LANGFASSUNG | Es geht um ein friedliches, tolerantes Miteinander

Ein Interview mit Karsten Schmidt, Saber Ben Neticha geführt von Redaktion BUDDHISMUS aktuell veröffentlicht in der Ausgabe 2018/2 Freiheit unter der Rubrik Im Gespräch.

Ein Dialog zwischen dem Buddhismus und dem Islam findet, außer in größeren und übergreifenden interreligiösen Zusammenhängen, hierzulande bislang wenig statt. Das möchten wir ändern und beginnen mit dem folgenden Gespräch, in dem der Muslim Saber Ben Neticha und der Buddhist Karsten Schmidt, beide im Vorstand des Rates der Religionen Frankfurt am Main, das vielschichtige buddhistisch-islamische Verhältnis ausloten.

Karsten Schmidt und Saber Ben Neticha

Was sind Ihrer Ansicht nach die besonderen Herausforderungen und Stolpersteine eines islamisch-buddhistischen Dialogs und worin liegt für Sie der Reiz eines solchen Unterfangens?

Karsten Schmidt: Es fehlen zunächst die monotheistischen Gemeinsamkeiten. Obwohl muslimische Gelehrte wie z.B. al-Nadim im 8., Al-Biruni im 11. und Schahrastani und Raschid al-Din im 12.  Jahrhundert eine tendenziell durchaus positive Einschätzung vor allem der buddhistischen Ethik vermittelten, gelten Buddhisten im Islam traditionell häufig als Götzenanbeter oder Atheisten, genauso ist es aus traditionell christlicher Sicht. 

Umgekehrt ist die buddhistische Wahrnehmung von den Eroberungen zuerst arabischer Heere in Nordindien ab dem 7. Jahrhundert, später auch durch andere islamisierte Völker in Zentralasien geprägt, der Zerstörung von Klöstern und Vertreibung des dort vorherrschenden Buddhismus. Historisch muss man das allerdings differenzierter betrachten. In den eroberten islamischen Gebieten hatten Buddhisten meist die Wahl, zu konvertieren oder den Dhimmi-Status zu akzeptieren; als Dhimmis durften sie dann Klöster wiederaufbauen, mussten aber eine zusätzliche Steuer zahlen. Über Jahrhunderte gab es Verträge, wodurch Buddhisten mit der muslimischen Mehrheitsgesellschaft auch lange friedlich koexistierten, allerdings verbunden mit wirtschaftlichen Nachteilen und immer wieder Repressalien. 

Im Laufe der Zeit stieg der soziale Druck zur Konversion, was langfristig dazu führte, dass man die Klöster aufgab. In jüngerer Zeit kommen symbolträchtige Ereignisse wie die Zerstörung der Statuen von Bamiyan durch die Taliban hinzu. Die Herausforderung liegt darin, sich von historisch verfestigten Klischees über den anderen sowie der Verallgemeinerung von Negativbeispielen zu lösen, offener aufeinander zuzugehen, aber auch eine Gesprächssituation zu etablieren, in der sich Probleme ansprechen lassen.  

Saber Ben Neticha: In der Tat fehlen die monotheistischen Gemeinsamkeiten. Im Islam werden Juden und Christen als Leute der Schrift bezeichnet, in deren Zentrum Gott steht. Buddhisten werden im Islam nicht zu den Leuten der Schrift gezählt, wobei die Muslime in den Regionen, in denen es zu einem Kontakt kam, vor dem Problem standen, als was man Buddhisten ansehen sollte. So entwickelte sich die Meinung, dass man ihnen den gleichen Schutzstatus wie Juden und Christen gewähren solle. Die verbreitete Meinung Auffassung besagt, dass mit diesem Dhimmi-Status eine bestimmte Steuer verbunden war, die DschJizzya. Was mit dieser bezweckt wird und wer sie genau zu zahlen hat, darüber gibt es keine eindeutige Position, was auch durch die unterschiedlichen Anwendung in den Epochen der islamischen Geschichte deutlich wird. Darauf näher einzugehen würde hier aber den Rahmen sprengen. 

