lehrer nicht. Um das Ego zu reduzieren, brauche ich niemanden nackt zu fotografieren oder seine Scham aufzulösen. Da können wir vorher alles mögliche andere erst einmal auflösen, zum Beispiel unsere gegenseitigen Begehrlichkeiten, bevor wir mit der Scham anfangen, abgesehen davon, dass die Scham ja auch eine Schutzfunktion hat. Bei solchen Lehrformen wird der Körper dermaßen in den Mittelpunkt gerückt und zum Gegenstand der Praxis gemacht, wo doch erst einmal ganz andere Dinge – nämlich Bewusstheit und Mitgefühl, also tatsächlich die Herzensqualitäten – geschult werden müssten.

Ein weiterer Aspekt ist die Frage der Erleuchtung. Wenn jemand von sich selber behauptet, er sei erleuchtet, dann ist das für mich fast ein Indiz – kein Beweis, aber ein Indiz –, dass er es nicht ist. Und wenn ich einen anderen Menschen als erleuchtet betrachte, dann muss ich mich fragen: Woher weiß ich das denn? Der Buddha hat gelehrt, nur ein Erleuchteter erkenne einen Erleuchteten. Ich kann es also gar nicht erkennen. Vielleicht habe ich Indizien: Wie bewusst ist er, wie sehr will er wirklich mein Wohlergehen, wie sehr hält er sich an die Silas, also die Tugendregeln? Und wenn ich merke, dass wir auf eine Ebene von Sexualität gelangen, die in der Lehrer-Schüler-Beziehung nichts zu suchen hat, dann entfernen wir uns gerade von den Silas. Hätten denn die Partner der Frauen zu jeder Zeit dazukommen können, wenn sie Zeit mit dem Lehrer verbringen?Wahrscheinlich nicht. Das möchte ein solcher Lehrer nicht, und seine Schülerinnen möchten es vermutlich auch nicht. In einer solchen Situation muss man sich fragen: Was baut sich hier gerade für ein Spannungsbogen auf? Kurz: Dem Lehrer glaube ich nicht, dass er erleuchtet ist, und die Frage ist, wer es sonst erkennen könnte. 

Aber auch auf Seiten der Schüler glaube ich, dass da ein ordentliches Maß an Bewusstheit den eigenen Tendenzen gegenüber fehlt. Buddhismus hat als Basis „Ahimsa“, Gewaltlosigkeit – und Schläge sind Gewalt. Goethe hat gesagt, „der Teufel, das sind die Begründungen“. Ich kann für alles eine Begründung finden – und es ist eine teuflische Begründung, zu sagen, „schlag mich und das tut mir gut“. Das hat aus meiner Sicht überhaupt nichts mit Buddhadharma zu tun.

Angenommen es werden an Sie Ansprüche gestellt, die Sie nicht erfüllen möchten, das muss ja nicht immer sexuelles Begehren sein, sondern kann auch der Wunsch nach besonderer Zuwendung und Beachtung sein: Wie weisen Sie das zurück? Entstehen dabei nicht zwangsläufig Wut und Enttäuschung? 

Ich werde nicht immer verhindern können, dass Enttäuschungen entstehen, die zu Wut führen. Ich versuche, bevor ich jemanden zurückweise, erst mal eine fühlende Verbindung herzustellen, also mich einzufühlen in diese Person und wenn es möglich ist, auch die Person zu bitten, sich einzufühlen in mich. Wenn wir eine fühlende Verbindung haben, dann kann ich auch sagen, du, das geht nicht, das möchte ich so nicht, ohne dass sich jemand zurückgewiesen oder abgelehnt fühlt, sondern es wird nur ein bestimmter Wunsch nicht erfüllt. Hingegen wenn ich diese fühlende Verbindung nicht habe, dann kann man eher hören, „der lehnt mich ab, der mag mich nicht, ich bin nicht wichtig genug“. 

