Keine Panik, ich bin da

Ein Beitrag von Lily Besilly veröffentlicht in der Ausgabe 2019/4 Mut unter der Rubrik Mut.

„Als Kind hatte ich kaum Angst. Um vom Dreimeterbrett ins Becken zu springen, reichte die Entscheidung. Nach oben klettern, ein schräger Blick nach unten, ob das Becken leer ist, dann einfach weiterlaufen. Die Angst oben war da, aber ich habe sie einfach ignoriert und bin gesprungen.“ – Lily Besilly über den Wert von Angst und Mut in schwierigen Zeiten.

Als ich ein Kind war, konnte mich auch die Angst vor Strafe nicht beeindrucken, zumindest nicht davon abhalten, alles Mögliche anzustellen. Vielleicht einfach eine Frage von Energie gepaart mit einer guten Portion Ignoranz. Erst später, als Erwachsene, erlebte ich: Angst. Vor ganz unterschiedlichen Dingen und Situationen. Es gab auch mal eine anlassfreie Panikattacke, die der Auftakt zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Psychotherapie wurde.

Meine erste Reaktion auf Angst ist meist eine psychologische: Was ist die Ursache der Angst? Biografieforschung und die Einsicht in Zusammenhänge sollen mir Hebel und Ansatzpunkte geben, um die Angst loszuwerden; die neuere Psychologie bietet reiche Möglichkeiten.

Auch der tibetische Buddhismus kennt vielfältige Methoden, die mir immer wieder ruhige Zuversicht vermitteln. Welche Belastungen auch immer ich entdecke – es gibt Methoden, sie aufzulösen, die in ihrer Effektivität auch neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen standhalten. Niederwerfungen lösen körperliche Verspannungen und bringen eine ruhige Welle des Nachgebens und Sichaufrichtens in Körper und Geist. Mantrasingen entspannt und verändert den gesamten Körper und so auch das Denken. Insbesondere das Mantra der Grünen Tara löst Furcht auf und öffnet Furchtlosigkeit. Die komplexe Praxis der Grünen Tara begleitet mich seit Jahren erfolgreich aus den Bereichen von Schuld, Furcht und Angst. Mit der Tonglen-Methode atme ich die Angst ein und beim Ausatmen schenke ich alles Gute her. So verliert die Angst ihren Schrecken und der Mut wird mit jedem großzügigen Ausatmen gestärkt. Während der Sitzmeditation erscheinen Gedanken und Gefühle, verschwinden wie von Zauberhand und lassen mich entspannt und froh auf dem Kissen sitzen. Am direktesten wirkt für mich die formlose Meditation: Im weiten Raum des Gewahrseins erscheinen alle Symptome der Angst friedlich und leuchtend neben Vogelgesang, Blätterrauschen, Fliegengebrumm und Motorenlärm, Gefühlen von Leichtigkeit und Schwere und vielen Gedanken. So nehme ich Angst als ein Teil von all dem wahr, was in diesem lebendigen Moment der Jetztheit erscheint.

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Auf der Flucht

Aber irgendwann stehe ich wieder auf. Vom Kissen, aus der Meditation – und mein Alltagsdenken schnappt zurück, groovt sich wieder ein und da ist wieder: Angst. Kommt immer wieder – und immer wieder will ich sie nicht. Nutze alle Techniken, sie aufzulösen, doch die Angst wird wie ein schlüpfriger Fisch. Kaum habe ich sie an einer Stelle aufgelöst, kehrt sie an einer anderen zurück. Ist dieses Suchen nach Möglichkeiten, die Angst aufzulösen oder ihr zu entgehen, vielleicht nur eine Ablenkung? Wovon? Es gab doch diese ganze Aufräumerei noch nicht, als ich ein Kind war. Ich weiß, dass es mir nicht allein so geht. Angst orchestriert so viele unserer Entscheidungen. Immer wieder haben wir Angst vor unangenehmen Gefühlen, vor schlechter Kritik, vor dem Verlust von Einfluss, Ansehen und Bequemlichkeiten. Zudem ist die Angst eine hervorragende Verwandlungskünstlerin. „Ich bin viel zu müde, um jetzt etwas zu sagen oder zu tun“, flüstert sie mir zu, wenn nachts im Schienenersatzverkehr ein betrunkener Mann rassistische Sprüche in Richtung einiger Mitreisender grölt. „Ich habe leider gerade gar keine Zeit“, erklärt sie, wenn ich sehe, wie vier kräftige Polizisten drei Jugendliche mit Migrationshintergrund stoppen, während hunderte Passantinnen und Passanten vorbeihasten. Gut verkleidet nimmt mich die Angst so häufig aus schwierigen Situationen heraus: „Ich kann nicht, ich muss auf mich selbst achtgeben, ich bin nicht die richtige Person, ich bin lieber nicht da.“ So oft steht heimlich das eigene Wohlbefinden im Mittelpunkt.