Es ist aber auch schwierig, von den geschichtlichen Ereignissen auf die Religion zu schließen. Der Islam breitete sich in der Tat relativ schnell aus. Aus unserer Perspektive konnte dies jedoch nicht ohne die freiwillige Annahme des Islam durch die jeweilige Bevölkerung geschehen, denn zahlenmäßig hätten die Muslime damals unmöglich ein so weit ausgedehntes Reich kontrollieren können. Diese Position wird auch gestützt durch die Tatsache, dass der Islam in Regionen Asiens und Afrikas existiert, in denen es niemals eine bewaffnete Konfrontation gegeben hat, und dass es in vielen muslimischen Regionen bis heute religiöse Minderheiten gibt. 
Trotzdem gab es definitiv in unterschiedlichen Zeiten auch Repressalien gegenüber Andersgläubigen und Minderheiten. Leider neigen aber viele Menschen dazu, die eigene Geschichte zu idealisieren, auch Muslime, obwohl der Prophet Muhammed selbst Kriegsverbrechen, die zu seiner Zeit von Anhängern begangen worden sind, verurteilt hat. Die Herausforderung liegt meiner Meinung nach daher auf beiden Seiten in der Differenzierung zwischen der religiösen reinen Lehre und den Handlungen der Menschen. Auch die Überwindung der Unkenntnis vieler Muslime und Buddhisten über die jeweils andere Religion scheint mir ein Hindernis zu sein. 

Das Schwerpunktthema dieser Ausgabe ist Freiheit/Befreiung. Was bedeutet Freiheit/Befreiung im Islam und im Buddhismus?

Saber Ben Neticha: Der Mensch ist aus islamischer Perspektive ein Geschöpf, das freiheitsliebend ist und daher nach Freiheit strebt. Doch von äußeren und inneren Einflüssen und Zwängen kann sich der Mensch nur schwer lösen. Um wirklich frei und unabhängig von diesen Einflüssen zu sein, ist aus unserer Sicht die Anerkennung Gottes und die damit einhergehende Ergebung und Hinwendung zu Gott nötig. Hierdurch kann der Mensch meines Erachtens die größtmögliche Freiheit und Unabhängigkeit erlangen. Die Flucht vor Zwängen und Ängsten kann nach islamischer Auffassung daher nur durch die Flucht zu Gott erfolgen, der das Zentrale unserer Religion darstellt.

Karsten Schmidt: In den buddhistischen Traditionen fehlt dieser Gottesbezug und ein dadurch vermitteltes Gefühl von Sicherheit, oder auch die Vorstellung einer jenseitigen Existenz, wo sich alle Wünsche erfüllen. Das Bestreben ist eher, sich von diesem Impuls zu lösen und Unsicherheit zu akzeptieren. 
Der zentrale Ausgangspunkt aller buddhistischen Lehren ist die Frage nach den Ursachen des Leidens und den Möglichkeiten ihrer Überwindung. Nach buddhistischer Einschätzung wird es nie gelingen, die äußeren Umstände zuverlässig den eigenen Wünschen anzupassen, auch die größte Anstrengung stößt irgendwann an die Grenzen einer letztlich unverfügbaren Welt, in der sich nichts festhalten lässt. Die eigentliche Leidursache erkennt man jedoch nicht in diesen äußeren Umständen, sondern einer unangemessenen Haltung ihnen gegenüber, die persönliches Glück über alles stellt und von bestimmten Umständen abhängig macht. Das Heilsziel besteht dann in einem unerschütterlichen, friedvollen Bewusstseinszustand, der befreit ist von zwanghafter Anhaftung an egozentrische Erwartungshaltungen. 
Um das zu erreichen, soll die Wirklichkeit als wechselhafter Erfahrungsstrom verstanden werden, ohne absolute Fixpunkte, die egozentrische Anhaftung rechtfertigen würden. Stattdessen betrachtet man alles, auch das Selbst, als einen dynamischen Prozess, der nur in Verbindung mit vielen anderen Dingen besteht. Zugleich betont vor allem das Mahayana, dass sich durch diese Einsicht eine egozentrische Haltung in eine altruistische wandelt, weil jeder Mensch nur verbunden mit anderen Menschen, anderen Wesen, einer Umwelt und so weiter, die Teil des Selbst sind, überhaupt existiert.  
Darüber hinaus verbinden die buddhistischen Lehren diese Überlegungen mit den in Indien schon vorher verbreiteten Vorstellungen von Wiedergeburt entsprechend moralischen Verhaltens und der zugrundeliegenden Motivation. Befreiung meint dann im Theravada das Ende leidhafter Existenzen im Wiedergeburtskreislauf, im Mahayana eher eine fortgesetzte befreite Existenz, die sich bemüht, auch anderen die Überwindung des Leidens in diesem Sinne zu ermöglichen. 

