Geschlecht ist vor allem ein soziales Konstrukt
Das Geschlecht formt zutiefst unsere Erfahrungen und unser Selbstbild. Aber es ist ein Konstrukt, so der Karmapa Ogyen Trinley Dorje, ein Produkt unseres Geistes. Wir sollten uns dadurch nicht beschränken lassen.
„Für mich zählt die Fähigkeit, vom Herzen her zu sprechen und sanft und fürsorglich zu sein. Ob sie als männlich oder weiblich kategorisiert wird, interessiert mich nicht.“
Geschlechteridentitäten durchdringen so viele unserer Erfahrungen, und man könnt e leicht vergessen, dass es sich nur um Vorstellungen handelt − Vorstellungen, um Menschen zu kategorisieren. Männlich und weiblich werden oft wie Kategorien mit ewiger Gültigkeit eingesetzt. Doch das sind sie nicht. Sie besitzen keine objektive Realität. Geschlecht ist ein Konzept und daher ein Produkt unseres Geistes − es hat keine absolute und vom Geist, der es erdacht hat, unabhängige Existenz. Geschlechteridentitäten haben keine inhärente, aus sich selbst heraus existierende Wirklichkeit.
Nichtsdestotrotz formt das Geschlecht unsere Erfahrungen und unser Selbstbild. Wir konstruieren unterschiedliche Identität en für Mann und F rau und halt en an ihnen fest. Obwohl sie keine objektive Realität besitzen, haben unsere Geschlechteridentitäten Konsequenzen für unseren Platz in der Gesellschaf t. Sie beeinflussen, wie viel Lohn wir für eine Arbeit bekommen und welche Rolle wir zu Hause in der Familie spielen. Sie nehmen Einfluss darauf, welche Aspekte unserer Persönlichkeit wir gern ausdrücken und welche nicht. Sie können die Kleidung bestimmen, die wir tragen, und sie haben Konsequenzen für unsere Beziehung zu unserem eigenen Körper. Die Gesellschaft nimmt die Unterscheidung von männlich und weiblich sehr ernst. Ganze Industrien verstärken Geschlechterideale, so zum Beispiel, dass Jungen stark und Mädchen sensibel sein sollten. Das sperrt uns in sozial konstruierte Kategorien ein und verursacht viel Leid.
Ich bin mir selbst nicht immer sicher bei der Unterscheidung von männlichen und weiblichen Qualitäten. Mir wurde bereits gesagt, ich hätte mehr weibliche als männliche Qualitäten. Ich weiß nicht so recht, was das bedeutet. Ich spüre nur, wie diese Qualitäten sich anfühlen, aber ich etikettiere sie nicht als männlich oder weiblich. Ich erfahre sie einfach. Mir ist wichtig, in der Lage zu sein, mich mit anderen auf der Herzensebene und durch wirkliche Gefühle zu verbinden. Für mich zählt die Fähigkeit, vom Herzen her zu sprechen und sanft und fürsorglich zu sein. Ob sie als männlich oder weiblich kategorisiert wird, interessiert mich nicht.
Ein Gleichgewicht benötigt beide Seiten
Unabhängig davon, wie wir menschliche Qualitäten einteilen, sollte jeder Mensch, ob Mann oder Frau, alle positiven Qualitäten entwickeln − ob die Gesellschaft sie nun als männliche oder weibliche Qualitäten bezeichnet. Diese Vorstellung wird auch innerhalb des tibetischen Buddhismus gelehrt. In tibetischen buddhistischen Schriften stellen Weisheit und Geschicklichkeit zwei hoch angesehene spirituelle Qualitäten dar: Weisheit wird als weibliche Qualität gesehen, Geschicklichkeit − die Fähigkeit, unter wechselnden Bedingungen die eigenen Ziele zu erreichen − als männliche. Das beste Ergebnis kann dann erreicht werden, wenn beide Qualitäten in Kombination auftreten. Deshalb sollten diese „männlichen“ und „weiblichen“ Qualitäten in jedem Menschen gleichermaßen entwickelt werden.