In solchen Situationen werden häufig alte Verletzlichkeiten aktiviert, und wir haben dann drei Möglichkeiten, damit umzugehen: Die eine Möglichkeit ist, wütend zu werden. Die zweite Möglichkeit ist, sehr lieb zu werden, das heißt, wir verleugnen uns selbst. Und die dritte Möglichkeit ist: Wir gehen aus dem Kontakt, wir lassen den Rollladen runter und reden überhaupt nicht mehr. Meist wählen Menschen eine dieser drei Möglichkeiten und es ist wichtig, sich dieser Prozesse bewusst zu sein. Darauf weise ich als Lehrer auch immer wieder hin: Wir werden in der Lehrer-Schüler-Beziehung nie so rein und bewusst sein können, dass nicht auch alte Verletzlichkeiten berührt werden und wir damit nicht sofort mit dem Höchstmaß an Mitgefühl umgehen können, denn das wäre ein vollkommen überzogener, idealisierter Anspruch. Wenn wir also merken, wir werden wütend, wir werden sehr lieb oder wir gehen aus dem Kontakt – dann ist etwas Verletzliches in uns angetriggert. Das hören die Menschen hier im Zentrum ständig von mir. Es ist immer die Bewusstheit, die uns schützt.

Ich habe lange in einer aus Japan stammenden buddhistischen Gemeinschaft praktiziert. Dort gab es einen von allen anerkannten und verehrten Meister, den man aber niemals persönlich kennenlernen konnte, denn er lebt weit weg in Japan und die Gemeinschaft ist groß. Wir kannten ihn so so ähnlich, wie viele den Dalai Lama kennen: Wir lasen, was er schreibt, wir sahen vielleicht einen Videovortrag an, und wir projizierten natürlich auch nach Herzenslust. Alle meinten genau zu wissen, wie sich der Meister in dieser oder jener Situation verhalten würde. Ist das sinnvoll als Lehrer-Schüler-Verhältnis? Muss man einen Lehrer persönlich kennen und auch mal ansprechen können?

Ja, ich denke, man braucht einen persönlichen Lehrer. Da gibt es ja den schönen geflügelten Satz: „Wenn du wissen willst, wie weit dein Lehrer ist, frag seine Frau“ – weil die es weiß. In einer Beziehung drückt man ja ständig Knöpfe, und wie sehr reagiert der Lehrer dann auf eine von diesen drei Weisen, über die wir vorhin sprachen? Wird er wütend, verleugnet er sich? Wird er, wenn in ihm oder ihr etwas Verletzliches berührt wird, bewusster? Das wäre ein Zeichen von tatsächlichem Wachstum. Oder rutscht er zurück in die alten Muster? Um alles das zu erfahren, braucht es die persönliche Begegnung. Dazu müssen wir den Lehrer oder die Lehrerin in vielen verschiedenen Situationen erleben.

In manchen Gemeinschaft gibt ja auch das durchaus sinnvolle Modell, tatsächlich einige Jahre mit dem Lehrer zu leben, denn dann sieht man ihn in allen möglichen Situationen – wach, aber auch unausgeschlafen, gesund, aber auch krank. 

Auch wenn ich noch einmal zurückkomme auf den Aspekt des Seelsorgers: Dafür ist es ohnehin notwendig, dass diese Person auch wirklich da ist –  körperlich und herzlich da ist, im Vieraugengespräch. Ich muss die Person sozusagen spüren, sonst ist bleibt diese Lehrerin oder dieser Lehrer ein abstraktes Konstrukt. Über Projektionen kommen wir nicht zur Erleuchtung.

Was für ein Verhältnis kann man dann haben zu so jemandem wie dem Dalai Lama?

