Ich, meine Gefühle und meine buddhistische Praxis

Ein Beitrag von Dr. med. Ulrich Küstner veröffentlicht in der Ausgabe 2019/1 Wachsen unter der Rubrik wachsen. (Leseprobe)

Als heutige Menschen denken wir psychologisch – wir kennen es nicht anders. Befreiungswege wie die buddhistische Meditation untersuchen jedoch grundlegende Funktionen des Bewusstseins, nicht seine Inhalte. Wir wollen mithilfe der Meditation unser Leben verbessern: mit unseren Emotionen zurechtkommen, alte Muster überwinden, anderen mit mehr Mitgefühl begegnen, „das Ich überwinden“, etwas „loslassen“. Eine solche Beschäftigung mit unseren Gedanken und Handlungsmustern, mit unserer Emotionalität und unseren Beziehungen ist aber keine buddhistische Meditation im eigentlichen Sinne. Und sie erzeugt viele Missverständnisse. Solange wir die meditative Meta-Ebene nicht kennen und verstehen, machen wir „Psychotherapie auf dem Kissen“. Es scheint, als erschwerten gerade die modernen Versuche, uns den Dharma durch eine psychologische Sprache verständlicher zu machen, den Zugang zu seinen weitergehenden Zielen und subtileren Inhalten. Ulrich Küstner über den holprigen Weg vom psychologischen Denken zur Dharma-Sicht.

Der Triumph des Therapeutischen

Wir leben heute in einer Welt, in der das Therapeutische triumphiert hat. Das Therapeutische ist der Schauplatz, wo wir uns als Individuen mit Wünschen, Bedürfnissen und Begehren erfinden. Das therapeutische Denken ist auch ein kulturelles Bezugssystem, an dem sich unsere Selbstwahrnehmungen und die Vorstellungen, die wir uns von anderen machen, ausrichten. So beschreibt es die Soziologin Eva Illouz in Die Errettung der modernen Seele. Das therapeutische Denken nimmt, ihr zufolge, eine reflexive Haltung gegenüber Gefühlen ein und besteht darauf, dass die Regeln, denen der Ausdruck der Gefühle unterliegt, reflexiv gelernt werden müssen. Es schafft neue psychologische Ideale der Selbsterfüllung. Wer hinter ihnen zurückbleibt, wird als krank definiert. Wer keine schöpferische, sich selbst voll verwirklichende Person ist, ist gestört, neurotisch. Und das sind plötzlich die meisten Menschen! Das ist die Grundlage für die ungeheure öffentliche Wertschätzung der Psychologie und Therapie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Inzwischen sind Heilung und Wohlbefinden noch umfassendere Ansprüche geworden: Glück und Gesundheit, Fitness, Schlankheit, Wohlergehen und Wellness werden zur moralischen Forderung, zu einer Ideologie: Wenn du nicht gesund und glücklich bist, bist du ein schlechter Mensch, und daran bist du selbst schuld. 

Die therapeutische Kultur, deren wichtigste Mission Heilung ist, erzeugt eine narrative Struktur, in der das Selbst durch sein Leid und seine Opferrolle definiert ist. Sie begreift Lebensereignisse als Anzeichen für verpasste oder vereitelte Gelegenheiten zur Selbstentwicklung. Das Ziel dieser Geschichte bestimmt sowohl die Auswahl der Ereignisse, mit denen sie erzählt wird, als auch die Art und Weise, wie diese Ereignisse als Bestandteile der Erzählung verknüpft werden.

Alles wird im Rahmen dieser therapeutischen Erzählung, einer Leidensgeschichte, gesehen. Dabei rücken Emotionen und deren Reflexion ganz in den Vordergrund.

Der westliche Buddhismus bewegt sich heute zu einem großen Teil innerhalb dieses Rahmens der Selbsthilfe und des therapeutischen Diskurses und wird von dessen fast imperativen Forderungen stark beeinflusst. Dabei wird suggeriert, dass unsere eigenen Interessen und Ziele mit denen des Buddhismus übereinstimmen. Das wirkt auch deshalb so plausibel, weil unsere Praxis oft von einem Gefühl des Mangels, eines persönlichen Makels oder Defekts motiviert ist. Der Zen-Lehrer Barry Magid nennt das „unsere geheime Praxis“, die von „Heilungsfantasien“ geleitet sei.

