„Ich halte den Buddha für einen unglaublich modernen Philosophen“
In seinem neuen Buch „Die Philosophie des Buddha“ befasst sich Sebastian Gäb mit dem Buddha als rational argumentierendem Denker. Der Professor für Religionsphilosophie im Gespräch mit BUDDHISMUS aktuell.
BUDDHISMUS aktuell: Welche Zielgruppe möchten Sie mit Ihrem Buch für die Philosophie des Buddha interessieren?
Sebastian Gäb: Eigentlich alle. In erster Linie ist es natürlich ein Buch für Studierende und alle, die sich in Sachen Buddhismus weiterbilden wollen. Aber es ist kein Buch nur für Fachleute. Ich denke, im 21. Jahrhundert sollte es auch im Westen zur Allgemeinbildung gehören, ein grundlegendes Verständnis von zentralen Ideen des Buddhismus zu haben. Das Buch ist geschrieben für alle, die sich für das Denken des Buddha interessieren und wissen wollen, was es damit auf sich hat – insbesondere auch für die, die vielleicht selbst keinen buddhistischen Hintergrund haben.
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Was bedeutet es, den Buddha ausdrücklich als Philosophen zu lesen?
Das bedeutet erst mal einfach, den Buddha als jemand zu sehen, der versucht, auf bestimmte fundamentale, existenzielle Fragen durch vernünftiges Denken eine Antwort zu finden. Ganz am Anfang des Buddhismus steht Gautama – ein Mensch, der von der Erfahrung der Leidhaftigkeit des Lebens erschüttert ist und versucht, durch Nachdenken und Experimentieren herauszufinden, woher das Leiden kommt und wie man es überwinden kann.
Das Ergebnis ist dann eine Philosophie: Der Buddha entwickelt eine umfassende Theorie, die erklärt, woher das Leiden kommt und wie wir leben sollten, um uns daraus zu befreien. Aber nicht nur das – seine Theorie erklärt auch, wie die Wirklichkeit beschaffen ist, was für Wesen wir sind und warum Wesen wie wir in einer solchen Welt leiden müssen. Das alles verkündet er aber nicht als ein Dogma, sondern er begründet seine Gedanken mit rationalen Argumenten und stellt sich der Kritik anderer Denker. Und er geht davon aus, dass alles, was er behauptet, nicht einfach geglaubt werden muss, sondern grundsätzlich, damals wie heute, von jedem und jeder selbst rational überprüft werden kann.
Den Buddha als Philosophen lesen heißt also auch, ihn als jemanden verstehen, der sich an alle Menschen wendet, eigentlich sogar an alle vernünftigen Wesen, unabhängig von ihrer Herkunft oder Kultur – alles, was wir brauchen, um die Ideen des Buddha zu verstehen, ist unsere Vernunft und die Bereitschaft, uns auf seine Argumente einzulassen.
Als Religionsstifter oder als spirituell Praktizierenden können wir den Buddha aber weiterhin auch verstehen?
Ja sicher – als historische Person ist der Buddha vieles, nicht nur ein Philosoph. So wie wir übrigens alle: Ich zum Beispiel bin nicht nur Philosoph, sondern auch Vater und Kletterer, und je nachdem auf welchen dieser Aspekte man sich konzentriert, wird man eine ganz andere Geschichte über mich erzählen können. Den Buddha als Philosophen sehen heißt, sich auf einen bestimmten Aspekt konzentrieren – aber das ist kein Widerspruch dazu, dass er als konkrete Person auch religiöse oder spirituelle Aspekte hat.
Was kennzeichnet das philosophische Reflektieren?
Philosophie hat zwei Seiten: Einerseits ist sie eine bestimmte Art und Weise zu denken, andererseits hat sie bestimmte Fragen und Themen, die typisch philosophisch sind. Der Kern des philosophischen Denkens ist Rationalität – also vernünftiges Denken, das nur dem besten Argument folgt und sich nicht von Wünschen, Emotionen oder Vorurteilen leiten lässt. Philosophische Fragen zielen immer auf das große Ganze, also auf ein System, das die Realität als Ganzes und unser Dasein in ihr beschreiben und erklären kann. Philosophie stellt Fragen wie: Was ist die Wirklichkeit? Was können wir über sie wissen? Wie sollen wir leben?
Für viele klassische und antike Philosophien, sowohl in Europa als auch in Asien, kommt noch etwas Drittes hinzu, nämlich Philosophie als Lebensform. Es geht also bei Philosophie nicht bloß darum, abstrakte Theorien zu entwickeln, sondern auch darum, das eigene Leben an diesen Theorien auszurichten, um letzten Endes ein gutes Leben zu führen. Denn wie soll man gut leben, wenn man in Illusionen und Irrtümern festhängt und ein vollkommen falsches Bild davon hat, wie die Welt wirklich ist?