Ich würde ihn nicht idealisieren wollen, aber dennoch, von dem, was ich hören und sehen und sozusagen aus der Ferne beurteilen kann, ist er für mich ein sehr hochentwickelter Lehrer. Ich sehe ihn sehr gerne und finde, er hat eine tolle Ausstrahlung. Aber er kann nicht persönlicher Lehrer sein. Was er übrigens selber auch sagt! Ich habe mehrfach persönlich miterlebt, wie er gefragt wurde, ob er persönlicher Lehrer sein kann. Er hat es verneint. Ähnlich verhält es sich mit Thich Nhat Hanh, mit allen international tätigen und bekannten Lehrern. Sie können Hinweise geben und Wegweiser sein, aber für meine persönliche Entwicklung brauche ich tatsächlich das saftige, lebendige Spüren: Da ist ein Mensch mir gegenüber, und der spricht nicht abstrakt über die Wichtigkeit von Mitgefühl, sondern meint jetzt mich.

Wie lernt man, Lehrer zu sein? Wie wird man ausgebildet? Müssen daran höhere Ansprüche gestellt werden?

Da liegt meines Erachtens noch viel viel Entwicklungsbedarf. „Spiritueller Lehrer“ ist ein ungeschützter Begriff. Mein Arztberuf war kontrolliert. Da musste ich eine definierte Ausbildung durchlaufen, musste bestimmte Prüfungen bestehen und musste auch in späteren Berufsjahren immer wieder Qualitätsnachweise erbringen und nachweisen, dass ich das kann. Das alles nicht trifft nicht auf buddhistische Lehrerinnen und Lehrer zu. Als Dharmalehrer muss ich überhaupt nichts nachweisen. Ich kann machen was ich will, es wird mich keiner kontrollieren. Ich kann eine sektenartige Gemeinschaft aufbauen, und auch wenn einige darauf sicherlich mit Befremden reagieren, wird mir doch niemand die Lehrerlaubnis entziehen können. Wir brauchen für die Zukunft klarere Richtlinien, denke ich. Denkbar wäre eine Organisation, die ein Gütesiegel vergibt und beispielsweise festlegt, dass man, um sich im Sinne dieses Gütesiegels Dharmalehrer nennen zu können, Qualifikationen nachweisen muss, vielleicht indem man bestimmte Kurse, Aus- und Fortbildungen absolviert. Hier müsste dann die Psychologie unbedingt mit dazu gehören. Wenn die aktuelle Diskussion dazu führt, würde ich das sehr begrüßen. 

Warum sollen Zentren und Lehrer denn nicht zertifiziert werden? Vergleichen wir es noch einmal mit der Medizin: Wenn ich jemanden operiere, dann muss ich mit den Risiken und den potentiellen Gefahren der Operation vertraut sein, das heißt, wenn ich beispielsweise jemanden am Bauch operiere und dabei ein Gefäß verletze, dann muss ich auch in der Lage, das Gefäß wieder zu schließen. Ich kann nicht einfach sagen, ach, das ist aber jetzt dumm gelaufen und weggehen, denn dann stirbt mir meine Patientin oder mein Patient. Ich muss also mit den Komplikationen vertraut sein und wissen, wie ich damit umgehe. 

Ich habe Dharmalehrer erlebt, die sich mit den psychischen Komplikationen nicht auskannten, wie sie etwa in einem Retreat auftreten können. Wenn ein Teilnehmer über Schlaflosigkeit klagt, dann raten sie ihm, die Stunden in der Nacht zu weiteren Meditationen zu nutzen – und nach dem Retreat erfahre ich dann, dass der betreffende Mensch in eine Psychose geraten ist. Ich sage das immer am ersten Abend eines Retreats, das ich leite: Wenn ihr eine der kommenden Nächte weniger als drei Stunden schlaft, möchte ich das wissen. Wenn ihr zwei Nächte nicht schlafen könnt, dann muss ich das wissen. In einer solchen Situation zu sagen, „na, dann meditiere doch einfach“, das ist in etwa so, wie wenn ich ein blutendes Gefäß noch weiter öffne. Es ist ein fataler Fehler, resultierend aus Unkenntnis. Das heißt nicht, dass ein solcher Lehrer nicht tiefe Meditationserfahrung und Kenntnisse des Dharma hat, aber es fehlt ihm Erfahrung und Wissen im Umgang mit den Entgleisungs- und Komplikationsmöglichkeiten, die es eben auch gibt, wenn man falsch meditiert. Deshalb meine ich, es braucht ein Gütesiegel oder eine Qualitätskontrolle – und die haben wir nicht. 

