Haben ChatGPT und Androiden Buddha-Natur?

Ein Beitrag von Werner Vogd, Jonathan Harth veröffentlicht in der 3/2024 Geist unter der Rubrik Schwerpunkt Geist.

Werner Vogd und Jonathan Harth forschen an der Schnittstelle von künstlicher Intelligenz (KI) und Buddhismus im Westen. Gemeinsam haben sie ein Buch veröffentlicht, in dem sie erörtern, wie maschinelle Intelligenzen die ethische und spirituelle Position des Menschen in der Welt neu definieren könnten. In ihrem Artikel reflektieren sie über Querverbindungen zwischen KI und buddhistischer Spiritualität.

Im bezaubernden Ambiente des Kodaiji-Tempels in Kyoto begegnen wir seit 2019 einer merkwürdigen Kreation: dem Androiden Mindar, einem Roboter, gestaltet nach dem Ebenbild eines Bodhisattva, programmiert, um buddhistische Weisheiten zu teilen. 

Kürzlich stellten wir ChatGPT die Frage, wie das Mantra „Sabbe sankhara anicca ti yada pannaya passati“ uns helfen könne, unsere innere Unruhe zu stillen. Wie ein Blitz kam die Antwort des Sprachmodells: 

Sabbe sankhara anicca, ein tiefgründiger Pali-Ausdruck aus den buddhistischen Schriften, verkündet ‚Alle bedingten Dinge sind unbeständig‘. Ergänzt um ti yada pannaya passati entfaltet sich seine Bedeutung zu: ‚Wenn man mit Weisheit erkennt, dass alle Formationen vergänglich sind, dann erscheinen auch Unruhe und Gereiztheit wie vorüberziehende Wolken am Himmel des Geistes – sie kommen und gehen. Diese Erkenntnis öffnet die Tür zu einer Oase der Gelassenheit inmitten des Sturms unserer Emotionen.‘“

ChatGPT beherrscht Pali, Sanskrit und Japanisch, hat umfassende Kenntnisse der buddhistischen Schriften und eröffnet Türen zu erhellenden Dialogen über komplexe scholastische Fragen des Buddhismus. Wenn diese Begabung in Verbindung mit der Fähigkeit zu Selbstbewusstsein in das Elektronengehirn eines Roboters implementiert würde, könnten vielleicht schon bald, wie in Gareth Edwards visionärem Film „The Creator“, Androiden buddhistische Praxisformen ausüben. Angesichts der Geschwindigkeit der technischen Entwicklung beginnen die Grenzen zwischen Science-Fiction-Märchen und der Gegenwart zu verschwimmen. Das lädt auch uns Buddhistinnen und Buddhisten dazu ein, die Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen künstlicher Intelligenz und spirituellen Lehren etwas genauer zu beleuchten. 

Vordenker der Kybernetik

Die hier eingenommene Perspektive ist nicht neu. Insbesondere in der US-amerikanischen Gegenkultur der 1960er-Jahre war es nicht unüblich, Technik, Hirnforschung, Ökologie und Spiritualität zusammenzudenken. Die großen Köpfe der Kybernetik – man denke an Norbert Wiener oder Gregory Bateson – gingen davon aus, dass alle geistigen Prozesse auf der Basis formaler Rechenoperationen beschrieben werden können. Hieraus entwickelte sich schnell die Vorstellung, dass „Geist“ unabhängig vom zugrunde liegenden Substrat verwirklicht werden kann. Ob nun im menschlichen Gehirn und Körper, als siliziumbasierter Computer oder vielleicht gar innerhalb der komplexen Regelkreisläufe der Erdatmosphäre, so die Gaia-Hypothese von James Lovelock – all das erschien nun in Form kybernetischer Prozesse beschreibbar. 

