Handeln / Nicht-Handeln zwischen Leben und Tod

Ein Beitrag von Wilfried Reuter veröffentlicht in der Ausgabe 2015/4 Handeln, Nicht-Handeln unter der Rubrik Handeln / Nicht-Handeln.

Der Arzt und Meditationslehrer Wilfried Reuter berichtet, wie er in einer überaus schwierigen Situation im Krankenhaus Zu einer guten Entscheidung finden musste.

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Täglich fällen wir Entscheidungen. Manche sind komplex und jede hat Folgen. Manchmal betreffen unsere Entscheidungen auch direkt das Leben anderer Menschen und bedeuten für uns selbst eine große Herausforderung. Mit Nachdenken allein kommen wir oft nicht weiter.

Eine Zeitlang habe ich als Oberarzt in einer Klinik gearbeitet. In meiner Schicht arbeiteten auch eine Ausbildungsassistentin und eine Fachärztin. Zu Entbindungen im Kreißsaal wurde zuerst die Assistenzärztin gerufen, die dann in schwierigen Situationen, die Fachärztin hinzuzog. Erst wenn auch diese sich überfordert fühlte, wurde der Oberarztdienst – in diesem Fall ich – alarmiert.

Kurz nach Mitternacht klingelte in meinem Dienstzimmer das Telefon, und meine beiden Kolleginnen baten mich, sofort in den Kreißsaal zu kommen. Etwa eine halbe Stunde zuvor war eine Frau in der 23./24. Schwangerschaftswoche eingeliefert worden, die noch während des Transports einen kleinen Jungen, Jonas, geboren hatte. In der damaligen Zeit lag die Grenze der Überlebensfähigkeit bei optimalen Geburtsbedingungen etwa bei 24 Schwangerschaftswochen. Die allermeisten Frühgeborenen aus dieser so frühen Woche erlitten aber aufgrund der Unreife schwere Hirnblutungen mit entsprechend katastrophalen neurologischen Schäden. Bei Jonas kam erschwerend hinzu, dass er aus einer ungünstigen Lage geboren wurde. Meine Kolleginnen konnten bei ihm weder Herz noch Atmungsaktivitäten feststellen und erklärten der Mutter, dass ihr Kind aufgrund der Unreife tot auf die Welt gekommen sei. Die Mutter hatte ihr Kind angeschaut, bald aber darum gebeten, dass es in einen anderen Raum gebracht werden solle. Auf dem Weg dorthin tat Jonas plötzlich in den Armen der Hebamme einen Schnappatemzug und schien dann wieder wie tot. Dieses wiederholte sich nach einigen Minuten. In dieser Situation wurde ich alarmiert. Jonas schien tot zu sein. Entspannt und sehr friedlich lag er ohne Atmung und hörbare Herzaktion in eine Decke gehüllt auf dem Wickeltisch. Sein Gehirn hatte nun seit über 30 Minuten keine Sauerstoffversorgung mehr bekommen. Plötzlich tat er wieder einen Schnappatemzug, danach schien er wiederum wie tot.

Was sollte ich tun? Aus juristischer Sicht wäre vermutlich eine Reanimation angebracht gewesen. Doch dies hätte einen massiven Eingriff in den Sterbevorgang des kleinen Jonas bedeutet. Und eine „erfolgreiche“ Reanimation hätte eine lebenslange Schwerstbehinderung zur Folge gehabt. Sollte ich handeln im Sinn einer Reanimation mit Alarmierung der Kinderärzte etc. oder nicht handeln und den Sterbeprozess begleiten?

In jeder Situation bestimmt das Maß unserer bewussten Klarheit und Herzensverbindung die Weite unserer Perspektive und damit die Stimmigkeit unseres Handelns oder Abwartens.

Wir haben in jeder Situation verschiedene Bewusstseinsebenen mit entsprechenden Möglichkeiten, die wir nutzen können, zur Verfügung. Bei den meisten Menschen dominiert das Verstandesbewusstsein mit seinen gedanklichen Erklärungen, Interpretationen, Beurteilungen und Vergleichen. Die Art, wie unser Verstandesbewusstsein wahrnimmt, erklärt und deutet, hängt ab von unseren Konditionierungen und Prägungen. Jeder Gedanke des Verstandesbewusstseins ist Ausdruck einer begrenzten Perspektive. Hätten wir in unserer Vergangenheit andere Erlebnisse gehabt und damit verbundene Prägungen, würden wir jetzt vermutlich in entsprechenden Situationen anders wahrnehmen und urteilen. Zudem müssen in komplizierten Situationen oft viele, zum Teil widersprüchliche Informationen berücksichtigt werden. Damit ist das Verstandesbewusstsein schnell überfordert, da es immer nur eine begrenzte Zahl von Aspekten zur gleichen Zeit einbeziehen kann.