Der Buddha hat vor mehr als zweitausend Jahren gelebt und selbst nichts schriftlich niedergelegt. Welche Quellen sind für Ihren Zugang maßgeblich und warum?
Ich halte mich ganz überwiegend an die Sutras des Palikanons sowie an einige andere, nicht kanonische Schriften des frühen Buddhismus, etwa das Milindapanha, weil diese Texte für uns die Quellen sind, die am nächsten an der Philosophie des historischen Buddha dran sind. Natürlich, wir wissen, dass diese Texte zunächst für einige Jahrhunderte mündlich überliefert wurden und erst lange Zeit nach dem Tod des Buddha schriftlich fixiert worden sind. Insofern kommen wir gar nicht mehr direkt und unmittelbar an die ursprüngliche Lehre des Buddha heran. Aber wir sind in guter Gesellschaft: Buddhistinnen und Buddhisten haben jahrtausendelang genau diese Schriften als authentisches Wort des Buddha anerkannt – vielleicht nicht wortwörtlich, aber der Sache nach bestimmt. Die Philosophie, die in den Sutras entwickelt wird, ist also die Philosophie des Buddha, die seit vielen Jahrhunderten das Leben und Denken von Millionen Menschen prägt. Sie ist die einzige Philosophie des Buddha, die wir haben.
Empiristisch, pragmatisch und realistisch – das sind für Sie die drei wichtigsten Merkmale der Philosophie des Buddha. Inwiefern empiristisch?
Empirismus heißt, dass jede Wahrheit sich letzten Endes in der eigenen Erfahrung zeigen muss. Wenn man sich fragt, woher wir eigentlich überhaupt etwas wissen, dann antwortet der Empirismus: aus der Erfahrung. Auch der Buddha ist ein Empirist und betont immer wieder, dass wir nur den Theorien Glauben schenken sollten, die sich in der eigenen Erfahrung bewahrheiten. Als ihn die Kalamer fragen, wie man herausfinden soll, welchen der zahlreichen Denker und Prediger man überhaupt noch glauben kann, gibt er ihnen den Rat: Akzeptiert nur das, von dem ihr selbst seht, dass es wahr ist.
Das heißt natürlich nicht, dass wir die Vernunft über Bord werfen können. Aber es heißt, dass die schönste im Lehnstuhl entworfene abstrakte Theorie nichts taugt, wenn sie sich nicht in der Erfahrung bewährt. Die eigene Erfahrung hat in Sachen Wahrheit immer das letzte Wort.
Für den Buddha schließt das natürlich Erfahrungen in der Meditation ein. Manche Dinge – zum Beispiel die Realität von Wiedergeburt und Karma – sind uns in der gewöhnlichen Alltagserfahrung nicht einsichtig. Trotzdem sagt der Buddha als eingefleischter Empirist: Übe dich in Meditation und kultiviere diese besonderen Formen der Erfahrung, dann wirst du irgendwann auch diese Dinge in deiner eigenen Erfahrung als wahr erkennen können.
Und was macht den Pragmatismus und Realismus des Buddha aus?
Pragmatismus bedeutet, dass die Wahrheit sich auch im Leben bewähren muss. Für einen Pragmatiker wie den Buddha ist Philosophie nicht bloß ein abstraktes, theoretisches Glasperlenspiel, sondern ein Weg, um das Leiden zu überwinden und handfeste Probleme des Daseins zu lösen. Daran muss sie sich messen lassen: Die Wirksamkeit im Leben ist der ultimative Prüfstein für jede Philosophie. Die einzige Wahrheit, die zählt, ist für den Buddha diejenige, sie sich im Leben bewährt und uns hilft, aus dem Leiden herauszukommen. Tut sie das nicht, kann sie uns egal sein.
Realismus heißt, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist – nicht verzerrt durch unsere Wünsche, Ängste oder Vorurteile, sondern klar und frei von Illusionen. Der Buddha ist vielleicht einer der realistischsten Denker der Weltgeschichte, denn für ihn ist die Unwissenheit das Problem und Einsicht die Lösung. Wir leiden, weil wir uns in falsche Vorstellungen davon verstrickt haben, was die Welt ist und was wir sind. Wenn wir uns von diesen Illusionen frei machen und die Realität nur noch als das sehen, was sie ist – ohne Urteile und Anhaften –, dann haben wir die Möglichkeit, das Leiden zu überwinden.
