„Im Buddhismus haben wir keine Angst vor Veränderungen“

Ein Interview mit Anna Karolina Brychcy, Nils Clausen geführt von Redaktion BUDDHISMUS aktuell veröffentlicht in der Ausgabe 2023/2 Buddhismus im Westen unter der Rubrik Transformation.

In der Deutschen Buddhistischen Union zeigt sich, was Menschen im westlichen Buddhismus derzeit bewegt. Ein Gespräch mit Anna Karolina Brychcy und Nils Clausen vom Vorstand des Dachverbandes über Vielfalt und Transformation.

BUDDHISMUS aktuell: Beginnen wir persönlich – wie kam der Buddhismus zu euch westlichen Menschen? Hat euch da eine gewisse Exotik angezogen? 

Anna Karolina Brychcy: Der Buddhismus kam zu mir in der Zeit meines Psychologiestudiums. Darin hatte ich lernen wollen, wie der menschliche Geist funktioniert und wie man in Frieden mit sich selbst und anderen leben kann. Allerdings konnte das Studium nicht alle Fragen beantworten und die Lektüre eines buddhistischen Buches hat den Funken entzündet. Darin war in einfachen und klaren Worten von Geistesgiften und Geistesfaktoren die Rede. Exotisch fand ich das überhaupt nicht, sondern sehr gut nachvollziehbar. Erst später kam die Exotisierung, als ich drei Monate nach Thailand reiste und den Buddhismus unbedingt dort näher kennenlernen wollte. 

Nils Clausen

Nils Clausen: Ich bin auch durch Bücher über Zen lesend zum Buddhismus gekommen. Später kam ein Aikidolehrer hinzu, der auch im Zen beheimatet war. Einen Großteil meiner Kindheit und Jugend verbrachte ich in Frankreich, vor allem in Paris, wo ich mir viele religiöse Stätten angeschaut habe, Synagogen, Moscheen, buddhistische Tempel. Vor etwa 15 Jahren wollte ich von einem lesenden dann auch zu einem praktizierenden Buddhisten werden. Zunächst hat mich der tibetische Buddhismus fasziniert, auch wegen seiner reichen kulturellen Anteile. Ich bin ästhetisch sehr ansprechbar und deshalb auch Fotograf geworden. Trotzdem ist mir die tibetische Kultur letztlich fremd geblieben und ich habe mich dann in Richtung Thich Nath Hanh und auch Theravada-Buddhismus orientiert. Hundertprozentig festgelegt habe ich mich nie, denn ich finde alle Richtungen in der einen oder anderen Weise reizvoll.

Engagiert ihr euch in der Deutschen Buddhistischen Union, weil ihr da mit vielen verschiedenen Traditionen in Kontakt kommen könnt?

Nils Clausen: Für mich ist ein wichtiger Aspekt, dass ich von Anfang an das große Wirkpotenzial des Buddhismus gesehen habe – er bietet so viele Möglichkeiten, einzelnen Menschen und auch der Gesellschaft insgesamt hilfreich zu sein. Wir widmen unsere Praxis ja auch dem Wohl aller fühlenden Wesen. Um dieses Potenzial ganz zu entfalten, brauchen wir einen Dachverband wie die DBU. Ich bin ein politischer und ein spiritueller Mensch – beide Dimensionen gehören für mich zu einer ganzheitlichen Sicht. 

Ganz gleich, welchen Beruf ein Mensch hat, welche Hobbys und Interessen – jede und jeder von uns prägt das eigene Umfeld und hat einen Einfluss auf die Gesellschaft. Das Gleiche gilt auch für Organisationen. Unter den aktiven Menschen in der DBU finden sich viele, die auf gute und heilsame Weise in die Welt hineinwirken möchten. Und das möchte ich unterstützen. Wenn es ein solches Engagement von Menschen nicht gibt, stirbt die Gesellschaft. Dann hat sie keine Chance, die gegenwärtigen Krisen zu bewältigen, die wahrscheinlich komplexer und existenzieller sind als jemals zu zuvor. Das fordert uns alle in einem großen Maße heraus und selbstverständlich auch uns Buddhistinnen und Buddhisten. Es gibt in der DBU natürlich auch Menschen oder Gemeinschaften, für die das nicht so stark im Vordergrund steht – der Buddhismus ist eben ein Baum mit vielen Ästen und Zweigen. 

