Es geht ums Mitgefühl
Ein Gespräch mit Ajahn Brahm über die Rolle der Frauen im Buddhismus, über die Notwendigkeit, Krankenhäuser statt immer größere Statuen zu bauen, und über das, was in seinen Augen den Buddhismus ausmacht. Das Gespräch führte Holger Stienen anlässlich des Besuchs von Ajahn Brahm in Hamburg Ende Oktober 2014.
Ajahn Brahm betritt barfuß, gefolgt von mehreren Nonnen, den Speisesaal der Pagode Bao Quang in Hamburg. Er ist total präsent, direkt und schaut mir während des ganzen Gesprächs in die Augen, ohne ein einziges Mal mit den Wimpern zu zucken.
Buddhismus aktuell: Ich habe ja gewusst, dass Sie Theoretische Physik studiert haben, aber dass Sie auch als Maurer und Installateur tätig waren…
Ajahn Brahm: Ja, in der Tat, ich habe in Cambridge Theoretische Physik studiert. Und Handwerker wurde ich notgedrungen in der ersten Zeit in Australien, nachdem ich neun Jahre in Thailand gelebt hatte. Wir wollten ein Kloster aufbauen, hatten aber keine Ressourcen, fast nichts. Dennoch konnten wir dank einiger Spenden nach einiger Zeit ein Grundstück erwerben, das einfach wildes Land war, ohne irgendein Gebäude. Da hat mir keine Theoretische Physik weitergeholfen, da mussten alle gemeinsam Hand anlegen und alles selber bauen. Zunächst gab es nur ein Kloster für die Mönche, das war erst einmal genug Arbeit. Es sollte ja auch alles qualitativ gut werden. Später haben wir in Westaustralien Land für ein Nonnenkloster erworben und dieses dann auch gebaut. Dabei haben dann die Nonnen tatkräftig mitgeholfen.
BA: Sie haben verschiedentlich zur Geschlechterfrage innerund außerhalb des Buddhismus Stellung bezogen, besonders auch in Bezug zu den als buddhistisch geltenden Gesellschaften Asiens.
AB: Nonnen gab es schon zur Zeit des Buddha. Nach dessen großem Erwachen (Erleuchtung) kam Mara zu ihm und bat ihn, nicht zu lehren, sondern ins Paranibbana einzugehen und zu verschwinden. Der Buddha aber antwortete ihm, dass er nicht aus dieser Welt verschwinden werde, bevor er nicht kraftvolle Sanghas etabliert habe: eine für Mönche, eine für Nonnen, eine für männliche und eine für weibliche Laien. Erst wenn diese erblüht seien, werde er sterben. So steht es in den Sutras. Bereits von Beginn seiner Lehrtätigkeit an plante der Buddha also, diese vier Sanghas einzurichten. Eben auch die der Frauen. Er hatte den Wunsch und sah die Notwendigkeit von Gleichheit vom ersten Tag an. Das ist die aufgezeichnete Tradition. Aber in Südostasien, besonders in Ländern wie Thailand, Laos und Kambodscha, wurde dies verdreht und später noch durch westliche Ideen, die die Vorrangstellung der Männer vor den Frauen propagierten, verstärkt. Die Menschen dort schauten sich die Originallehren des Buddha nicht genau an, sie folgten den Lehren ihrer Lehrer. Aber die Zeiten ändern sich, und diese Art Kultur wird auch in Thailand von den Menschen nicht mehr akzeptiert. Es gibt dort nur einige sehr konservative, rückwärtsgewandte Mönche, die daran festhalten. Inzwischen unterstützen aber auch führende Mönche und die Bevölkerung das Entstehen eines Nonnenordens.
BA: Ich las kürzlich, dass in Asien ca.100 000 Nonnen auf ihre volle Ordination warten. Welche Konsequenzen hätte das?