Freiheit hat eine innere und eine äußere, gesellschaftliche Dimension. In Religionen wird ja meist vor allem die innere betont. Wie sehen Sie die Beziehung zwischen diesen beiden Dimensionen? 

Saber Ben Neticha: Ich denke, dass die äußere sich aus der inneren speist. Die Ergebung und Hinwendung zu Gott, der allmächtig ist, führt zu einem enorm starken Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, auch im gesellschaftlichen Miteinander. Dies ist auch eine sehr gute Voraussetzung, um ganz entspannt und mit einem Grundvertrauen auf andere Menschen zuzugehen und sich ihnen zu öffnen. Beide Dimensionen sind insofern nicht voneinander zu trennen. 

Karsten Schmidt: Am Anfang steht die Arbeit am eigenen Geist. Den Mönchen und Nonnen des frühen Buddhismus ging es nicht um eine unmittelbare Veränderung der Gesellschaft. Schon in Indien, später im ganzen buddhistischen Verbreitungsgebiet wurde der Buddhismus dann aber zunehmend zu einem gesellschaftlichen Faktor. Durch herrschaftliche Förderung hatten die Klöster Besitz und Einfluss, und Könige wie Ashoka im 3. Jahrhundert v. Chr. und Kanischka I. im 1. Jahrhundert n. Chr. bekannten sich zum Buddhismus, blieben aber auch Realpolitiker. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit einer direkten politischen Anwendung buddhistischer Lehren. Das älteste Beispiel sind die in Ashokas Reich verteilten Steininschriften, auf denen er zum Beispiel versprach, Gefangene gütig zu behandeln, und seine Untertanen unter anderem aufforderte, keinen Lebewesen zu schaden, Krankenhäuser für Menschen und Tiere einzurichten sowie alle religiösen Traditionen im Land kennenzulernen und zu respektieren. 

Grundsätzlich gehen alle buddhistischen Traditionen davon aus, dass die innere Haltung dem angemessenen Handeln in der Welt vorausgehen muss. Entsprechend konzentrieren sich traditionelle Texte dann darauf, was die richtigen charakterlichen Eigenschaften der Herrschenden sein sollten, akzeptieren aber weitgehend die gegebenen politischen Strukturen. Auch wenn Religion und Politik im Buddhismus, wie zum Beispiel bei den Dalai Lamas, eng verbunden sein kann, ist die jeweilige Regierungsform nicht göttlich und ewig vorgeschrieben. Sie müsste dann im Prinzip auch leichter verändert werden können, wenn das effektiver zum Wohl der Gesellschaft beitrüge. 

Saber Ben Neticha: Da könnte ich vieles sofort unterschreiben. Es gibt kein bestimmtes System, keine bestimmte Ordnung, sondern es geht um das rechtschaffene Handeln der Menschen. Was zum Wohle der Gesellschaft, der Tiere, also der Umwelt im Allgemeinen beiträgt, ist lobenswert. Dies verdeutlicht ganz gut die vielen Parallelen, die zwischen den Religionen zu finden sind. 

Beide Religionen sind ja sehr patriarchal geprägt, da sie sich in patriarchalen Gesellschaften entwickelt haben. Das bedeutet unter anderem, dass Frauen nicht die gleichen Freiheiten wie Männern zugestanden werden. Wie sollte ein „westlicher Islam“, ein „westlicher Buddhismus“ mit diesem Erbe umgehen? 