In welchem Verhältnis steht der Zugang zur Lehre des Buddha einerseits über die Vernunft und andererseits über die persönliche Praxis, in der auch Elemente wie Stille, Nicht-Denken, Vertrauen, vielleicht sogar Verehrung eine Rolle spielen?
Der Zugang über die Vernunft ist erst mal ein Weg, um die Lehre des Buddha zu verstehen, auch wenn man sich vielleicht nicht selbst in eine buddhistische Praxis begeben möchte. So gesehen ist es eine Art „Buddhismus für Skeptiker“ – also für diejenigen, die interessiert sind an der Lehre des Buddha, aber sich nicht selbst als Buddhistin, Buddhist identifizieren würden. Ich glaube, ein solcher Zugang ist zum einen wichtig, weil er die Möglichkeit eröffnet, etwas aus der Philosophie des Buddha zu lernen, auch wenn man selbst nicht Buddhistin oder Buddhist werden möchte. Zum anderen auch, weil auf diese Weise klar wird, dass der Buddha ein Gesprächspartner für die westliche Philosophie ist. Der Buddha gibt Antworten auf Fragen wie: Was ist die Welt? Was ist ein gutes Leben? – nicht anders als Platon oder Aristoteles. Und wir können ihn als jemanden lesen, der einen eigenen Beitrag zu der großen Diskussion über diese Fragen bringt, den man verstehen und diskutieren kann, auch wenn man sich selbst nicht der buddhistischen Praxis verschreiben möchte.
Aber natürlich schließt sich das nicht aus – der Weg über die Vernunft ist ein Weg, der vielleicht am Ende doch in die Praxis führen kann. Vielleicht ist es auch der Weg, der für uns aufgeklärte, skeptische Menschen im Europa des 21. Jahrhunderts der richtige ist.
Warum haben Sie persönlich angefangen, sich für den Buddha und seine Philosophie zu interessieren?
Meine erste Begegnung mit dem Buddhismus war während des Sinologiestudiums, damals allerdings in seinen chinesischen Ausprägungen. Ich muss sagen, dass ich damals zwar fasziniert war von der – scheinbaren – Fremdartigkeit dieses Denkens, aber auch nicht besonders viel verstanden habe. Etwas später bin ich über meine eigene Meditationspraxis wieder mit buddhistischem Denken in Kontakt gekommen und habe dann, wie man es von einem Philosophen erwarten würde, versucht, die theoretischen Grundlagen zu verstehen, auf denen diese Meditationspraxis beruht. Ich war überrascht von der Komplexität, aber auch der inneren Kohärenz der buddhistischen Philosophie und fasziniert von einem System, in dem Theorie und Praxis eine so enge Verbindung in einer Lebensform eingehen.
Was an der Philosophie des Buddha finden Sie überzeugend, interessant, gegenwartstauglich?
Ich halte den Buddha für einen unglaublich modernen Philosophen, viel mehr als zum Beispiel Platon oder Aristoteles. Seine empiristische Grundhaltung, sein skeptischer Rationalismus und seine strenge Betonung der Kausalität als universales Prinzip der Wirklichkeit passen hervorragend zu unserem modernen, naturwissenschaftlich geprägten Weltbild. Mich überrascht immer wieder, wie leicht es ist, hinter den traditionellen Formen, in denen der Buddha sein Denken präsentiert hat, eine elegante, einfache und vor allem gegenwartskompatible Philosophie zu finden. Dass unser scheinbares Selbst eine Illusion ist und aus zahlreichen miteinander verwobenen Prozessen besteht, ist ein Punkt, den die moderne Neurowissenschaft immer mehr bestätigt. Dass psychische Strukturen des Anhaftens Leid erzeugen und dass sie durch meditatives Training verändert werden können, hat Eingang in die zeitgenössische Psychotherapie gefunden. Und dass Erlösung letzten Endes in unserer Hand liegt – und wir nicht auf die Gnade eines Gottes angewiesen sind – ist ebenfalls eine Idee, die in der Gegenwart anschlussfähig ist.
Gibt es auch Denkfiguren des Buddha, die Sie nur mäßig überzeugen?