Demgegenüber ist das Fühlbewusstsein in direkter Verbindung mit den „100 000 Aspekten“ einer jeden Situation. Fühlbewusstsein vermittelt sich über die Sinne. Hier ist neben Sehen, Hören, Riechen, Schmecken das Körpersinnesbewusstsein von besonderer Bedeutung. Gemeint ist die Erfahrung von Druck und Wärme über feinere Sinneswahrnehmungen wie Strömen, Vibrieren und so weiter bis zu den subtilen Ebenen von Energie. Wenn wir bewusst in Verbindung gehen mit dem inneren Körper, also in direkten Kontakt mit uns selbst kommen, lassen wir uns von Gedanken nicht so leicht dominieren. Auf diese Weise entziehen wir der Außenwelt die Macht, unsere Innenwelt zu gestalten. In der Folge bleiben die Kanäle zu unserer intuitiven Weisheit offen.

Mir erschien es in jener Nacht einerseits absurd, das ganze „Reanimationsprogramm aufzufahren“, eine innere Stimme sagte mir, dass Jonas in Frieden sterben wolle und meinen Beistand brauche. Aber natürlich gab es in mir auch Gedanken, die mich zum konkreten medizinischen Tun und Machen drängten. Während dieser Zeit hatte ich immer wieder den Eindruck, nun sei Jonas endlich gestorben – bis mich dann ein Schnappatemzug etwa alle 15 Minuten eines anderen belehrte. Ich verließ Jonas nur kurz, um der Mutter zu berichten, was geschehen war, dass ihr Kind also entgegen der ursprünglichen Einschätzung noch nicht gestorben sei. Auch bat ich sie behutsam um ihre Entscheidung, wie nun weiter zu verfahren sei. Jonas Mutter fühlte sich überfordert, wollte ihr Kind nicht sehen und ließ ausdrücklich die weitere Entscheidung in meinen Händen.

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Wenn wir uns subtiler in unseren Körper einfühlen und uns mit tieferen Bewusstseinsebenen verbinden, erleben wir eine Verbundenheit und stille Kraft, aus der sich ganz natürlich und ohne weiteres Zutun universelle Liebe (Metta) und Mitgefühl entfalten.

Demzufolge haben wir aus tiefer Selbstverbundenheit, aus Nähe zu uns selbst, ganz andere Entscheidungsmöglichkeiten, zum Beispiel zu handeln oder eben nicht zu handeln, als wenn wir allein aus unserem konditionierten Oberflächenbewusstsein, dem Verstandesbewusstsein, heraus entscheiden.

Ich verbrachte die restlichen Nachtstunden neben Jonas. In mir war ein tiefes Berührtsein und eine mitfühlende Verbundenheit spürbar, dennoch gab es auch quälende Momente von Unsicherheit und Selbstzweifel angesichts meiner Entscheidung, nicht zu handeln. Im Raum war Stille und Würde, niemand störte uns. Ich rezitierte Wünsche der Liebenden Güte (Metta) für Jonas. Gleichzeitig konnte ich nicht verstehen, warum sich dieser Prozess so lange hinzog. Ich hatte damals schon langjährige geburtshilfliche Erfahrung, doch so etwas hatte ich noch nie erlebt. Es schien, als wäre Jonas Seele teils bereits losgelöst, teils aber auch noch mit seinem kleinen Körper verbunden.

Wenn wir mittels liebevoller Achtsamkeit über Körpereinfühlung in größere Nähe zu uns selbst kommen, erleben wir gleichzeitig Verbundenheit mit der tieferen Natur von allem, was uns umgibt.