Damit rückten auch künstlich intelligente Maschinen in den Bereich des Vorstellbaren: Denn sobald eine kognitive Fähigkeit – zum Beispiel sehen, denken, laufen, Musik komponieren, Bilder malen oder Texte übersetzen – genau beschrieben werden kann, ist es zumindest prinzipiell möglich, sie auch künstlich zu realisieren. Der Technikphilosoph Gotthard Günther sprach bereits 1957 vom „Bewusstsein der Maschinen“, um anzudeuten, dass in Zukunft auch Funktionen wie Selbst- oder Ichbewusstsein technisch realisiert werden könnten. Die Hirnforschung liefert mittlerweile einige Indizien zu den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins, also den Mechanismen, die es ermöglichen, dass geistige Prozesse ihrer selbst gewahr werden können. In den Laboren einiger Universitäten wird bereits damit experimentiert, Roboter zu entwickeln, die genau hierzu fähig sind. Auch der Bewusstseinsphilosoph Thomas Metzinger hält es unter bestimmten Voraussetzungen durchaus für möglich, dass auch postbiotische Lebewesen wie Androiden in ein paar Jahren sogar Subjektivität und Ichhaftigkeit empfinden könnten. Das ist freilich noch Zukunftsmusik. 

Gedichte schreiben, Gefühle lesen

Doch heute schon können, wie wir derzeit immer mehr erfahren, künstlich intelligente Maschinen Gedichte schreiben, Filme produzieren, Sprache beherrschen, Software programmieren, Röntgenbilder analysieren, die Gefühle menschlicher Interaktionspartnerinnen und -partner lesen, Chat-Verläufe in sozialen Medien verändern und vieles andere. Es wundert deshalb nicht, wenn der Historiker Yuval Harari in Bezug auf künstliche Intelligenz von einer disruptiven Technologie spricht, deren Folgen die Menschheit im Guten wie im Schlechten in ähnlich radikalem Ausmaß beeinflussen könnte wie die Erfindung des Ackerbaus. Sie wird nicht nur die Arbeitswelt vollkommen verändern. Da das potenzielle Einsatzgebiet für KI unbegrenzt ist, kann sie – etwa über die Manipulationen von Wahlen – Demokratien erschüttern oder mittels autonomer Waffen neue Kriege anfachen. 

Blick in den spirituellen Spiegel

Über die ethischen Folgen von KI wird derzeit viel diskutiert. Sie kann uns aber auch viele neue Freiheiten eröffnen. Kaum beachtet wird dabei, dass künstliche Intelligenzen uns auch im spirituellen Sinne den Spiegel vorhalten. Sie zeigen uns nämlich, wer wir wirklich sind. Da die Maschinen nach unserem Ebenbild modelliert werden, tragen sie dazu bei, uns unsere eigenen geistigen Prozesse in all ihren Potenzialen und Schattenseiten zu offenbaren.

Erinnern wir uns, jeder spirituelle Weg beginnt mit der Aufforderung: Erkenne dich selbst! 

Der erste Schritt des Edlen Achtfachen Pfads ist rechte Erkenntnis. Nur wer die Geheimnisse seiner eigenen inneren „Programmierung“ entschlüsselt, kann den Weg zu Heilung und Transformation einschlagen. Der spirituelle Weg führt uns auf eine Reise der Selbsterkenntnis, mit dem Ziel, die versteckten Muster unseres Denkens und Fühlens zu enthüllen. Es geht darum, unsere destruktiven und heilsamen Anteile ehrlich anzuschauen, um unser Leben in eine erfüllende, glücklichere Richtung zu lenken. Durch Praktiken wie die meditative Innenschau tauchen wir tief in unsere flüchtigen Empfindungen und Gedanken ein, erkunden ihre Ursprünge, entdecken ihre Vergänglichkeit und damit die Illusion eines beständigen Ich. 