Wie kommt das therapeutische Denken in den Buddhismus?

In der frühen Neuzeit gab es in vielen traditionell buddhistischen Ländern Zeichen der Ermüdung und des Niedergangs. Die Klöster in Asien wurden immer größer, aber die Zahl der intensiv Meditierenden sank. Die Wiederbelebung der buddhistischen Praxis im 19. Jahrhundert ging oft von solchen asiatischen Lehrern aus, die bereits Kontakt mit dem Westen hatten. Was wir heute als „den Buddhismus“ sehen, entstand aus den Begegnungen lokaler Formen mit dem Westen durch den Kolonialismus. Selbst die Formen und Lehrer, die wir als „traditionell“ empfinden, sind bereits Kinder dieser Begegnungen mit der Aufklärung, der Wissenschaft, dem Protestantismus, der Romantik, der Psychotherapie und dem therapeutischen Denken (siehe in der Literaturliste: McMahan, Thanissaro Bh., Küstner). Bekannte asiatische Lehrer des 20. Jahrhunderts, die uns scheinbar den originalen Buddhismus brachten, lehrten bereits solche Hybride, zum Beispiel Daisetz Suzuki, Chögyam Trungpa, Thich Nhat Hanh, und viele Vipassana-Lehrer.

Daniel Goleman berichtet folgende Anekdote: Im Jahre 1975 hatte Chögyam Trungpa Rinpoche ihn in ein Restaurant in Massachusetts eingeladen, um von seinen Plänen für das Naropa-Institut zu erzählen. Irgendwann im Gespräch lehnte er sich mit verschwörerischer Miene über den Tisch, schaute ihm in die Augen und sagte mit großem Nachdruck: „Der Buddhismus wird in den Westen als eine Psychologie kommen.“

Und so ist es auch geschehen. Eine ganze Generation von Dharma-Lehrern seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat den Buddhismus im Westen in psychologischen Begriffen vermittelt. Viele von ihnen haben zusätzlich zu ihrer Schulung als Meditationslehrer auch psychotherapeutische Ausbildungen gemacht.

Trungpa selbst hat maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Die klassische buddhistische Psychologie beschrieb er in Begriffen der westlichen Psychologie. So sprach er beispielsweise nicht mehr von den kleshas, sondern von „unserer Neurose“. Sein berühmtes Naropa-Institut in Boulder, Colorado war maßgeblich an der Entwicklung therapeutischer Formen des Buddhismus beteiligt. Dort lehrten zu verschiedenen Zeiten viele der heute bekannten westlichen Dharma-Lehrer. In diesem Umfeld des „Dharma als Psychologie“ ist auch die Achtsamkeitsbewegung entstanden, die sich vorwiegend auf die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Effekte der Achtsamkeit konzentriert.

Daran ist nichts falsch. Hier geht es nicht gegen therapeutische Ziele oder die Psychotherapie! Eine gewisse Stabilität, eine pragmatische Selbstsorge ist Grundvoraussetzung für einen Weg. Und dazu gehört oft auch die Psychotherapie. Gerade wenn es um Gefühle von Mangel und Ungenügen geht. Zu viele Menschen wenden sich der Meditation zu, wenn sie eigentlich Therapie bräuchten, und chronifizieren damit ihre Fehlhaltungen und Abwehrmechanismen. Ohne ein gut funktionierendes, integriertes Ich (im therapeutischen Sinne) ist der Schritt zur Erfahrung von Leerheit und Nicht-Ich (im meditativen Sinne) entweder gar nicht möglich, gefährlich oder zumindest nicht lange aufrechtzuerhalten.

Wir sollen auch nicht unseren Gefühlen und menschlichen Beziehungen entsagen, sondern nur dem Missverständnis, sie wären das vorrangige Ziel und der Gradmesser unseres buddhistischen Wegs. Wenn die psychologischen Voraussetzungen ausreichend erfüllt sind, eröffnen sich weitere Möglichkeiten. Dazu gilt es aber, die Andersartigkeit der Aufgabe zu verstehen.

Das Verschwinden der Befreiungsziele

Das therapeutische Modell ist als Rahmen für eine buddhistische Praxis nur mit Einschränkungen geeignet. Es lässt einen großen Teil des eigentlichen Dharma gleichsam verschwinden, weil es für ihn in diesem Modell gar keine geeignete Sprache gibt. Wenn wir psychische, emotionale oder soziale Leiden als das sehen, was es durch die buddhistische Praxis zu überwinden gilt, verlieren wir nicht nur deren weitergehende Ziele aus den Augen, sondern können auch ihre Methoden nicht richtig einordnen.