Karsten Schmidt: Darin spiegeln sich offensichtlich die Strukturen der jeweiligen traditionellen Gesellschaften. In den verschiedenen buddhistischen Richtungen gibt es unterschiedliche Aussagen über die Möglichkeit von Frauen, das Nirvana oder die Buddhaschaft zu erreichen, darunter auch eindeutig affirmative wie in der Therigatha oder im Lotos-Sutra. In den Ordensregeln sind Nonnen schlechter gestellt, und es gibt in den historisch gewachsenen Autoritätsstrukturen, wie leider fast überall, Widerstände gegen die Gleichberechtigung von Nonnen gegenüber den Mönchen. Am Ende sind es meist alte Männer, die auf den hohen Posten sitzen und da auch bleiben wollen. Der XIV. Dalai Lama zum Beispiel hat in seinem Einflussbereich einiges zum Besseren bewirkt, aber es reicht nicht. Ich glaube, westliche Nonnen, die eher als asiatische eine feministische Perspektive einbringen, hatten hier in den letzten Jahrzehnten schon wichtigen Einfluss. 
Anders ist es aber bei den Frauen in buddhistisch geprägten Kulturen außerhalb der Orden. Abgesehen von allgemeinen ethischen Richtlinien gibt es hier keine im engen Sinne buddhistischen Vorschriften, was etwa die Kleidung oderÄhnliches betrifft. Die vorbuddhistischen Verhältnisse setzen sich überwiegend fort. 
Innerhalb eines tatsächlich westlichen Buddhismus, das heißt mit eigenen Organisationsstrukturen, sollte eine Gleichberechtigung selbstverständlich sein. Etwas schwieriger ist es innerhalb der traditionellen Ordensstrukturen in den Theravada-Ländern oder den tibetischen Traditionen. Vor allem müssten zunächst die Möglichkeiten der Vollordination von Nonnen umfänglich genutzt und von den asiatischen Autoritäten akzeptiert werden sowie eine völlige Gleichstellung in der Ausbildung erreicht werden. Auf eine stärkere Präsenz von Frauen in den traditionellen Autoritätsstrukturen kann man nur durch Argumente undÜberzeugungsarbeit hinwirken. 

Saber Ben Neticha: Die Basis für ein korrektes Islamverständnis bilden allein die Quellenschriften. Die patriarchalischen Gesellschaften, die Sie erwähnt haben, gibt es in der Tat und sie sind ein Übel. Menschen, die in patriarchalischen Gesellschaften leben und von diesen geprägt sind, neigen dazu, ihre Einstellungen in die Quellenschriften hineinzuinterpretieren. Sie färben somit ihr Islamverständnis in der Farbe, die sie begehren. Doch das ändert nichts daran, dass es islamrechtlich abzulehnen ist, die Schriften nicht objektiv und neutral zu lesen. Aufgrund dessen wäre es nicht richtig, den Islam als patriarchalisch zu definieren, jedoch sehr wohl viele der „islamischen“ Länder. 

Es hat, Gott sein Dank, auch hier viele positive Beispiele gegeben, auch aus der Frühzeit des Islam, in denen Frauen eine herausragende Stellung in der Gesellschaft, der Politik und der Bildung innehatten und auch sehr respektiert wurden. Spontan kann ich hier als Beispiel Fatima al-Fihri nennen, die Mitte des 9. Jahrhunderts europäischer Zeitrechnung die erste Universität der Welt gründete, die Universität al-Qarawiyin in Marokko. Der 1964 geborene und in Großbritannien lebende indische Gelehrte Akram Nadwi hat über die weiblichen Gelehrten in der islamischen Geschichte geforscht. Das Ergebnis war ein Werk, wenn ich mich richtig entsinne, aus über 15 Bänden. Gedruckt und publiziert wurde dann als Buch jedoch nur die ausführliche Einleitung davon, Al-Muhaddithat nannte er es. All das ändert aber nichts daran, dass die Stellung der Frau in vielen islamischen Ländern heute sehr schlecht, in manchen gar katastrophal ist. Da gibtÕs nichts schönzureden. Hier müssen die gelebten patriarchalischen Traditionen, die man dann leider noch oft religiös zu legitimieren versucht, sehr kritisch hinterfragt werden. 
Ein westlicher, aber auch jeder andere Islam, muss sich von jeglichen dem Islam zuwiderlaufenden Traditionen lösen und ausschließlich den Inhalt der Quellenschriften berücksichtigen. Die jeweiligen Lebensrealitäten und der Kontext müssen ebenfalls berücksichtigt werden. Dies darf aber selbstverständlich nicht dazu führen, dass klare und im Inhalt eindeutige Aussagen der Quellentexte nach den eigenen Neigungen willkürlich abgelehnt oder abgeändert werden. 

