Gewaltfreie Kommunikation – das Wunder der Verständigung
Gerade wenn sie gebraucht wird – im Streit –, macht sich mitfühlende Kommunikation oft rar. Es kommt zu verbalen Angriffen, Vorwürfen und Verurteilungen. Sich für die Bedürfnisse anderer zu öffnen baut Brücken der Verständigung. Das sagt der Rechtsanwalt, Mediator und Zen-Lehrer Christoph Rei Ho Hatlapa.
Was Sie als Nächstes sagen, wird Ihre Welt verändern.
Marshall B. Rosenberg
Es ist für mich ein Wunder, dass Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet sind, sich durch Sprache zu verständigen. In der aktuellen Krisenzeit jedoch – Krieg, Inflation, ökologische Herausforderungen, Klimaerhitzung – sind viele Menschen stark von Ängsten und Sorgen besetzt. Das erhöht ihre Bereitschaft, andere zu Sündenböcken und Alleinschuldigen zu erklären und davon auszugehen, dass es nicht möglich sei, sich mit ihnen zu verständigen. Die Verbreitung einer gewaltfreien mitfühlenden Sprache könnte einen Quantensprung in der Kommunikation bewirken. Warum das so ist und wie es gelingen kann, möchte ich hier erläutern.
Die Vision des Buddha übernehmen
Der Buddha, dem mitfühlende Sprache ein Herzensanliegen war, sprach einst von den vier analytischen Arten des Wissens (patisambhida), dem Wissen vom Erwachen (atha-patisambhida), dem Wissen von den Lebensgesetzen (dhamma-patisambhida) und dem Wissen von einer dem erwachten Leben dienenden Sprache (nirutti-patisambhida). Das vierte Wissen, das Wissen von der Geistesgegenwart (pati bhana-patisambhida), bezeichnet die Integration der vorgenannten drei durch Übung.
Sich in einer dem Leben dienenden Sprache zu üben ist somit ein Weg, sich die Vision des Buddha zu eigen zu machen, und könnte uns dem Ziel einer erwachten Weltgesellschaft ein gutes Stück näherbringen. Die große Wirkung hat der Zen-Meister Dogen schon vor über 700 Jahren beschrieben:
Sei dir bewusst, dass mitfühlende Sprache sich nicht darin erschöpft, die Verdienste anderer zu preisen, sondern dass sie die Kraft hat, das Schicksal eines ganzen Landes zum Guten zu wenden.
Natürliches Mitgefühl
Mitgefühl ist natürlich. Fast alle Eltern verfügen nach der Geburt ihres Kindes über die Fähigkeit, den Körperausdruck des Neuankömmlings in Hinblick auf die in ihm lebendigen Gefühle und Bedürfnisse zu deuten. Heute wissen wir, dass besondere Spiegelnervenzellen uns ermöglichen, das Verhalten eines anderen Menschen in uns zu simulieren und dadurch zu erfahren, wie sich die oder der andere fühlt.
In der frühen Lebensphase der Sprachlosigkeit konnten wir alle die Wunder des Mitgefühls und der Achtsamkeit am eigenen Leib erfahren: Andere errieten auf geheimnisvolle Weise aus unseren Gesten, was wir brauchten. Sie gaben uns zu essen, zu trinken, wechselten unsere Windeln und zogen uns warme Jäckchen an, ohne dass wir überhaupt zu einer Bitte fähig gewesen wären. Vor allem nahmen sie unser überlebenswichtiges Bedürfnis nach Verbindung wahr. Denn seit unserer Geburt sind wir soziale Wesen, die Austausch und Geborgenheit brauchen. Wahrscheinlich ist es die frühe Lebenszeit, die das Urbild liebevoller Kommunikation als einem paradiesischen Zustand in uns prägt. Noch als erwachsene, sprachmächtige Wesen ersehnen wir diese Art des Gedankenlesens und wortlosen Verstehens von unserer Partnerin oder unserem Partner.
Vier Elemente des achtsamen Sprechens
Hilfreicher als unausgesprochene und unrealistische Erwartungen wäre es allerdings, unsere Gefühle und Bedürfnisse klar zu benennen. Das führt uns zu der Frage, wie sich die Prinzipien einer friedensschaffenden Sprache konkret einüben lassen.