Die Verortung des modernen Buddhismus im „immanenten Rahmen“ (Charles Taylor; siehe auch den Beitrag von Bhikkhu Bodhi in BUDDHISMUS aktuell 4/18) suggeriert uns, dass die Buddhalehre vom „Leiden und Ende des Leidens” mehr oder weniger dasselbe Ziel beschreibe wie das Überwinden des alltäglichen Leidens durch Therapie. Alles, was darüber hinausgeht, wird als „transzendent“, „religiös“, „traditionell“ gesehen und somit für den modernen Menschen als unzugänglich oder irrelevant. Aber dort beginnt eigentlich erst das, was am Buddhismus spezifisch und wertvoll ist.

Intensive Emotionalität ist keine Befreiung

Der Buddha spricht von drei Arten des Leidens. Das Leiden innerhalb unseres therapeutischen Narrativs, unsere Leidensgeschichte, gehört zur ersten, gröbsten Form. Eine zweite, tiefere Schicht ist das Leiden an Wandel und Vergänglichkeit. Bis zu diesem Punkt brauchen wir die spezifischen Sichtweisen und Methoden des buddhistischen Dharma nicht unbedingt. Diese offenkundigen Themen sind unserer westlichen Psychotherapie und Philosophie zugänglich und werden in ihnen vielfältig bearbeitet.

Die spezifische Botschaft und Stärke des Dharma bezieht sich auf die dritte Art des Leidens, dukkha, das grundlegend Unbefriedigende, die nie wirklich zufriedenstellende und auf Dauer glücklich machende Grundeigenschaft des Weltlebens und unseres Alltagsbewusstseins. Dukkha ist ein tiefverwurzelter Prozess in unserem Bewusstsein, zusätzlich zu dem, was uns aus der äußeren Welt zustößt. Seine zentrale Ursache ist das Anhaften an einem Ich-Erleben und unsere fehlende Erkenntnis, wie die Dinge wirklich sind.

Wir meinen oft, dieses „Anhaften“, von dem der Dharma spricht, sei etwas, das wir wie eine Emotion verstehen und beeinflussen könnten. So etwa wie: „Ich muss das Anhaften an meinen Expartner auflösen.“ Unser normales Alltagsbewusstsein (buddhistisch: samsara) ist aber gerade durch diesen Haftmechanismus konstituiert und definiert. Das „Anhaften“ der buddhistischen Psychologie beschreibt eine uns unsichtbare, grundlegende Funktion des Bewusstseins, nicht nur deren erlebte Auswirkungen, die wir psychologisch verstehen und beeinflussen können. Leiden im Sinne von Dukkha tun wir demnach nicht, weil unser Alltagsbewusstsein Emotionen und Schwierigkeiten erlebt, sondern weil wir uns im Alltagsbewusstsein befinden! An den Schwierigkeiten und Emotionen zu arbeiten führt zu Leidminderung, aber nicht über die Ebene hinaus, auf der das Leiden immer wieder entsteht.

Emotionen sind den heutigen Menschen sehr wichtig. „Die moderne Obsession für das intensive Leben“, nennt es der Philosoph Tristan Garcia. Immer wieder beschäftigt uns die Frage: Fühle ich genug, lebe ich intensiv genug? Emotionen erzeugen aber auch das Gefühl eines (leidenden) Subjekts im Mittelpunkt unserer Welt. So wie unsere Gedanken immer sagen: „Denk mich, ich bin wichtig“, sagen unsere Gefühle: „Ich bin wichtig für dein Leben! Ich, dein Ärger, deine Angst, deine Abneigungen, deine Liebe, deine Frustration – wir sagen dir etwas Wichtiges!“

Dieses zwanghafte Sich-beherrschen-Lassen von Gedanken und Gefühlen ist eine Ursache unserer Unfreiheit. Ein großer Teil unserer Emotionalität, die wir als „normal“, gar „gesund“ sehen und die uns so wichtig ist, wird in der buddhistischen Psychologie als Kleshas, als eine Ursache des Leidens gesehen.