Anna Brychcy: Nach meiner Zeit in Thailand hatte ich das große Glück, eine spirituelle Heimat im Waldhaus am Laacher See zu finden, das traditionsübergreifend arbeitet und sehr viel Wert auf Alltagstauglichkeit legt. Für mich war es die ersten 18 Jahre meines spirituellen Weges selbstverständlich, an Meditationskursen bei Lehrerinnen und Lehrern unterschiedlicher Traditionen teilzunehmen. Ich dachte sogar lange, alle Buddhistinnen und Buddhisten praktizieren so! Als ich dann als Delegierte des Waldhauses zur DBU gekommen bin, war ich beeindruckt davon, dort noch einmal deutlicher mitzubekommen, wie unterschiedlich die verschiedenen Traditionen sind – und dass es dennoch einen gemeinsamen Raum gibt, um sich zu begegnen und sich gemeinsam für den Erhalt und die Verbreitung der buddhistischen Lehre in Deutschland einzusetzen. Deshalb habe ich mich dann auch bald von der Zuschauertribüne mitten ins Geschehen begeben.

Die DBU ist ein Dachverband vieler Gemeinschaften in einem westlichen Land und in ihr zeigt sich, was westliche Buddhistinnen und Buddhisten derzeit bewegt. Da gibt es das mehrjährige Schwerpunktthema „Transformation“. Warum gerade dieses Thema?

Anna Brychcy: Es ist in aller Munde und hat sich uns einfach aufgedrängt. Persönlich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die buddhistische Lehre einen originären Beitrag zu der sozialen, ökologischen und ökonomischen Transformation, die uns bevorsteht, leisten kann. Sie kann Menschen helfen, in sich die Ressourcen zu öffnen, die sie brauchen, um eine solche Transformation mitzugestalten. 

Die stärkere Partizipation von Frauen und jungen Menschen ist ebenfalls stärker Thema im deutschen Buddhismus geworden – auch das eine deutliche Modernisierung.

Anna Karolina Brychcy

Anna Brychcy: Der letzte Rat der DBU war erstmals paritätisch mit Frauen und Männern besetzt war – ein Novum in der DBU und auch vorbildlich, wenn man sich die Leitungsgremien anderer Organisation ansieht. Wir haben allerdings keine Frauenquote angestrebt, sondern es gab eine bewusste und klare Entscheidung des vorherigen Vorstandes, dass wir vielfältiger, bunter, inklusiver, gleichberechtigter sein möchten. Das hat den Ausschlag gegeben: Es gab eine einladende Stimmung und auch die Bereitschaft, die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit so zu verändern, dass sie zum Beispiel für Frauen attraktiver sind. Dazu gehört zum Beispiel die Bemühung, möglichst auf heftige Kampfdebatten zu verzichten, wie es sie früher wohl öfter gab, noch geprägt von den heißen politischen Diskussionen, die Menschen der 1968er-Generation gewohnt waren. Wir sind sensibler geworden im Sprachgebrauch und in den Umgangsformen – das hat einen Sog entstehen lassen, der es für Frauen interessanter und sicherer macht, ihre Freizeit in einem Ehrenamt in der DBU zu verbringen. So erlebe ich das auch ganz persönlich, als Frau und als Mensch mit Migrationshintergrund. Ich fühle mich eingeladen, mich mit meinen besonderen Erfahrungen einzubringen.