Marshall Rosenberg benennt als zentrale Kompetenz einer solchen Sprache das einfühlsame Zuhören, was bedeutet, auf die Gefühle und Bedürfnisse der oder des anderen in jeder Gesprächssituation einzugehen. Um auch in einer zugespitzten Situation Verständigung zu erreichen, sind für den Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) vier Achtsamkeitselemente entscheidend:
- Eine Beobachtung über die klärungsbedürftige Situation mitzuteilen (anstatt: die Situation zu interpretieren)
- Die Gefühle zu benennen, mit denen die Sprecherin oder der Sprecher auf die Fakten reagiert (anstatt: von Gedanken darüber zu sprechen)
- Die Bedürfnisse hinter diesen Gefühlen anzusprechen (anstatt: eine Strategie zu verfolgen)
- Eine konkrete und erfüllbare Bitte zu formulieren (anstatt: eine Forderung)
Das mag abstrakt klingen. Daher soll das folgende Beispiel aus dem Schulalltag helfen, es konkret zu machen. Als Ausgangssituation können wir uns vorstellen, dass ein Schüler während des Unterrichts aus dem Fenster schaut. Ohne die vier Achtsamkeitselemente könnte seine Lehrerin so mit ihm sprechen:
Du interessierst dich offenbar wenig für meinen Unterricht. (Interpretation) Das finde ich respektlos. (Gedanke) Du schreibst jetzt alles auf, was du in dieser Stunde gelernt hast. (Strategie) Das legst du mir bis morgen früh um 8 Uhr in mein Fach. (Forderung)
Weder die Bedürfnisse des Schülers noch die der Lehrerin kommen hier vor. Zudem wird, wenn die Lehrerin von ihrer Macht Gebrauch macht, der Schüler inneren oder äußeren Widerstand leisten. Eine Kommunikationsblockade entsteht.
Anders gestaltet sich die Situation mit den vier Achtsamkeitselementen:
Ich sehe, dass du aus dem Fenster schaust. (Beobachtung) Das irritiert mich. (Gefühl) Ich brauche Aufmerksamkeit für mein Unterrichtsthema. (Bedürfnis) Bist du bereit, dem Unterricht jetzt zu folgen, oder brauchst du vorher noch etwas anderes? (Bitte)
Hier benennt die Lehrerin sowohl ihr Gefühl wie auch ihr Bedürfnis und signalisiert ihre Bereitschaft, auch etwas über das Bedürfnis des Schülers zu erfahren. Der Schüler könnte dann sagen: „Ich kann mich besser konzentrieren, wenn ich aus dem Fenster schaue.“ Auf diese Weise kann die Lehrerin die Situation offen und kooperativ mit dem Schüler gemeinsam gestalten – Verbundenheit wird erlebbar.
Eine Brücke des Verstehens
Starke Gefühle im Streit rühren von unerfüllten Bedürfnissen her; das betont Marshall Rosenberg immer wieder. Unsere Bedürfnisse grundieren die Motive unseres Lebens, und der Grad ihrer Erfüllung spiegelt sich wider in unserem Ausdruck von Heiterkeit oder Bedrücktheit. Existenzielle Bedürfnisse sind Ausdruck unserer Buddhanatur. Unsere Lebendigkeit drückt sich in ihnen aus.
Oft sind den Parteien in einem Streit ihre Bedürfnisse gar nicht bewusst. Unter anderem deshalb ist es so wichtig, sich in die Rolle der oder des einfühlsamen Zuhörenden zu begeben, denn auf diese Weise können wir dazu beitragen, dass jede Konfliktpartei sich ihrer Gefühle und Bedürfnisse bewusst wird. Die Zuhörerin oder Zuhörer kann zudem dafür sorgen, dass die Streitbeteiligten auch die Bedürfnisse der Gegenseite verstehen.