Was sehen Sie jeweils als die „ethischen Hauptgebote“ Ihrer Religion an, und wo treffen und wo unterscheiden sich Islam und Buddhismus? 

Saber Ben Neticha: Die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit. Das sind zwei Grundsäulen der Gebote, unter denen eine Reihe weiterer eingeordnet werden können, zum Beispiel die Ehrlichkeit, die Hilfsbereitschaft und die Nachsichtigkeit. Es sind Werte, die Gott festgelegt hat, die also von keinem Menschen der Welt angetastet werden dürfen und dadurch aus islamischer Sicht auch die höchstmögliche Legitimation haben. 
Die Verhaltensvorgaben, die der Islam den Menschen macht und die stark durch die ethischen Gebote geprägt sind, haben das Ziel, den Menschen, die Schöpfung und die Gesellschaft vor jeglichem Schaden an ihrem Glauben, ihrem Leib, ihrem Hab und Gut zu schützen. Inwieweit sich das vom Buddhismus unterscheidet, kann ich leider nicht sagen. 

Karsten Schmidt: Grundsätzlich gilt ethisches Verhalten im Buddhismus als wesentliche Voraussetzung für das eigene Heil, weil es dabei ja um dieÜberwindung egozentrischer Anhaftungen geht. Für Ordinierte und Laien gibt es zunächst fünf Grundsätze, die besagen, keinen Wesen zu schaden, nichts zu nehmen, was einem nicht gegeben wurde, sexuelles Fehlverhalten zu vermeiden, nicht zu lügen und keine berauschenden Mittel zu sich zu nehmen, weil sie den Geist und damit zum Beispiel das Urteilsvermögen trüben. Das sind aber keine göttlichen Gebote, sondern, abgesehen von ihrer Heilsrelevanz, werden sie eher verstanden als sinnvolle pragmatische Richtlinien, nach denen jeder selbst behandelt werden möchte beziehungsweise die als Minimalbedingungen für ein harmonisches Miteinander gelten können. Für Ordinierte gibt es dann weitere spezielle Regeln. 

Für Laien, das heißt die Gesellschaft insgesamt, formulieren die normativen Lehren über diese Grundsätze hinaus wenig Vorschriften, wodurch die jeweiligen lokalen Lebensformen sehr unterschiedlich aussehen. Das für das Verhalten insgesamt Wesentliche wird oft auch mit dem Begriff ahimsa, „nicht verletzen„, benannt. Solche Grundsätze gibt es im Islam natürlich auch, allerdings gehen dort die Vorgaben für alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens sehr viel weiter und haben eine göttliche Autorität, was mir das Spektrum der Auslegungen oder Veränderungen stärker zu begrenzen scheint. 

Saber Ben Neticha: Auch das kann ich bestätigen. Es gibt im Islam Aussagen in den Quellentexten, die eindeutig sind, also keinen Spielraum für Auslegungen zulassen. Das betrifft in der Regel die Beziehung des Menschen zu Gott, also die gottesdienstlichen Handlungen, aber auch große Bereiche des Familienrechts. Erklärt wird es damit, dass diese Bereiche des Menschen sich nicht ändern, immer gleich bleiben, zu allen Zeiten. Die von Karsten erwähnten 5 Grundsätze im Buddhismus kann man als Muslim mit gutem Gewissen hier zuordnen. 

Karsten Schmidt: Unterschiedliche Tendenzen der Ethik gibt es, denke ich, im Verhältnis zu anderen Religionen oder religiöser Vielfalt überhaupt. Von monotheistischer Seite insgesamt sehe ich da eine größere Ablehnung. In einem Aufsatz über das Christentum und die nichtchristlichen Religionen hat der katholische Theologe Karl Rahner es selbstkritisch so ausgedrückt, dass die bleibende Existenz anderer Religionen das „größte Ärgernis“ und die „größte Anfechtung“ sei. Im Christentum und Islam verlangt Gott, das jeder an ihn glaubt; wer das nicht tut oder nicht in der jeweils gebotenen Weise, beleidigt ihn dadurch im Grunde und damit auch die Gläubigen. Atheismus steht in vielen muslimischen Ländern bis heute unter Strafe, und im nachkolonialen Staat Indonesien dauerte es Jahrzehnte, bis die Buddhisten offiziell akzeptiert wurden – nur dadurch, dass sie den „Adi“, das heißt den „Ur“-Buddha, als Gott präsentierten, was dem buddhistischen Verständnis aber überhaupt nicht entspricht. 
Auch auf buddhistischer Seite geht man davon aus, dass der eigene Weg der beste oder sogar der einzige Weg zum wirklichen Heil ist. Durch andere Wege fühlt man sich aber weniger infrage gestellt und interessiert sich nicht weiter dafür, ob oder was andere glauben, solange sich daraus keine negativen praktischen Konsequenzen ergeben. 