Nils Clausen: Meines Erachtens kann das ruhig noch weiter gehen. Männer hatten jetzt jahrhundertelang die Chance, die Welt zu regieren, und sie haben es, salopp gesagt, versaut. Darin liegt ja letztlich auch die Ursache für all diese Krisen. Der Dalai Lama hat gesagt, dieses Jahrhundert müsse das Jahrhundert der Frauen werden, und das heißt in meinen Augen auch, dass Frauen auch mehr als die Hälfte der Verantwortungspositionen in der Gesellschaft einnehmen können. Das würde ich historisch für gerecht, aber eben auch für zukunftsweisend halten. Die patriarchalen Strukturen müssen überwunden werden, wenn wir die derzeitigen Krisen überwinden wollen.

Dasselbe gilt für die Teilhabe junger Menschen, ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt. Es gibt seit einigen Jahren die Junge Buddhistische Union als Jugendgruppe der DBU; die Arbeit liegt derzeit etwas brach, auch wegen der Pandemie. Wir hoffen aber, dass es bald wieder losgeht. 

Anna Brychcy: Die DBU war bislang immer gut darin, Menschen mit viel buddhistischem Vorwissen und Debattenfreude für sich zu gewinnen. Wir müssen noch lernen, mehr Erfahrungsräume auch ohne philosophisch-akademischen Anspruch anzubieten. Das ist es ja, was auch jüngere Menschen anzieht. Generell wünschen sich aktuell mehr Menschen Formate, in denen gemeinschaftliches Erleben möglich ist. 

Wie nehmt ihr den säkularen Buddhismus wahr? Ist er für euch eine Modernisierungsströmung im westlichen Buddhismus?

Nils Clausen: Wenn man geschichtlich zurückblickt, sieht man, dass der Buddhismus im Westen von Anfang stark als Philosophie wahrgenommen worden ist, obwohl er auch eine Lebenspraxis und für viele Menschen auch eine Religion darstellt. Für den säkularen Buddhismus steht ebenfalls nicht das Religiöse, sondern das Philosophische im Vordergrund. Das Schöne am Buddhismus ist, dass alle diese Wege funktionieren! Man kann ihn eben auch komplett säkular interpretieren und erhält eine in sich schlüssige Praxis und Perspektive. Ich würde mir einen stärkeren Dialog des säkularen Buddhismus mit den anderen Strömungen wünschen, die in der DBU vertreten sind; das gelingt derzeit noch nicht ideal. Aber insgesamt denke ich: Es ist eine neue Identität in unserer buddhistischen Familie entstanden und nun geht es darum, dasselbe zu tun, was wir ja auch im interreligiösen Dialog tun: einander zuhören, voneinander lernen, Verbundenheit pflegen und sich gegenseitig respektieren.

An dieser Stelle möchte ich auch betonen, wie wünschenswert ich es finde, dass sich die DBU für buddhistische Strömungen öffnet, die bisher im Dachverband nicht vertreten sind. Dazu gehört zum Beispiel der sogenannte ethnische Buddhismus, also die großen thailändischen, vietnamesischen, chinesischen buddhistischen Tempel und Gemeinschaften, die es in Deutschland gibt, aber auch eine große Gruppe wie die Soka Gakkai Deutschland, mit der wir jetzt erste Gespräche begonnen haben.

Anna Brychcy: Ich fremdle ein wenig mit dem Begriff des säkularen Buddhismus, weil mir alle, die ich danach frage, eine andere Definition davon geben. Ich habe manchmal die Befürchtung, dass ein nicht geklärter Begriff genutzt wird, um eine künstliche Trennung zwischen „Traditionalisten“ und „Säkularen“ zu schaffen. Ich habe Anteile von beidem in mir! Ich lebe nicht in einem Kloster, bin nicht ordiniert, beschäftige mich nicht mit göttlichen Erscheinungen, das Thema Wiedergeburt steht nicht im Zentrum meiner Praxis – alles das ist für manche Menschen bereits säkular. Doch diese Anteile sind für mich absolut vereinbar mit der Vielfalt der unterschiedlichen buddhistischen Traditionen; ich hatte damit noch nie Schwierigkeiten. Mich beschäftigt eher die Frage, woher die starke Emotionalität in dem Diskurs rund um säkularen Buddhismus kommt. Meine Vermutung ist: Die buddhistischen Traditionen und Wege holen Menschen an unterschiedlichen Stellen ab, und je nachdem, welche persönliche Erfahrung sie mit dem gemacht haben, was ihnen am Buddhismus wesentlich ist, fühlen sie sich an diese Inhalte und Erfahrungen besonders gebunden. Ich weiß nicht, was es nutzen soll, anderen das abzusprechen, was sie als ihr Heiligstes empfinden, oder ihren jeweiligen Fokus auf das Buddhadharma infrage zu stellen. Natürlich entsteht dann Schmerz und ich bezweifle, dass uns ein solcher Diskurs voranbringt. 