Hier gibt es viel Verwirrung. Beliebt ist die Fantasie von „Tantra“: die Idee, dass wir gleichzeitig ein intensives und emotionales Leben führen und uns in buddhistisch-meditativer Weise von den Kleshas, den gefangenhaltenden Leidenschaften befreien könnten – um dann noch leidenschaftlicher zu leben! Das ist kein Vajrayana, sondern ein typisch romantischer Topos. Zugrunde liegt eine Prä-Trans-Verwechslung, wie Ken Wilber das genannt hat. Starke Emotionen als Teil des Wegs zu nutzen ist eine Übung für weit Fortgeschrittene. Dazu muss eine ausgewogene menschliche Emotionalität und eine gute Ich-Funktionalität mit ethischer Disziplin und Selbstbeherrschung als Basis für den buddhistischen Weg erst einmal erreicht sein.

„Das volle Leben“ ist keine Fragestellung, die die Buddhisten der letzten 2 500 Jahre in irgendeiner Weise beschäftigt hat. Sie gingen von der gegenteiligen Grundannahme aus: dass ihre verwirrte, gierige und aggressive Emotionalität sie gefangen halte, in die Irre und ins Leiden führe.

Das Erwachen des Buddha verweist darüber hinaus auf eine andere Dimension, die aber nur scheinbar „transzendent“ ist. Es geht um eine andere Art des Wahrnehmens und Erlebens. Das kann man in ein religiöses, transzendentes Narrativ stellen – muss man aber nicht!

Narrativwechsel

Tibetische Lehrer sagen dazu schlicht, wir müssen ein chödpa werden, eine Dharma-Person. Jemand, der sich und sein Leben unter eine andere Sicht, in einen anderen Kontext stellt. Statt im therapeutischen Narrativ in ein Yogi-Narrativ oder ein Bodhisattva-Narrativ. Das klingt seltsam und wir fremdeln mit vielen der verwendeten Begriffe.

Das beginnt schon mit der „Entsagung“. Dieser Begriff erzeugt unter westlichen Übenden regelmäßig laute Proteste. Entsagung ist höchst unmodern. Wir wollen ja immer alles (und das gleich). Aber eigentlich geht es ganz banal um eine Zielwertklärung, im Bewusstsein um die Begrenztheit unserer Lebenszeit und unserer Ressourcen. Entsagung meint in diesem Sinne eine notwendige Abkehr von unseren ständigen Ablenkungen und unserer Geschäftigkeit, eine Ent-Täuschung von unserer üblichen Weise, uns als Zentrum der Welt zu sehen. Es geht gerade nicht darum, unsere üblichen Wünsche und Bedürfnisse beizubehalten und bloß den Buddhismus vor ihren Karren zu spannen!

In diesem Zusammenhang ist die sogenannte „Wahrheit“ vom Leiden auch eine motivationale Struktur. Das Erkennen des Unbefriedigenden an unserem üblichen Denken dient dazu, uns aus der diskursiven Beschäftigung mit den Alltagsgedanken herauszulösen, um freie Zeit und Energie zu bekommen. Das Leiden ist auch eine Mitteilung darüber, wie viel besser der erwachte Geisteszustand wäre.

Wir lassen für uns eine andere Erfahrungsmöglichkeit, die noetische Qualität unserer Erfahrung, einen zunehmend größeren Wert einnehmen. Dass wir Hingabe an diese Qualität entwickeln, sie kultivieren, ist mit „Zuflucht“ gemeint. Und dass es uns wichtig wird, dass andere diese Erfahrung auch machen können, sind Mitgefühl und Bodhicitta, der Geist des Erwachens. Das ist zwar außerhalb des Rahmens, in dem wir uns im Alltag und im psychologischen Denken üblicherweise bewegen, aber letztlich weder transzendent noch religiös. Vielleicht ist es Mystik – aber das ist auch so ein schwieriges Wort.

ENDE DER LESEPROBE

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Dr. med. Ulrich Küstner

Ulrich Küstner, Dr. med., Facharzt für Pneumologie und Psychotherapeut für Verhaltenstherapie. Beschäftigung mit dem Buddhismus seit 1973, Schüler von Akong Rinpoche seit 1978. Therapeut und Ausbilder in Tara Rokpa-Therapie. Gründungsmitglied der AG „Buddhismus und Psychotherapie“ der Buddhistischen Akademie und Mitausrichter der jährlichen Tagungen seit 2002.

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