AB: Ich kann über die Zahlen nichts sagen. Tatsache ist, dass es jetzt die volle Ordination gibt. Hier neben mir sitzt eine dieser Nonnen. Und diese Ordinationen sind gültig und legal. Auf lange Sicht gesehen wird der Buddhismus wieder sein ursprüngliches Antlitz zurückerhalten. Mönche und Nonnen, männliche und weibliche Laien, sie werden den Buddhismus in viel größerem Maße für andere annehmbar machen. Die meisten Menschen wollen keine Religionen, die diskriminieren. Du kannst ja auch nicht sagen, wir wollen nur weiße und keine schwarzen Mönche. Damit kommst du nicht durch, besonders nicht hier im Westen. Die Menschen müssen wirklich gleichgestellt sein. Hier kommen die Milleniumsziele der Vereinten Nationen ins Spiel. Im Jahr 2000 haben alle Mitgliedsnationen dieses Dokument unterzeichnet, und für 2015 ist Geschlechtergleichheit das ausgegebene Ziel, das Ziel Nummer drei der UN. Daran muss der Buddhismus mitarbeiten. Jeder Soziologe weiß, wo Frauen maßgeblich beteiligt sind, gibt es sehr viel weniger Gewalt, Korruption, bessere Erziehung und eine gerechtere, sozialere Wirtschaft. Das ist bewiesen. Durch die gleiche Teilhabe von Frauen und ihre Beteiligung auch auf Leitungsebenen werden sich, besonders in Südostasien, Bildung sowie körperliche und geistige Gesundheit nachhaltig verbessern. Gesetzlich muss eine strenge Verfolgung und Bestrafung des Missbrauchs von Frauen und Kindern verankert werden. Es geht nicht nur um den Buddhismus, sondern um die gesamte Gesellschaft. Dafür muss der Buddhismus vorbildhaft stehen. Kürzlich traf ich eine muslimische Abgeordnete des holländischen Parlaments, die mir sagte, mit Verboten und Gewalt komme man gegen Islamisten nicht weiter. Was helfen werde, sei, den muslimischen Mädchen eine solide Ausbildung zu geben und eine angemessene gesellschaftliche Stellung. Dann werde es in diesen Gesellschaften nicht mehr zu solchem Extremismus und solchen Exzessen kommen, um die wir uns derzeit alle so viele Sorgen machen.
BA: Der Buddhismus wird also durch Frauen immer reicher, nachhaltiger, weil sie etwas anders machen?
AB: Ja, ganz genau! Wie gut ich als Mönch auch immer sein und helfen kann, ich bleibe ein Mann, mit dem Frauen eben nicht alles besprechen oder von dem sie nicht alles annehmen wollen. Und ich sehe hier die Frauen, Nonnen in klösterlichen Gemeinschaften, die den originären Buddhismus repräsentieren. Und die Menschen sind stolz auf sie, dass sie wie die Mönche für sie da sind. Sie fühlen, dass da etwas fehlt, wenn keine Nonnen da sind. Das ist der wirkliche Buddhismus hier im Westen. Ich komme gerade aus Kanada und hatte dort ein Gespräch mit dem Direktor der „Shambala Sun“, einer der bedeutendsten buddhistischen Zeitschriften weltweit. Er empfing mich mit den Worten: „Wundervoll, Sie hier zu haben. Was Sie getan haben, ist eine der wichtigsten, schönsten Sachen auf dieser Erde, den Nonnen-Sangha im Westen begründet zu haben, herzlichen Dank.“ Und das sind nicht einmal Theravada- Buddhisten dort, aber sie haben die große Bedeutung der Angelegenheit erkannt. Und das fühlen eben auch die Laien und sie sind sehr glücklich darüber, dass jemand damit begonnen hat.
BA: Vielleicht ist es im Westen etwas leichter, ohne die überkommenen Traditionen und in einer in diesen Fragen weiter fortgeschrittenen Gesellschaft.