Die härteste Nuss ist für mich immer noch die Nicht-Selbst-Lehre des Buddha – kein Wunder, denn dieser Aspekt seines Denkens ist sicher der umstrittenste und schwierigste. Ich finde den Gedanken überzeugend, dass das, was wir normalerweise „Ich“ nennen, in Wirklichkeit ein Strom verschiedenster Elemente ist, die sich immer neu verwirbeln und ständig im Fluss sind. Aber die Frage, auf die ich immer noch keine endgültige Antwort habe, ist: Wie kann es dann sein, dass manche Gefühle und Gedanken „meine“ sind und andere nicht? Ich sehe die Welt immer aus meinen Augen –doch ist das auch nur eine Illusion, die sich auflösen muss, wenn die Realität des Nicht-Selbst einmal erkannt ist? Aber kann sie sich überhaupt auflösen – kann es Gefühle und Gedanken geben, die niemands Gefühle und Gedanken sind?
Mich erfasst bisweilen eine gewisse Empörung darüber, wie wenig die westliche Philosophie buddhistisches Denken wahrnimmt und mitbetrachtet, wobei das sicherlich auch – eine aktuelle Debatte – beispielsweise für afrikanische Philosophien gilt. Könnten Sie mein Aufbegehren an dieser Stelle nachvollziehen?
Ja! Ich selber unterrichte seit vielen Jahren buddhistische Philosophie und halte oft Vorträge darüber vor einem akademischen Publikum. Und immer wieder taucht die Frage auf: Schön und gut, aber ist das denn wirklich Philosophie? Meist wird sie nicht so direkt gestellt, aber der Gedanke schwingt oft mit. In meinem Buch war wichtig, dieser Frage etwas entgegenzusetzen und klarzumachen: Natürlich ist das Philosophie! Und wir in der westlichen Philosophie können viel gewinnen, wenn wir unsere Perspektive erweitern und Theorien und Konzepte der buddhistischen Philosophie in unsere Arbeit einbeziehen. Hier findet in den letzten Jahren übrigens ein erfreulicher Wandel statt: Gerade in akademischen Kreisen ist man inzwischen deutlich aufgeschlossener gegenüber außereuropäischer Philosophie, als das noch vor einigen Jahren der Fall war.
Inwiefern kann Ihr Buch für Nichtbuddhist:innen bereichernd sein?
Der Buddhismus ist ein Denksystem und eine Lebensform, die das Leben von Millionen Menschen intensiv geprägt hat. Kaum eine Philosophie hat, global gesehen, eine derart große Wirkung entfaltet wie die des Buddha – da lohnt es sich, die Grundzüge dieses Denkens zu kennen. Auch, um besser zu verstehen, wie die Lehre des Buddha noch heute das Denken und Handeln von Buddhistinnen und Buddhisten weltweit prägt.
Außerdem glaube ich, dass es vieles gibt, was wir vom Buddha lernen können – unabhängig davon, ob man nun Buddhistin, Buddhist ist oder nicht. Seine Lehren, dass es kein Selbst gibt, dass Unwissenheit und Anhaften zu Leiden führen oder dass ein gutes Leben die meditative Kultivierung des Bewusstseins erfordert, sind wichtige Erkenntnisse, die helfen können, ein besseres Leben zu führen – auch wenn man sich keinem sangha, keiner Gemeinschaftanschließen möchte.
Und was an Ihrem Buch kann Buddhistinnen und Buddhisten bereichern?
Ich denke, dass es erfrischend sein kann, eine neue Perspektive auf das eigene Weltbild einzunehmen. Ich betrachte den Buddhismus ein wenig von außen, aus dem Blickwinkel des Philosophen, nicht des Buddhisten. Das bringt es mit sich, dass ich die Ideen des Buddha in der Sprache der zeitgenössischen Philosophie formulieren muss. Ich hoffe, dass das einerseits Buddhist:innen eine Möglichkeit bietet, neu über ihr eigenes Weltbild nachzudenken, und ihnen andererseits hilft, ihre Überzeugungen und ihre Praxis besser nach außen zu kommunizieren und auch denen verständlich zu machen, die diese Weltsicht nicht teilen.
Haben Sie vielen Dank für Ihr interessantes Buch und das Interview!
Literaturempfehlung
Sebastian Gäb: „Die Philosophie des Buddha – Eine Einführung“, UTB 2024
Sebastian Gäb
Sebastian Gäb, geboren 1982 in Ahrweiler, hat Philosophie, Sinologie und Klassische Philologie in Trier und Qingdao in der Volksrepublik China studiert. Seit 2019 ist er Professor für Religionsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er arbeitet schwerpunktmäßig zur Philosophie der Mystik und religiösen Erfahrung, zu religiöser Sprache und zur Philosophie von Tod und Unsterblichkeit. Darüber hinaus lehrt und publiziert er regelmäßig zur buddhistischen Philosophie und zu klassischer chinesischer Philosophie.