Kann der Buddhismus… die Wirtschaft heilen und unseren Planeten retten?
Könnte es sein, dass wir uns an neoliberale Grundsätze nicht deswegen halten, weil sie gut für uns sind, sondern weil sie uns zu Süchtigen gemacht haben? Der Arzt und buddhistische Philosoph Michael Vermeulen analysiert die gegenwärtige Ökonomie aus einer buddhistischen Perspektive des Mitgefühls.
Wir wissen, dass wir am Rande der Selbstzerstörung stehen: Da ist die massive Umweltverschmutzung, die inzwischen sogar unsere Nahrung und unsere Körper erreicht hat. Da ist die möglicherweise unumkehrbare Erwärmung des Klimas. Schon jetzt könnte zu spät sein, das sechste massenhafte Artensterben noch aufzuhalten. Unsere Gesellschaften weisen zudem die größte Kluft zwischen Arm und Reich auf, die es in der Geschichte der Menschheit je gegeben hat. Ironischerweise brauchte es eine Pandemie, um uns zu einer Verlangsamung dieses Wahnsinns zu zwingen. Sie gibt uns aber auch die Möglichkeit eines Neuanfangs. Ob das gelingen wird, hängt nicht nur von UN-Klimakonferenzen und guten Absichten ab. Wir müssen begreifen, wie wir überhaupt in dieses Chaos geraten konnten.
Obwohl die massiven Schäden an unserer Gesellschaft und unserem Planeten offensichtlich viele Ursachen haben, ist einer der Hauptverursacher der Neoliberalismus. Seit der Ölkrise der 1970er-Jahre präsentierte sich diese Ideologie erfolgreich als die einzig mögliche Art und Weise, eine Gesellschaft zu organisieren. Ein einfacher Blick in die Geschichte zeigt, dass dies absurd ist. Jetzt brauchen wir neue Ideen und ein neues Vokabular, um anders zu denken und zu handeln – und der Buddhismus hat das Potenzial, etwas Wesentliches zu dieser großen Aufgabe beizutragen.
Neoliberale Freiheit
Der Neoliberalismus bezieht sich auf die ökonomischen Theorien der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August (von) Hayek und Milton Friedman sowie auf die ökonomische Denkrichtung, die als Chicagoer Schule bekannt ist. Aufgrund eines österreichischen Gesetzes von 1919 verlor die Hayek-Familie ihren Adelstitel. Dieser Umstand verbitterte Friedrich Hayek gegenüber der Demokratie und dem Eingriffsrecht des Staates. Von dieser nostalgischen Sehnsucht nach den aristokratischen Privilegien aus den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg waren seine Ideen stark geprägt.
Obwohl die Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit und der progressiven Besteuerung nach dem Zweiten Weltkrieg zu drei Jahrzehnten Wohlstand – mit einer relativ schmalen Kluft zwischen Arm und Reich – geführt hatten, lehnen Neoliberale diese Grundsätze entschieden ab. Ihre Ablehnung fußt nicht auf Tatsachen, sondern auf Dogmen: Sie sehen darin einen Angriff auf die Freiheit. Allerdings haben die Neoliberalen den Begriff der Freiheit neu definiert: als das bedingungslose und uneingeschränkte Recht jedes Einzelnen, so viel Gewinn wie möglich zu erzielen. Diese enge und ziemlich eigenartige Definition war ein Frontalangriff auf die berühmte „Vier-Freiheiten-Rede“ des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt von 1941 (Meinungs- und Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Not und Angst) und auch auf die Art und Weise, wie Freiheit in internationalen Menschenrechtserklärungen und -verträgen nach dem Zweiten Weltkrieg definiert worden war.
Die neoliberale Weltanschauung betrachtet die Wirtschaft als ein unabhängiges Reich mit eigenen universellen Naturgesetzen, die frei von politischen Einflüssen oder moralischen Erwägungen gelten. Diese Sicht entspricht einem alten Bestreben innerhalb des ökonomischen Denkens: Vor 150 Jahren waren frühe westliche Ökonomen sehr beeindruckt von den Erfolgen Isaac Newtons in der Physik. Seitdem suchten viele von ihnen nach Wirtschaftsgesetzen, die eine ebenso grundlegende Bedeutung beanspruchen konnten wie die drei Newtonschen Gesetze der Bewegung.