„Braucht es Angst?“

Wenn ich Angst und Panik nicht wegschiebe, sondern sie ernstnehme und reflektiere, wird mir klar, welch gute Ratgeber sie auch sein können. „I want you to panic“, sagt Greta Thunberg vor der UN-Versammlung im Januar 2019. „I want you to act as if the house was on fire – because it is.“

Es macht ja keinen Sinn, im Wohnzimmer hocken zu bleiben und erst einmal die Angst zu behandeln, wenn das Haus brennt. Im Umgang mit großen Herausforderungen kann Angst ein starker Motor für sinnvolles Handeln sein. Angst kann Mut wecken, wenn wir sie anerkennen. Mut gegenüber den gefühllosen, egoistischen Entscheidungen, die wir immer wieder fällen, indem wir kurz nicht hinschauen. Mut, um gegen die Normalisierung von Gier und Egoismus aufzustehen, die unsere gemeinsame Welt zerstören. Eine Gesellschaft, in der es möglich ist, dass Menschen vor Gericht stehen, weil sie andere Menschen vor dem Ertrinken retten, braucht laute Stimmen, braucht Mut, auch für Aktionen des zivilen Ungehorsams. Solch ein Mut führt uns zweifellos in unbequeme Situationen. Dann braucht es neuen Mut, um die unangenehmen Folgen unseres aktiven Mitgefühls zu meistern und anzunehmen.

Bei alldem kann die buddhistische Praxis uns helfen. Sie kann uns aufwachen lassen – auch um zu sehen, dass unser Haus brennt. Sie kann uns Mut machen, gegen den Strom zu schwimmen und unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Alle buddhistischen Übungen, mit denen ich mich länger beschäftigt habe, stärken das Gefühl, verbunden und in Sicherheit zu sein. Das befähigt uns, das bequeme eigene Nest zu verlassen, auch wenn die Playlist von Angst und Mut den Raum erfüllt, ohne uns künstlich zu stärken, indem wir in ein Freund-Feind-Denken fallen. Das kapitalistische Patriarchat ist kein leichter oder harmloser Gegner. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht in dieselben Kategorien von Gegnerschaft und Kampf verfallen, die diese Systeme beherrschen. Es braucht Mut, gewaltfreien Widerstand zu leisten, wenn andere dagegen gewaltsam vorgehen. Gemeinsam mit der Psychologie kann uns die buddhistische Praxis helfen, alte Wunden zu lindern und zu heilen, die uns bislang noch daran hindern, aktiv und kreativ auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen einzugehen. Sie lässt Mitgefühl in uns wachsen, sodass wir handeln und dabei nicht verhärten, sondern offen bleiben für alle Wesen.

Lily Besilly

Lily Besilly ist Meditationslehrerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. 1988 begegnete sie dem Buddhismus und wurde 2008 von Sylvia Wetzel zur Meditationslehrerin autorisiert. Themen ihrer Vorträge und Retreats: Grüne Tara, Umgang mit schwierigen Gefühlen, Grundlagen der buddhistischen Praxis. Einmal im Jahr leitet sie ein Retreat im ehemaligen Konzentrationslager für Frauen, Ravensbrück.

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