Budapest, Hungary – October 2 2016. Park Margit. Yoga in the park Margaret, Budapest, Hungary. A group of young people under the guidance of an Asian woman doing yoga.

Lasst uns einen Blick in die Zukunft werfen. Wo soll der Buddhismus in unserem Land in zehn oder zwanzig Jahren stehen?

Anna Brychcy: Mein Anliegen ist es, den Buddhismus in Deutschland realistisch sichtbarer zu machen. Mit realistisch meine ich: ihn rausholen aus einem verkitschten oder verklärten Bild – die lächelnde Buddastatue als Wohnzimmerdeko – und deutlich machen, dass der Buddhismus ein ernst zu nehmendes Werkzeug für unsere Transformation ist, vergleichbar mit einer Schaufel oder einer Säge. Vielleicht möchten nicht alle dieses Werkzeug benutzen und haben ihre je eigenen, aber es sollte doch in der Gesellschaft breiter verstanden werden, dass der Buddhismus nichts mit Wellness-Ästhetik zu tun hat.

Ein attraktives Zukunftsbild wäre für mich auch, dass buddhistische Grundvorstellungen deutlich verbreiteter wären. Als fühlende Wesen streben wir alle nach Glück und wollen kein Leid erleben. Gleichzeitig muss uns klar sein: Wir werden nie alles kontrollieren und jedes Leid dieser Welt beseitigen können, nicht durch Selbstoptimierung und schon gar nicht durch mehr Konsum und Profit. Der Buddhismus ist ein Weg zu der Erkenntnis, wie nachhaltiges Glück entsteht: indem wir Gier, Hass und Verblendung überwinden. Allein – und unbedingt gemeinsam. 

Nils Clausen: Gerne möchte ich noch einmal das Thema Transformation aufgreifen. Der Buddhismus hat damit so viel zu tun: Den engagierten Buddhismus gibt es seit Jahrzehnten, und der Grundgedanke, dass es in der Praxis darum geht, den eigenen Geist zu transformieren, ist so alt wie der Buddhismus selbst. Wir haben hier also sehr viel zu geben; im Buddhismus haben wir keine Angst vor Veränderungen und sind mit dem Gedanken der Transformationen sehr vertraut. Das treibt ja viele Menschen um: Sie haben Angst, durch die Krisen alles zu verlieren, weil sich alles ändert. Änderungsprozesse können aber auch sehr positiv sein, wenn man die Motivation, die Fähigkeiten und den Wertekompass hat, sie bewusst zu gestalten. Wir als Buddhistinnen und Buddhisten wissen das und gehen täglich damit um – das ist ein Schatz, den wir in die Gesellschaft tragen können.

Anna Karolina Brychcy

ist Diplom-Psychologin, Coach, Kommunikations- und Achtsamkeitstrainerin. Sie praktiziert seit 2004 Zen und Vipassana-Meditation in den Traditionen von Thich Nhat Hanh, Christopher Titmuss und Ursula Lyon, und ist seit 2018 in der DBU engagiert, derzeit als Mitglied von Rat und Vorstand.

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Nils Clausen

ist Fotograf und Inhaber einer Werbeagentur. Sein buddhistischer Weg begann bereits in seiner Jugend in einem Zen-Dojo bei Paris. Später besuchte er verschiedene Schulen der Karma-Kagyü-Linie, hat seine buddhistische Heimat jetzt bei Thich Nhat Hanh gefunden und ist derzeit Mitglied im Rat und Vorstand der DBU.

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