Doch tatsächlich hat sich der Neoliberalismus als eine Ideologie erwiesen, die sektiererischem Denken ähnlicher ist als der Wissenschaft, insbesondere in ihrem Unwillen, ein Kernprinzip der Wissenschaft zu erfüllen: die Falsifizierbarkeit (Erkenntnisse müssen, um als wissenschaftlich gelten zu können, im Prinzip widerlegbar sein, d.h. es muss möglich sein, anhand von neuen Fakten zu zeigen, dass sie mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, die Red.). Wie wissenschaftsfern der Neoliberalismus denkt, zeigt sich beispielsweise darin, wie hartnäckig er jede mögliche ökonomische Alternative ablehnt. TINA – „There Is No Alternative“, es gibt keine Alternative – wurde dabei zu einem geflügelten Wort. Dazu passt, dass sich die Anhängerinnen und Anhänger dieser Ideologie weigern, jegliche Verantwortung für die katastrophalen Folgen ihrer Politik zu übernehmen. Noch deutlicher zeigt sich das sektiererische Denken in der Paranoia gegenüber allen, die einen anderen Weg in der Ökonomie vorschlagen – sie werden als Kommunisten dämonisiert, deren Ziel es sei, jede Freiheit zu ersticken und totalitäre Regierungen zu installieren.
Buddhistische Freiheit
Die buddhistische Weltanschauung ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil des Neoliberalismus. Aber bedeutet das auch, dass uns der Buddhismus etwas über eine faire Gesellschaft oder sogar Wirtschaft lehren kann? Es mag zunächst seltsam erscheinen, im Buddhismus eine Inspiration zu diesen Themen zu suchen. Viele Menschen glauben, es gehe im Buddhismus um individuelle Erlösung, nicht um faire Steuern, soziale Gerechtigkeit oder ökologisches Wohlergehen. Kernkonzepte der buddhistischen Spiritualität wie gegenseitige Abhängigkeit und anatman (Nichtselbst, genauer: kein unabhängiges Selbst) machen jedoch deutlich, dass persönliches Erwachen weder getrennt von der Gesellschaft erlangt werden noch gleichgültig gegenüber ihrem Schicksal sowie dem anderer fühlender Wesen und der Umwelt bleiben kann. Das Vorurteil, der Buddhismus interessiere sich dafür nicht, ist schon historisch unfair: Die Bekehrung von Kaiser Ashoka zum Buddhismus im Jahr 264 v. Chr. führte zu radikalen politischen Veränderungen. Er ordnete den Bau von Krankenhäusern an (nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, was es im Westen erst im späten 18. Jahrhundert gab), schuf öffentliche Parks, pflanzte neue Bäume und stellte sicher, dass Frauen Zugang zu Bildung und Dörfer Trinkwasserbrunnen erhielten.
Freiheit bezieht sich im Buddhismus auf die Freiheit von dukkha (Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit). Während der Buddhismus die Bindung an Profit, Konsum und materiellen Reichtum als Hauptquellen von Dukkhaidentifiziert und meint, dass sie uns versklaven, behauptet der Neoliberalismus, sie seien die Lösungen, die uns frei und glücklich machten. Tatsächlich fördert eine konsumorientierte Wirtschaft die Unzufriedenheit sogar, damit mehr Produkte gekauft und produziert werden können. Eine buddhistische Wirtschaft fördert Zufriedenheit und Beständigkeit und lehnt Produkte, die unnötig und endlos in neuer Form auf den Markt kommen, ab. „Für den modernen Ökonomen ist dies sehr schwer zu verstehen. Er ist es gewohnt, den ‚Lebensstandard‘ an der Höhe des jährlichen Verbrauchs zu messen, wobei er immer davon ausgeht, dass ein Mensch, der mehr konsumiert, ‚besser dran‘ sei als ein Mensch, der weniger konsumiert. Ein buddhistischer Ökonom würde diesen Ansatz als übermäßig irrational betrachten: Da Konsum lediglich ein Mittel zum Wohlbefinden des Menschen ist, sollte das Ziel darin bestehen, ein Maximum an Wohlbefinden bei einem Minimum an Konsum zu erreichen.“ (Ernst Friedrich Schumacher: „Small is Beautiful“, 1973)