Sie sagten vorhin, man könne im Buddhismus nicht unbesehen alle Lehr- und Praxisformen eins zu eins aus Asien hierher übertragen. Passt denn das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis überhaupt noch in die westliche Gegenwart?

Das frage ich mich tatsächlich auch immer wieder, insbesondere in Bezug auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis, wie es der tibetische Buddhismus vertritt: Wie zeitgemäß ist das und wie sehr passt es in unsere Kultur? Und wie könnte ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aussehen, das weder eine normale „Kumpelfreundschaft“ ist, auch mehr als eine spirituelle Freundschaft, aber die Fehltritte, von denen wir wir gerade sprachen, doch grundsätzlich ausschließt? 

Ich denke dabei an die Chancen einer hingebungsvollen, vertrauensvollen Beziehung, denn mich hat das Guru-Modell eigentlich immer angesprochen. Ayya Khema war für mich ein Guru im besten Sinne, und ich kann mich erinnern, dass ich später, nachdem ich sie eine Zeit lang kannte, keine Widerstände mehr hatte aufzustehen – im Gegenteil, es war für mich ein Bedürfnis: Wenn ich zu ihr in den Raum kam und wir waren allein, verneigte ich mich auf dem Boden vor ihr. Das hat mir gut getan, und wenn ich sie dann angeschaut habe, hat sie gestrahlt –  nicht weil sie sich geschmeichelt fühlte, sondern weil sie gemerkt hat, dass mein großes Ego doch ein bisschen kleiner geworden war. Ich habe mich sehr gerne hingegeben und wusste mich absolut aufgefangen und aufgehoben – und das habe ich später versucht weiterzugeben. 

Damit das gelingt, muss man natürlich selbst auch wirklich vertrauenswürdig sein. Darum habe ich mich immer wieder gefragt: Wie sehr kann ich denn die Bewusstheit, die es braucht, gewährleisten? Im Zuge dessen habe ich mich der Psychologie gegenüber, in der ich schon im Medizinstudium Kurse belegen musste, immer mehr geöffnet. Heute denke ich: Spirituelle Lehrer sollten auch einmal mindestens einen Psychologiekurs absolvieren. Was für mich auch sehr hilfreich ist: Ich lasse mich supervidieren von einer Psychotherapeutin, zu der ich regelmäßig gehe. Sie ist selbst auch spirituelle Lehrerin und hat viel Erfahrung. Wenn es zwischen mir und einem Menschen, der unser Zentrum besucht, zu Schwierigkeiten kommt, bespreche mit ihr, wie ich mit der Situation am besten umgehe. Denn ich möchte diesen Menschen ja nicht weghaben aus dem Zentrum, sondern möchte den Konflikt gerne auflösen, und das ist mitunter gar nicht so einfach. 

Dennoch frage ich mich in diesem Zusammenhang: Wie könnte ein gutes spirituelles Lehrer-Schüler-Verhältnis in zwanzig Jahren aussehen? Was braucht unsere Kultur, was brauchen die Menschen, die in unserer Kultur geprägt wurden, für eine menschliche Beziehung, um sich zu entwickeln? Auf diese Frage habe ich noch keine Antwort, sondern ich stelle erst einmal die Frage. In die Antworten, um es mit Rilke zu sagen, werden wir hineinwachsen müssen. 

Wilfried Reuter

Wilfried Reuter war Schüler von Ayya Khema und eng mit ihr verbunden, leitet seit 1997 Meditierende an und ist spiritueller Leiter des Lotos-Vihara-Meditationszentrums in Berlin. Er arbeitet als niedergelassener Frauenarzt, verfügt über langjährige Erfahrung in der Geburtshilfe und Sterbebegleitung und ist Autor mehrerer Bücher.

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