Wie gehen Sie persönlich damit um, dass von Buddhisten und Muslimen Gewalt ausgeübt wird, oftmals sogar im Namen Ihrer jeweiligen Religion? 

Saber Ben Neticha: Das ist traurig, da besonders in der heutigen Zeit, in der gegenwärtigen Gesellschaft, Religion oft negativ gesehen wird. Wichtig ist, dass sich religiöse Menschen vorbildlich verhalten und ihrer Verantwortung der Gesellschaft gegenüber bewusst sind. Aber man würde die Natur des Menschen verkennen, wenn man erwartet, dass religiöse Menschen wie Engel sein sollten. Dies ist nicht der Fall, und so wird es wohl auch niemals sein. 

Das rechtfertigt natürlich trotzdem in keiner Weise Gewalt und anderweitige Verbrechen. Perfide wird es aber, wenn Religion auch noch für Gewaltanwendung instrumentalisiert wird, wie es gerade die barbarische Verbrecherbande des IS macht. 

Umso wichtiger ist es, denke ich, dass die Mehrheit der religiösen Menschen, aber vor allem deren Vertreter, durch ihr Verhalten und ihr Engagement deutlich machen, dass es nur das Ziel eines friedlichen toleranten Miteinanders geben darf und kann. 

Karsten Schmidt: Mit Blick auf die Verbrechen, die in Myanmar an den muslimischen Rohingya begangen werden, müssen sich heute auch Buddhisten sehr unangenehme Fragen gefallen lassen. Am hilfreichsten wäre es, sich dem offen zu stellen, um zu schauen, was man dagegen tun kann. In der islamisch-buddhistischen Begegnung, oder jeder anderen, ist das nicht einfach. Der erste Impuls ist oft eine defensive und abwehrende Haltung. Es braucht eine Vertrauensbasis, um ehrlich, wenn nötig auch kontrovers, Probleme wechselseitig wahrzunehmen, anzusprechen und nach Verbesserung zu streben. 

Eine pauschale Ablehnung des Islam, wie es sie manchmal von buddhistischer Seite, leider vereinzelt auch bei westlichen buddhistischen Gruppen, gibt, ist sachlich unangebracht und sehr schädlich. Vor allem verdeckt sie die Vielfalt der bestehenden Auslegungen traditioneller Lehren, unterdrückt das bestehende Potenzial, positive Ansätze zu verstärken, und reduziert die konkreten Menschen auf undifferenzierte vermeintliche Gruppenmerkmale, was einer rassistischen Haltung entspricht. Stattdessen gilt es, einen Dialog zu etablieren, in dem man respektvoll, aber auch kritisch miteinander umgehen kann.

Karsten Schmidt

Karsten Schmidt, Studium der Religionswissenschaft, Philosophie und Soziologie. Seit 2007 lehrt er im Studiengang Vergleichende Religionswissenschaft an der Goethe-Uni Frankfurt mit Schwerpunkt Indien/Asien. Seminare, Vorträge und Veröffentlichungen zu Themen u.a. im Bereich Buddhismus, Problemem westlicher Buddhismusinterpretation, interreligiösem Dialog und interkulturellem Verstehen.

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Saber Ben Neticha

Saber Ben Neticha ist gebürtiger Frankfurter und Sohn tunesischer Einwanderer. Er studierte Arabisch und Islamische Theologie in Ägypten und Syrien, machte den Bachelor in Frankreich und den Master in England. In der islamischen Vereinsarbeit und dem interreligiösen Dialog ist er seit 2000 aktiv. Derzeit ist er im Vorstand des Rates der Religionen in Frankfurt am Main.

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