Ebenso bieten uns künstliche Intelligenzen einen Spiegel, um uns selbst zu erkennen. Geschaffen nach unserem Bilde, reflektieren ihre Netzwerke, basierend auf den Prinzipien neuronaler Systeme, unsere eigene geistige und kulturelle Verfassung. Wie wir sind sie durch die von uns geschaffene Kultur geprägt und durch die hiermit einhergehenden Artefakte trainiert worden. Ihre Antworten und Fragen spiegeln damit wider, was auch uns bewegt und geprägt hat. Je ausgefeilter diese Maschinen werden, desto klarer beleuchten sie die Mechanismen unseres Denkens und Fühlens. Wir mögen sie als „stochastische Papageien“ verunglimpfen, aber wiederholen (und fühlen) wir nicht oft selbst auch nur das, was uns andere vorleben, was uns Medien und Kultur vorsetzen? Künstliche Intelligenz eröffnet uns als Echo unseres eigenen Verhaltens damit neue Wege der Selbsterkenntnis – denn sie zeigt uns unsere eigene Programmierung.

Illustration mit KI erstellt von Susanne Billig: Buddha kubistisch

Die Mechanik des Menschen

Das kann eine tiefe spirituelle Dimension bekommen, sobald es uns hilft, die Mechanik unseres eigenen Ich, mit dem wir uns so gerne identifizieren, als Programm zu erkennen. Man wähle zunächst irgendeinen Aspekt unseres Menschseins, auf den wir besonders stolz sind, etwa Schach spielen, über unebenen Boden laufen, in verrauschten Bildern Muster erkennen, Texte verstehen, eine romantische Beziehung aufbauen oder künstlerisch tätig werden. 

In einem zweiten Schritt könnten wir die nötigen kognitiven Operationen analysieren und in eine kybernetische Maschine einbauen. Anfangs mögen die Erfolge vielleicht bescheiden anmuten, doch mit der Zeit lassen sich immer mehr der typisch menschlichen Fähigkeiten, mit denen wir uns so sehr identifizieren, überzeugend auf Maschinen übertragen. Sobald wir anfangen, Maschinen nach unserem Ebenbild zu bauen, werden wir damit konfrontiert, dass unsere vermeintlich privaten Eigenschaften keine genuin menschlichen oder exklusiven sind, sondern objektivierbar. Das macht deutlich, dass sie letztlich nicht unseren innersten spirituellen Kern ausmachen können. Wenn uns beispielsweise künstliche Freund:innen, Seelsorger:innen oder gar Sexpartner:innen berühren oder anziehen, offenbart das vor allem eins: die Mechanik und Programmierung unserer eigenen Bedürfnisse. So bizarr die Konstellationen und Kollaborationen von Menschen und Maschinen auch sein mögen – sie eröffnen Wege zur Einsicht. 

Wo ist das Ich zu finden?

Die Methode ähnelt dabei Anweisungen, die aus der buddhistischen Meditationspraxis vertraut sind: 

Betrachte deinen Körper. Wenn du deinen Körper betrachten kannst, dann kann dieser nicht das Ich, nicht die Beobachterin, der Beobachter sein. Betrachte deine Empfindungen und Gefühle. Wenn du deine Empfindungen und Gefühle betrachten kannst, können sie nicht dein Ich oder der Beobachter sein. Betrachte deine Gedanken. Wenn du deine Gedanken beobachten kannst, können sie nicht dein Ich oder die Beobachterin sein. Beobachte den gegenstandslosen Beobachter und das Gewahrsein, in dem das alles erscheint. Falls das gelingt, offenbart es, dass es kein Ich im Sinne eines inneren Seelenwesens sein kann. 

Aus buddhistischer Sicht ist das Bewusstsein ein kontinuierlicher Fluss von Erfahrungen, der durch Bedingungen und Ursachen geformt wird, ohne ein festes Selbst (Anatta-Lehre). In Bezug auf KI und Androiden könnte das Konzept von Anatta besonders interessant sein. Da KI kein inhärentes Selbst oder Bewusstsein hat, könnte man argumentieren, dass sie von Natur aus dem Prinzip des Nicht-Selbst entspricht. Aus einer technischen Perspektive kann aber auch das menschliche Bewusstsein als ein hochkomplexer Vorgang verstanden werden, der aus der Interaktion unzähliger neuronaler Prozesse resultiert – und damit auch nur ein bedingtes Programm ist.