Der tibetische Buddhismus ist bekannt für seine Darstellungen von Gottheiten in sexueller Vereinigung. Diese Bilder stellen die Integration von männlichen und weiblichen Qualitäten dar. Sie erinnern uns daran, dass, egal wie eine Gesellschaft persönliche Eigenschaften etikettiert, jeder Mensch beide Seiten, männliche und weibliche, braucht, und zeigen, dass uns allen die Fähigkeit innewohnt, jede positive Qualität zu entwickeln. Unabhängig von dem Geschlecht, dem diese positiven Eigenschaften jeweils zugeschrieben werden, ist es für uns alle wichtig und hilfreich, möglichst viele positive Qualitäten in uns zu vereinen. In Asien gibt es die Vorstellung von Yin, dem weiblichen, und Yang, dem männlichen Prinzip. Die nordamerikanische Urbevölkerung spricht von Mutter Erde und Vater Himmel. Für eine vollständige Welt brauchen wir beides. Wir brauchen beide Aspekte, um ganz Mensch zu sein.
Geschlechterideale verändern sich
Die Definition von Geschlechterrollen hängt davon ab, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit gebraucht wird. Dies lässt sich an jenen prähistorischen Zeiten beobachten, als die Menschen kämpfen und jagen mussten, um das Überleben ihres Klans zu sichern. Zu jener Zeit standen physische Kraft und Aggressivität hoch im Kurs. Da Männer Frauen im Allgemeinen physisch überlegen sind, spielten sie eine wichtigere Rolle, denn die Gemeinschaft hing vom Einsatz roher Gewalt ab. Doch die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen auch die Bedürfnisse der Gesellschaft. Wir sind keine Jäger und Sammlerinnen mehr. Heutzutage müssen wir zusammenarbeiten, um Frieden, Harmonie, Mitgefühl und Liebe zu entwickeln.
In unserer Ära von globaler Kommunikation und Massenvernichtungswaffen kann es nicht mehr darum gehen, anderen unseren Willen mit Gewalt aufzuzwingen, sondern darum, unterschiedliche Interessen miteinander zu vereinbaren. Es ist ein langer und allmählicher Prozess gewesen, aber ich glaube, wir leben heute in einer Welt, in der es nicht mehr darum geht, Manifeste zu verbreiten, sondern anderen zuzuhören. Besonders vor dem Hintergrund der unvorstellbaren Vernichtungsmaschinerien, die uns heute zur Verfügung stehen, wird deutlich, dass wir den Dialog suchen müssen und nicht gegeneinander kämpfen.
Die Zeit, in der wir leben, ruft uns auf, andere mit dem aufmerksamen und liebevollen Blick einer Mutter zu betrachten und nicht mit dem feindlichen Blick eines Kämpfers. Ich denke, die Qualitäten, die wir heute brauchen, sind diejenigen, die oft als weiblich beschrieben werden. Wir brauchen Kommunikation und einfühlsames Zuhören, wenn es um die Bedürfnisse anderer geht − Qualitäten, die in den meisten Gesellschaften der weiblichen Seite zugeschrieben werden. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Zeitalter der Jäger Geschichte ist. Jetzt steht eher eine weibliche Ära an − eine Ära, in der Frauen einen größeren Beitrag zur Gesellschaft leisten. Wenn wir weiterhin nicht wertschätzen, was Frauen in der Gesellschaft leisten können, werden wir ihnen weiterhin Leid zufügen. Wir werden fortgesetzt die Tugenden übersehen und entwerten, die als weiblich angesehen werden. Doch gerade sie braucht die Welt heute.