AB: Da gibt es gar nicht so viele Unterschiede zwischen Ost und West. Es gibt inzwischen so viele Asiaten, die nach Europa kommen und hier leben, studieren, arbeiten. Und Westler heiraten AsiatInnen und leben hier oder gehen in deren Heimatländer. Die Differenzen sind viel geringer als vor 40 Jahren, als ich Mönch geworden bin. Und sogar in Ländern wie Burma verändern sich die Dinge schnell, wenn auch manchmal schmerzhaft für die Menschen; Thailand hat bereits eine moderne Gesellschaft. Die Weltkultur hält überall Einzug. Und überall wird Gleichheit eingefordert. Und die Führer müssen sie zugestehen, andernfalls wenden sich, wie in Thailand zu beobachten, die Menschen von ihnen und vom Buddhismus ab. Es gibt immer mehr Thais, die sich zwar Buddhisten nennen, aber schon lange nicht mehr in die Tempel gehen. Sie haben die Nase voll von einem Buddhismus des Mittelalters, der nicht die heutigen Notwendigkeiten wahrnimmt und zur Umgestaltung bereit ist.
BA: In einem Ihrer Artikel sprechen Sie davon, dass wir Buddhisten immer noch viele prächtige Stupas und Tempel bauen, aber nicht genug Schulen und Waisenhäuser.
AB: Wie viele Tempel brauchen wir wirklich? Müssen wir (Buddhisten) in Palästen leben? Wir müssen auf dem Teppich bleiben. Unser Tempel in Thailand war prachtvoll, und sogar ich hatte eine komfortable Wohnung. Der Ruf eines Tempels rührt nicht von seiner Architektur her, sondern von der Qualität der dort Lehrenden und wie diese für die Menschen da sind. Niemand kann sagen, dass dies nicht stimmt. Das ist nur Politik. Und das Wort „Kirche“ bezeichnete für die Menschen in Europa ursprünglich nicht das Gebäude, sondern den Ort, wo sie sich spirituell versammelten. Es ging um die Menschen. Später wurde den Menschen diese Art Kirche weggenommen. Von da an wurde das Geld in imposante Kirchenbauten und Kathedralen gesteckt. Aber was wurde aus den Menschen, die in diese gewaltigen Gebäude gehen mussten? Sie waren nur noch zweitrangig. Wir sollten einfach nicht so viel Geld für Tempel und Klöster ausgeben. Es geht doch um das Mitgefühl, im Mahayana-Buddhismus repräsentiert durch Avalokiteshvara, den Bodhisattva des Mitgefühls, oder um die Inhalte des Metta-Sutta wie im Theravada-Buddhismus. Buddhisten können große Statuen wie die des Medizinbuddha errichten, aber warum geben wir das Geld nicht den Krankenhäusern, die leidende Menschen behandeln? Kürzlich war ich in Bhutan. Dort hat man oberhalb der Hauptstadt Thimphu eine riesige Buddhastatue errichtet. Auf der anderen Seite leben dort Waisenkinder und Nonnen unter ärmlichsten Verhältnissen, auch weil so viel Geld in Buddhastatuen fließt, anstatt das Geld für die Linderung des konkreten Leids auszugeben, wie es den Lehren des Buddha entspräche.
BA: Wie wird die Entwicklung des Buddhismus bei uns sein, als noch junge spirituelle Bewegung? Kann er hier einmal so bedeutend werden wie im asiatischen Raum?
AB: Ja, selbstverständlich. Vor ein paar Jahren gab es einen Zensus in Australien, da gab es 2,5 Prozent Buddhisten, mehr als Muslime. Der Buddhismus wächst etwa in dem Maße, wie der Zuspruch zum Christentum abnimmt. In Deutschland erhalten die christlichen Kirchen Geld vom Staat. Das kann den Exodus jedoch auch nicht stoppen. Je umfassender die Ausbildung, umso mehr Menschen werden sich vom Christentum abwenden, auch wenn Christen in Europa heute noch in der Mehrheit sind. Noch schneller als der Buddhismus wächst aber die Zahl derer, die zu keiner Religion gehören wollen. Diese stehen zum Teil aber dem Buddhismus aufgeschlossen gegenüber. Der Buddhismus könnte daher schnell wachsen, auch weil er nicht die historischen und philosophischen Bürden anderer Religionen mit sich trägt. Ich war ja früher Theoretischer Physiker und es ist so leicht, Physiker und zugleich Buddhist zu sein. Andererseits geht es meines Erachtens nicht, Physiker und Christ zu sein. Das passt einfach nicht zusammen.