Die gegensätzlichen Ansichten ergeben sich aus den unterschiedlichen Perspektiven auf die Frage, was es bedeutet, Mensch zu sein: Für den Buddhismus sind wir voneinander abhängigeLebewesen auf der Suche nach Glück. Abhängigkeit voneinander bedeutet, dass alles, was wir tun, Auswirkungen auf andere und die Umwelt hat (und umgekehrt). Wenn wir die Abhängigkeit voneinander als Kernprinzip unserer Wirtschaft verwenden, können wir eine Wirtschaft schaffen, in deren Mittelpunkt das Gedeihen des Menschen steht. Eine Wirtschaft, in der wir niemanden zurücklassen, in der die Würde aller wirtschaftlichen Akteure gewahrt bleibt und nicht nur die Würde einiger weniger Glücklicher. Für den Neoliberalismus sind wir unabhängige Verbraucherinnen und Verbraucher im Wettbewerb um die gleichen Ressourcen. Jegliche sozialen, moralischen oder ökologischen Einschränkungen bedrohen diese Unabhängigkeit. Mit dem Wettbewerb im Zentrum wird die Wirtschaft zu einer riesigen Lotterie mit einem glücklichen Ausgang für eine kleine Elite. Menschen zurückzulassen, ist dann kein Nebeneffekt, sondern die Essenz. Die Würde der wirtschaftlichen Akteure ist nicht von Bedeutung, sondern es zählen ausschließlich materieller Reichtum und Macht.
Um es simpel auszudrücken: Für den Buddhismus sind die anderen das Ziel, für den Neoliberalismus sind sie das Problem.
Goldrausch
Eine grundlegende Frage ist: Warum folgen wir der neoliberalen Ideologie trotz ihrer katastrophalen Auswirkungen immer weiter? Vier Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaft haben eine kleine Elite von Superreichen hervorgebracht, während das Durchschnittseinkommen der normalen Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger gleich geblieben ist. In Jahren der Sparpolitik mussten sie allerdings immer härter arbeiten und erhielten dafür immer weniger als Gegenleistung: Die Leistungen des Gesundheitssystems sanken, das Renteneintrittsalter stieg, von der Verschmutzung und Zerstörung der Ökosysteme gar nicht zu reden. Die Logik würde verlangen, dass wir aufhören und den Kurs ändern, aber die Politik schwört immer noch auf das neoliberale Mantra: „Es gibt keine Alternative – wir müssen uns nur stärker in derselben Richtung bemühen.“
Wenn wir einen Schritt zurücktreten, sieht ein neoliberaler Mensch eher aus wie jemand, den der Goldrausch gepackt hat – er gräbt so besessen und wahnhaft nach Gold, dass er seine Beziehungen, seine Umwelt und seine Zukunft vernachlässigt. Oder er sieht aus wie ein Junkie, der in diesem Fall nicht drogen- sondern profitabhängig ist. Wenn man jeden anderen Menschen als Konkurrenten oder potenzielles Hindernis betrachtet, bringt dies eine fragmentierte, unverbundene Gesellschaft hervor und erzeugt ein immer stärkeres Gefühl der Isolation und psychische Erkrankungen. Der Zustand unserer Wirtschaft und unserer sozialen Beziehungen – symbolisiert durch Wall Street und Facebook – ist eher von Sucht gekennzeichnet als von rationalem Verhalten. Könnte es also sein, dass wir uns an neoliberale Grundsätze nicht deswegen halten, weil sie gut für uns sind, sondern weil sie uns zu Süchtigen gemacht haben?
Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag, den Michael Vermeulen auf der Eröffnungssitzung der UN-Vesak-Konferenz 2018 in Bangkok hielt.
ENDE DER LESEPROBE
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Michael Vermeulen
ist buddhistischer Philosoph und Arzt. Von 2011 bis 2015 war er Vertreter der Europäischen Buddhistischen Union bei der EU. Er sprach auf mehreren UN-Konferenzen über Menschenrechte, queeren Bud-dhismus und buddhistischen Umweltschutz und ist Mitgründer des European Rainbow Sangha und der Gay Buddhist Fellowship of London.