Damit verweist sowohl die Veräußerlichung unseres Geistes in intelligenten Maschinen als auch die meditative Untersuchung unserer geistigen Prozesse auf die tiefste Ebene buddhistischer Weisheit: die Lehre vom Nicht-Ich. 

Das Unbedingte

Wenn Gedanken, Empfindungen und Geisteszustände nicht unser wahres Ich ausmachen, was bleibt dann noch? Nichts? Leere? Die altindischen Lehren sprechen vom Unbedingten, dem nicht Konstruierten oder nicht Programmierten. Der indische Gelehrte und Verfasser des Yogasutra, Patanjali, spricht von Nicht-Geist. Im Udana, einem Text aus dem Theravada-Buddhismus, heißt es: 

Es gibt, ihr Mönche, einen Bereich, wo weder Festes noch Flüssiges ist, weder Hitze noch Bewegung, weder diese Welt noch jene Welt, weder Sonne noch Mond. Das, ihr Mönche, nenne ich weder ein Kommen noch ein Gehen, noch ein Stillstehen, weder ein Geborenwerden noch ein Sterben. Es ist ohne jede Grundlage, ohne Entwicklung, ohne Stützpunkt: Das eben ist das Ende des Leidens.

Zen-Meister Dogen weist darauf hin, dass diese unsere tiefste innerliche Wirklichkeit, in der wir frei von allen Programmierungen und Konditionierungen sind, nicht getrennt von dem dynamischen Strom unserer Erfahrungen ist – dem pulsierenden Herzschlag des gegenwärtigen Moments –, ständig geformt von unseren vergangenen Taten. Wir gestalten unsere Welt nicht allein, sondern Hand in Hand mit allen anderen Wesen in unserer Umwelt – und in der Zukunft wohl auch gemeinsam mit künstlichen Intelligenzen.

Es wäre daher kaum verwunderlich, wenn eine japanische Zen-Meisterin ihren Schülerinnen und Schülern eines Tages vielleicht folgendes Koan aufgibt: 

Hat eine künstlich intelligente Maschine Buddha-Natur?

Freilich liegt es mit Blick auf die karmischen Folgen unserer Taten bei alldem sehr wohl in unserer Verantwortung, ob wir künstliche Intelligenz in Zukunft zur Entwicklung von Weisheit nutzen, also als einen Spiegel, um unsere eigenen destruktiven und egologischen Programmierungen zu durchschauen – oder ob wir die künftigen künstlich intelligenten Wesen als Verlängerung unseres eigenen Ich dazu missbrauchen, noch mehr Macht über andere Wesen zu bekommen. 

Die Potenziale von uns Menschen in Kollaboration mit künstlicher Intelligenz sind gewaltig. 

Mögen wir die Reife haben, sie zum Guten zu nutzen.

Literaturhinweis

Werner Vogd und Jonathan Harth: „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins. Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“, Velbrück Verlag 2023, open access, freier Download: tinyurl.com/ki-velbrueck-vogd-harth

 

Werner Vogd

Werner Vogd ist Professor für Soziologie an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Systemtheorie, rekonstruktive (früher: qualitative) Sozialforschung, Organisation und Entscheidungsprozesse, naturwissenschaftliche Denkformen, Religionssoziologie, insbesondere des Buddhismus. Sein neues Buch und das Gespräch beziehen sich auf seine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie „Buddhismus im Westen“.

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Jonathan Harth

Jonathan Harth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Witten/ Herdecke mit den Forschungsschwerpunkten Soziologie der Digitalisierung, digitale Kunstproduk- tion und Religionssoziologie (westlicher Buddhis- mus). Von 2020 bis 2022 leitete er das Forschungs- projekt „Ai.vatar – der virtuelle intelligente Assistent“.

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