BA: In Deutschland ist der interreligiöse Dialog seit Jahren eine große Sache. Gibt es gemeinsame christliche und buddhistische Essentials, sind die Differenzen überbrückbar?
AB: Sie könnten überbrückbar sein, wenn die Christen ehrlich wären. Als Naturwissenschaftler sage ich mir, dass es natürlich möglich ist, auch sieben Stunden an ein Kreuz genagelt zu überleben. Das ist zwar eine fürchterliche Strafe, die aber genau deshalb angewendet wurde, weil es viel, viel länger dauert, bis jemand stirbt. Neulich sah ich einen indischen Dokumentarfilm, der in Hunderten von Belegen und schriftlichen Aufzeichnungen zeigt, dass Jesus später nach Indien gelangt ist. Und wenn man die gnostischen Schriften liest oder die Hammadi-Sammlung, dann sieht man, dass hier ein ganz anderer Jesus dargestellt wird, als er aus der Bibel bekannt ist. Wir finden hier einen authentischen Jesus, der den Positionen des Buddhismus sehr nahesteht.
BA: Der Buddhismus war ja vor 2 000 Jahren im Mittelmeerraum bereits bekannt. Alexander der Große hat buddhistische Gelehrte nach Europa gebracht, in Alexandria gab es bereits mehr als 200 Jahre vor Christus einen buddhistischen Lehrstuhl.
AB: Ja, und wir wissen, dass Maria, Josef und ihr Sohn nach Ägypten gingen, um der Verfolgung zu entgehen. Die damalige Hauptstadt war Alexandria, dort gab es viele Flüchtlinge, dort fand man Arbeit. Und dort gab es um diese Zeit, im Jahr 8 v. u. Z., ein Kloster der Theraputai. Dies waren geschorene Mönche, Vegetarier, mit braunen Roben, die als Buddhisten bekannt waren, und sogar buddhistische Nonnen gab es dort. Es lebten zu der Zeit auch viele Inder in jener Gegend, diese waren als Handwerker, aber insbesondere Kaufleute und deren Transporteure in diesen dynamischen Wirtschaftsraum gekommen. König Bartholomä hatte einen neuen Hafen bauen lassen. Aus dieser Zeit stammen auch Grabsteine, die noch heute existieren, mit dem buddhistischen Dharmarad und den Inschriften: Buddha, Dharma, Sangha saranam gachami. Die haben deutsche Forscher ausgegraben. Damals war der Buddhismus in Indien die bedeutendste Religion und die Menschen haben sie nach Ägypten mitgenommen. Aber leider ist es bei den christlichen Führern wie bei manchen Wissenschaftlern nicht von Interesse, solche manifesten Beweise zur Kenntnis zu nehmen und bekannt zu machen; sie haben ihre eigenen Beweggründe.
BA: Zuletzt noch die Frage: Welche Art Meditation lehren Sie? Haben Sie etwas Neues oder Besonderes hinzugefügt?
AB: O, nein, ich bin ein ganz und gar traditionell eingestellter Mönch. Ich folge ganz nah den Lehren des Buddha: den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad und hier besonders der Rechten Absicht (Pali: samma sankapatta). Diese beinhaltet drei Aspekte: die Dinge loslassen, Freundlichkeit sowie Liebenswürdigkeit ausüben. Die ganze Lehre wird durch den Achtfachen Pfad erleuchtet. Ich betone das immer wieder: Wenn du meditierst, dann lasse alles los, halte an nichts fest, sei freundlich zu dir selbst, habe Mitgefühl mit dir. Sei sehr liebenswürdig zu deinem Bewusstsein und deinem Körper. Mach es dir bequem, und wenn du dich mal bewegen musst, dann tu es einfach, sei freundlich zu dir. Das ist Buddhismus!
Ajahn Brahm
Ajahn Brahm hat Theoretische Physik an der Universität
von Cambridge studiert und ist seit mehr als 40 Jahren buddhistischer Mönch. Er lebte viele Jahre in einem thailändischen Waldkloster unter dem Ehrwürdigen Ajahn Chah. Heute ist er Abt des Bodhinyana-Klosters in Westaustralien und weltweit als buddhistische Lehrer bekannt.