Gleichzeitig können wir die Situation umfassender erkennen und ergründen. Der gewöhnliche Geist nimmt eine Erfahrung als einen Komplex wahr. Auf diese Weise kann sich leicht Energie in diesem Erfahrungskomplex aufbauen; für uns wird die Situation dann schnell bedrohlich und überfordert uns. Indem wir die Situation tiefer ergründen und die Erfahrung in ihre Einzelteile zerlegen, nämlich körperliche Empfindungen – Gedanken – Emotionen – Reaktionstendenzen, verliert sie ihre bedrohliche oder verwirrende Macht.

„Wenn du in der Falle sitzt, nimm sie auseinander. Wenn du eine Falle in ihre Einzelteile zerlegt hast, kann sie nicht mehr zuschnappen. Die Folge ist Freiheit“, rät sinngemäß Bhante Gunaratana.

Der Weg aus einer Falle beinhaltet, sie auseinanderzunehmen. Der Weg, um mit schwierigen Situationen um zugehen, besteht darin, zunächst Nähe zu sich selbst über subtile Körpereinfühlung herzustellen. Damit öffnen sich die Kanäle zu den eigenen Ressourcen, und darauf aufbauend vermögen wir die Situation genauer zu ergründen.

Je achtsamer wir die mit der Situation verbundenen Erfahrungsfaktoren im Geist untersuchen, desto weniger können sie uns blind steuern. Je weniger wir uns vereinnahmen lassen, das heißt, je freier der Geist ist, umso klarer, angemessener und herzgeleiteter werden unsere Entscheidungen sein. Was angemessen und ethisch ist, ändert sich mit der Situation. Eine Verhaltensweise, die unter bestimmten Umständen angemessen ist, mag unter anderen Bedingungen unangemessen sein. Eine Reanimationssituation bei einem Frühgeborenen von 300 oder 400 Gramm braucht andere Entscheidungen als bei einem Frühgeborenen von 800 oder 1000 Gramm.

Das Erkennen und Ergründen einer Situation bezieht sich nicht nur auf deren einzelne Bestandteile, sondern auch auf die Bedingtheit und Vergänglichkeit eines jeden Anteils. Auf diese Weise tritt die ichbezogene konditionierte Sicht zurück zugunsten einer weiteren Perspektive auf die Situation. Gleichzeitig wird deutlich, inwieweit gerade eigene wunde Bereiche und unaufgelöste innere Muster berührt werden.

Körperfühlbewusstheit und eine damit verbundene innere Balance und Herzlichkeit verhindern, dass problematische Persönlichkeitsanteile maßgeblich unsere Entscheidungen beeinflussen.

Solche Muster in mir wollten auch in jener Nacht zum Handeln drängen, um die Situation wieder „in den Griff zu bekommen“, auch um mich juristisch abzusichern. Andere Anteile in mir waren sich sicher, dass die Spannung des „Noch-Nicht“ zwar unangenehm, aber in einem größeren Zusammenhang stimmig sei. Aus tiefer, fühlender Verbindung entstehen Beruhigung und verfeinerte Sammlung. Letztere ermöglicht, subtilere Aspekte der jeweiligen Situation wahrzunehmen. Zudem verfügt ein gesammelter Geist über die Kraft, Entscheidungen auch umzusetzen, sei es zu handeln oder bewusst nicht zu handeln.

Tief im Körper verbunden, mit gesammeltem Geist und offenem Herzen wird sich eine gütige ethische Haltung in unseren Entscheidungen manifestieren, und zwar nicht als Ergebnis besonders klugen Nachdenkens, sondern als spontaner Ausdruck dieses wertvollen Geisteszustandes.

Es entscheidet dann nicht maßgeblich unser kleines Ich mit seinen Konditionierungen, Konzepten und Ängsten, sondern eine überpersönliche Herzensweisheit.

Gegen Mittag war Jonas Mutter bereit, ihn zu sehen. Sie hielt ihn im Arm, als er am Nachmittag ein letztes Mal ausatmete.

Wilfried Reuter

Wilfried Reuter war Schüler von Ayya Khema und eng mit ihr verbunden, leitet seit 1997 Meditierende an und ist spiritueller Leiter des Lotos-Vihara-Meditationszentrums in Berlin. Er arbeitet als niedergelassener Frauenarzt, verfügt über langjährige Erfahrung in der Geburtshilfe und Sterbebegleitung und ist Autor mehrerer Bücher.

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