„Die Definition von Geschlechterrollen hängt davon ab, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit gebraucht wird.“
Das besondere Leiden der Frauen
Trotz all des sozialen Fortschritts werden Frauen in bestimmten Teilen der Welt immer noch nicht wie vollwertige menschliche Wesen behandelt. Die Gewalt gegen Frauen zeigt, dass sie nicht wie Menschen, sondern wie Objekte behandelt werden. Mir sind statistische Erhebungen bekannt, die davon sprechen, dass in Indien alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt wird. Das Gleiche gilt für die Vereinigten Staaten. Diese Situation ist äußerst ernst. Sie verdeutlicht, dass der Kampf um Frauenrechte nichts mit Gewinnen und Verlieren und nichts damit zu tun hat, Männern etwas wegzunehmen. Frauenrechte haben mit dem Respekt vor dem Leben und vor der Freiheit zu tun. Sie haben damit zu tun, unsere miteinander geteilte Menschlichkeit und die grundlegenden menschlichen Bindungen anzuerkennen.
Dieses respektvolle Gewahrsein kann weder rechtlich verordnet noch ökonomisch herbeigeführt werden. Allein die Tatsache, dass Vergewaltigungen so verbreitet sind, obwohl sie eine kriminelle Tat darstellen, zeigt, dass Gesetze nicht ausreichen. Wenn wir über Rechte sprechen, müssen wir in Betracht ziehen, wer Gesetze verabschiedet und kontrolliert und wie Gesetze durch unterschiedliche Parteien manipuliert werden können. Das Gleiche gilt für ökonomische Bedingungen, die Frauen unterstützen. Doch auch dies reicht nicht weit genug. Die Probleme gehen über Gesetzgebung und Sozialpolitik hinaus. Die Lösung muss tiefer gesucht werden – in uns selbst. Veränderung muss tiefer, auf der Ebene unserer Einstellungen geschehen.
So lange die leidbringenden Einstellungen bestehen, ist das Wohlergehen von Frauen weiterhin in Gefahr. Äußerer Wandel kann nicht ohne inneren Wandel stattfinden. Wenn ein Problem seine Wurzel in den Gewohnheiten des Denkens und Handelns einer Gesellschaft hat, werden Gesetze nur einen begrenzten Effekt haben. Man kann kein neues Denken verordnen. Wir tibetischen Buddhisten haben die Möglichkeit, etwas Praktisches zu tun, um die Dinge zu verbessern. Wir können die vollständige Nonnenordination einführen. Diese vollständige Ordination war in Indien möglich, doch in Tibet ist sie nie ganz etabliert worden. Anfangs glaubte ich, das hauptsächliche Problem, dies umzusetzen, liege in den monastischen Regeln und Grundsätzen. Doch mit der Zeit verstand ich, dass das eigentliche Problem darin besteht, wie die Gesellschaft über Nonnen und Frauen denkt. Inzwischen glaube ich, wir werden unser Ziel nur erreichen, wenn die tibetische Gesellschaft erkennt, wie wertvoll es ist, voll ordinierte Frauen zu haben.
Es mag Aspekte in den buddhistischen Lehren geben, die uns helfen können, weiser über Geschlechterfragen zu urteilen. Doch ich warne Sie davor, von buddhistischen Gesellschaften ideale Beispiele für gesunde Geschlechterkonstrukte und Praktiken für den Umgang der Geschlechter miteinander zu erwarten. Sie werden auf Gegebenheiten stoßen, die Sie nicht auf Ihr eigenes Leben übertragen wollen. Nicht alles an buddhistischen Institutionen ist perfekt und ganz besonders nicht im Falle der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Geschlechterideale schaden auch Männern
So wichtig es ist, auf die Konsequenzen von Geschlechterkonstrukten für das Leben von Frauen hinzuweisen, wir sollten nicht übersehen, dass diese gemachten Geschlechteridentitäten für Frauen wie für Männer problematisch sind. Männer werden genauso wie Frauen in soziale Rollen gepresst. Der in einer Gesellschaft etablierte Blick auf das Geschlecht von Menschen wird uns allen aufgedrängt.