Auf diese Weise erzeugt die Gewaltfreie Kommunikation eine Brücke des Verstehens. Denn schließlich sind wir alle mit denselben Bedürfnissen geboren – um das Bedürfnis eines Geflüchteten nach Schutz und Unterstützung zu verstehen, müssen wir nicht selbst obdachlos sein. Dasselbe gilt für alle anderen Grundbedürfnisse eines lebenden Wesens. Wenn ein existenzielles Bedürfnis unbeantwortet bleibt, können wir die Not unseres Gegenübers auf natürliche Weise mitfühlen, weil wir es von uns selbst nur allzu gut kennen.
Wenn sich die Positionen verhärten
Wie oben schon angesprochen, verschärfen sich in Krisenzeiten die Rahmenbedingungen der Verständigung. Der Meinungsstreit nimmt zu, Positionen verhärten sich, Menschen mit anderen Auffassungen werden zu Gegnerinnen und Gegnern erklärt. In der Coronakrise konnten wir erleben, wie die Gesellschaft sich spaltete in „Impfgegner“ und „Impfbefürworter“. Daraus entwickelte sich eine Gegnerschaft, die zur Trennung von Familien führte und die Harmonie von ganzen Gemeinwesen untergrub. Statt einander einfühlsam zuzuhören, erschwerten Feindbilder den Austausch von Mensch zu Mensch. Häme und Aufrufe zur Rache breiteten sich aus.
Betrachten wir diese Lage aus der Perspektive der gewaltfreien Kommunikation, zeigt sich: Man hätte gut auf die Bedürfnisse aller Beteiligten eingehen können! Diejenigen, die den Umfang von Coronaschutzmaßnahmen individuell bestimmen wollten, brauchten es, mit ihrem Streben nach Autonomie, ihrem Mangel an Vertrauen in öffentliche Institutionen und ihrem Bestreben, sich unabhängig zu informieren, ernstgenommen zu werden. Diejenigen, die für Shutdowns und Impfkampagnen plädierten, brauchten Anerkennung für ihr Engagement, zur Sicherung der allgemeinen Gesundheit beizutragen, und für ihr Bedürfnis, eine gefährliche Krankheit solidarisch, gemeinschaftlich wirksam zu überwinden.
Auch im Lebensgarten Steyerberg – der Gemeinschaft, in der ich lebe – gab es wegen Corona eine tiefe Spaltung. Ein professioneller Mediator half uns in einer Zoom-Konferenz, einander zuzuhören und wieder zu spüren, dass wir die Ebene der Bedürfnisse alle miteinander teilen. Einmal mehr konnten wir erleben: Es überbrückt Gegensätze, wenn alle sich darum bemühen, die Bedürfnisse der jeweils anderen Seite zu verstehen.
Marshall Rosenberg fasst diese Erfahrung plastisch in Worte, wenn er schreibt:
Frieden erfordert etwas weitaus Schwierigeres als Rache oder das bloße Hinhalten der anderen Wange; er erfordert die Einfühlung in die Ängste und unerfüllten Bedürfnisse, die bei den Menschen für den Impuls sorgen, einander anzugreifen. Wenn sie sich dieser Gefühle und Bedürfnisse bewusst sind, verlieren sie ihren Wunsch, zurückzuschlagen, weil sie die menschliche Unwissenheit erkennen können, die zu diesen Angriffen führt. Stattdessen machen sie sich zum Ziel, für die empathische Verbindung und das Wissen zu sorgen, das sie befähigt, ihre Gewalttätigkeit zu transzendieren und sich für kooperative Beziehungen zu engagieren.
Die schwierige Einfühlung, von der der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation hier spricht, gilt selbstverständlich auch in Bezug auf unsere eigene Person. Mithilfe der gewaltfreien Kommunikation wird es möglich, eigenen Ärger, Schuldgefühle und auch die innere Stimme der vernichtenden Selbstkritik besser zu erkennen und einen neuen Umgang damit zu finden – auch das geschieht, indem wir die darunter liegenden Bedürfnisse verstehen. Auf diese Weise werden Ärger, Schuldgefühle und überzogene Selbstkritik zu Glocken der Achtsamkeit, die uns helfen, uns selbst besser zu verstehen. Dann können wir uns auch so verständlich machen, dass andere uns besser verstehen.