Geschlechteridentitäten sind soziale Konstrukte, doch abgesehen davon gibt es natürlich offensichtliche biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau. Das Ziel kann nicht darin bestehen, diese Unterschiede auszulöschen, um vollständig identisch zu werden. Bestimmte physische Unterschiede können nicht geleugnet werden. Es ist in Ordnung, wenn einige Menschen auf medizinischem Wege ihr Geschlecht verändern wollen, doch das ändert nichts daran, dass es biologische Unterschiede gibt. Doch wir können die sozialen Bedeutungen dieser Unterschiede verändern, denn sie werden durch unsere Vorstellungen von Geschlecht geformt. Geschlechterkonstrukte beinhalten Vorstellungen davon, wie ein männlicher bzw. weiblicher Körper idealerweise aussehen sollte. So absurd dies auch ist, viele Menschen beginnen tatsächlich zu glauben, dass ihre Identität und ihr Glück davon abhängen, wie sehr sie diesem Ideal entsprechen.
„Verbunden mit ihrer innewohnenden Güte ist Ihre Eigenliebe so stark, dass Sie jeder Herausforderung durch Geschlechterkonzepte, die nicht für Sie realisierbar sind, begegnen können.“
Die inneren Werte finden
Es spielt keine Rolle, wie nah Ihr eigener Körper dem kommt, was die Gesellschaft als Ideal für Ihr Geschlecht ansieht. Ein perfekter Körper kann Sie nicht dauerhaft glücklich machen und er hilft Ihnen auch nicht dabei, die Höhen und Tiefen Ihres Lebens zu meistern. Was Sie tragen kann, sind Ihre eigenen tugendhaften Gedanken und Ihr edles Herz. Wie auch immer die Dinge im Außen scheinen, solange Sie Güte in sich haben, bewahren Sie einen Schatz in Ihrem Herzen. Auch wenn Sie glauben, Gründe zu haben, sich aufgrund Ihres Körpers oder Vorstellungen über Ihr Geschlecht nicht zu mögen, können Sie sich an Ihre tugendhaften Gedanken erinnern, und Sie werden immer einen Grund finden, sich selbst zu lieben. Freuen Sie sich an Ihren aufrichtigen Absichten. Alles beginnt mit einer Absicht. Ihre guten Absichten bleiben immer ein Teil von Ihnen, ein schöner Teil.
Der tiefste Grund, sich selbst zu lieben, liegt nicht im Außen − nicht in Ihrem Körper und nicht in den Erwartungen anderer Menschen. Wenn Sie Ihr Leben auf Ihrer eigenen Güte gründen, kann nichts Ihre Selbstachtung zerstören. Erfreuen Sie sich an Ihrer inneren Natur, an Ihren Tugenden, an all Ihren wunderbaren Qualitäten, egal, ob diese nun als weiblich oder männlich gelten! Mit dieser Freude beginnt alles. Solange Sie mit der Ihnen innewohnenden Güte verbunden sind, kann Ihre Eigenliebe stark genug sein, jeder Herausforderung durch Geschlechterkonzepte, die nicht für Sie realisierbar sind, zu begegnen.
Lassen Sie sich von niemandem sagen, wie Sie aussehen oder handeln müssten, weil Sie ein Mann oder eine Frau sind! Sie verfügen über ein grenzenloses Potenzial, das nur dann beschnitten wird, wenn Sie glauben, identisch mit ihrer sozialen Identität zu sein. Sie sind nicht ein maßgeschneidertes Objekt. Sie verfügen über eine unglaubliche Elastizität in dem, wer Sie sein können. Es liegt ganz an Ihnen zu entscheiden, welche Form und Gestalt Sie sich selbst geben.
Aus: Das edle Herz. Die Welt von innen verändern von Karmapa Ogyen Trinley Dorje, Berlin: edition steinrich 2014; gekürzt von Ursula Richard, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje
Ogyen Trinley Dorje ist einer der beiden offiziell inthronisierten XVII. Karmapas, Oberhaupt der Karma-Kagyü-Tradition des tibetischen Buddhismus. Der andere ist Thaye Dorje. Er lebt nach seiner Flucht aus Tibet im indischen Exil. 2014 besuchte er erstmals Deutschland. Er setzt sich sehr für die Gleichstellung der Frau, Umweltschutz, vegetarische Ernährung und den interreligiösen Dialog ein.