Zuhören wie Avalokiteshvara
Die Gewaltfreie Kommunikation hat viel mit dem einfühlsamen Vorgehen von Bodhisattva Avalokiteshvara – in manchen Kulturen als Mann, in anderen als Frau verehrt – gemeinsam. Avalokiteshvara hat ihr persönliches Erwachen durch Zuhören erlangt. Im Surangama-Sutra beschreibt sie ihr Einfühlen so:
Da ich selbst nicht über Töne und Klänge meditiere, sondern über den Meditierenden, veranlasse ich alle fühlenden Wesen in den Klang ihrer eigenen Stimme zu schauen, um Befreiung zu erlangen.
Das Surangama-Sutra erzählt, dass Avalokiteshvara der oder dem Leidenden in jeweils derjenigen Gestalt zu erscheinen vermag, die am wirkungsvollsten zur Unterstützung beiträgt. Das raumgebende Zuhören verleiht der Bodhisattva die Fähigkeit, in nicht weniger als 32 verschiedenen Verkörperungen zu erscheinen – eine symbolisch zu verstehende Zahl der vielen „Transformationskörper“, welche die Helferin einnehmen kann. In einer anderen Passage des Sutras werden dem Buddha die Erleuchtungssituationen von 25 Bodhisattvas geschildert. Durch Zuhören zu erwachen, schien ihm der beste Weg der Befreiung in unserer Welt.
Avalokiteshvara lässt sich nicht ablenken – weder vom Wortlaut noch von den Geschichten, Gedanken oder dem tragischen Ausdruck, den Bedürfnisse in einer gewaltvollen Sprache finden. Statt dessen verbindet sie sich unmittelbar mit den Meditierenden. Durch ihre Einfühlung stellt Avalokiteshvara den Raum zur Verfügung, der es den Befreiung suchenden Wesen ermöglicht, die Bedeutung des Klangs ihrer eigenen Stimme für sich selbst zu entschlüsseln. So wie die Bodhisattva verhält sich auch eine gut geschulte und begabte Mediatorin, die einer an Konflikten leidenden Streitpartei hilft, herauszubekommen, was sie braucht, damit sie sich aus ihrer schmerzvollen Lage selbst befreien kann.
Während sich die leidenden Wesen traditionell durch Meditation und Gebete an Avalokiteshvara wenden, haben wir als Menschen in einer Welt der Konflikte und des Leidens die wunderbare Möglichkeit, selbst zu Avalokiteshvara zu werden. Auch wir können unseren Mitmenschen in der für sie hilfreichsten Form erscheinen und bedingungslose Anteilnahme üben. Dazu braucht es keiner besonderen Anstrengung. Es ist so, wie der vietnamesische Zen-Lehrer Thich Nhat Hanh sagt:
Wenn die Kraft der Achtsamkeit und des mitfühlenden Zuhörens in dir ist, kann deine Gegenwart eine heilende und beruhigende Wirkung auf andere ausüben. Du brauchst nur dazusitzen und dem Menschen, der sich dir anvertraut, zuzuhören.
Wir leben in einer Zeit, in der Milliarden für Aufrüstung und Abschreckung ausgegeben werden. Gewaltfreie Kommunikation erlaubt es uns, von einer Großzügigkeit Gebrauch zu machen, die keine Milliarden kostet. Statt Feindbilder zu verhärten, können wir uns mit ihrer Hilfe dem Leben anvertrauen und den weiten Raum der Empathie betreten, von der unser Herz immer weiß, dass es ihn gibt. Nutzen wir also die Gewaltfreie Kommunikation, denn sie ist eine großartige Ressource. Setzen wir auf unser mitfühlendes Herz.
Weitere Informationen
gewaltfrei-steyerberg.de; mediation-steyerberg.de; choka-sangha.de
Literaturhinweis
Marshall B. Rosenberg: „Die Sprache des Friedens sprechen – in einer konfliktreichen Welt“, Junfermann Verlag 2006
Christoph Rei Ho Hatlapa
Christoph Hatlapa, Rechtsanwalt und Mediator, ist Gründungsmitglied des Zentrums Gewaltfreie Kommunikation Steyerberg und der Schule für Verständigung und Mediation. Er lebt im Lebensgarten Steyerberg und ist dort Lehrer der Rinzai-Zen-Gemeinschaft Choka Sangha.