Erkenntnisgewinn im Ozean des Nichtwissens
Bhikkhu Sujata stammt ursprünglich aus dem Süden Deutschlands, einer vom Weinbau geprägten Kulturlandschaft. Derzeit lebt er in einem Kokosnusshain eines Studienklosters in Sri Lanka als ein in der dortigen Waldtradition ordinierter Theravada-Mönch. „Ich bin hier, weil es für mich den meisten Sinn ergibt, genau dies zu tun“, erklärt er – und befasst sich in dem folgenden Beitrag mit dem Unterschied zwischen naturwissenschaftlichem und spirituellem Erkenntnisgewinn.
Die Frage nach dem wirklichen Sinn im Leben wird immer auch davon abhängen, inwieweit eine Person die Wirklichkeit zu erkennen in der Lage ist. Je tiefgreifender die Erkenntnis, desto mehr Sinn macht es, sich ihr entsprechend auszurichten, und desto unsinniger wird es also, dies nicht zu tun. Damit ist das Thema dieses Essays gesetzt: die Wirklichkeit und unsere Möglichkeiten, sie zu erkennen.
Als Mönch gehe ich davon aus, dass dem Buddha, durch den Pfad der Befreiung, auch Wahrheiten über wesentliche Gesetzmäßigkeiten der Natur zugänglich wurden, und zwar in einer Tiefe, an welche die Erkenntnistheorie der Wissenschaft bei Weitem nicht heranreicht. Wenn man zum Beispiel akzeptiert, dass dem Buddha bei seinem Erwachungserleben die Drei Wissen (tevijja, also die Rückschau auf vergangene Existenzen, der karmisch bedingte Wandel der Wesen und die letztendliche Befreiungserkenntnis) zugänglich wurden, schließt das auch ein, das Verständnis von kamma und Wiedergeburt für sich selbst anzunehmen. Daraus können sich tiefgreifende Schlussfolgerungen ergeben, wie man unschwer erahnen kann – und Sinn ergibt sich daraus, ihnen verantwortlich Rechnung zu tragen. So tauchen Fragen auf wie: Was bedeutet das konkret für meinen Lebensentwurf und mein Verhalten? Was könnte es bedeuten, wenn ich diese Schlussfolgerungen ignoriere? Mein Wunsch, die Erfahrungen und die Lehren des Buddha ernst zu nehmen, hat mich in diese Kokosnussplantage geführt.
Auch Wissenschaft kann dogmatisch sein
In der heutigen westlichen Gesellschaft tritt an die Stelle von blindem Glauben und Nichtverstandenem zumeist systematische wissenschaftliche Forschung, um natürliche Erklärungen zu finden. Das nennt sich Naturalismus, und daran ist zunächst überhaupt nichts verwerflich, im Gegenteil. Der Naturalismus muss auch nicht zwangsläufig im Gegensatz zur Religion stehen, wie uns die Geschichte lehrt, obgleich es die Kirche der Wissenschaft nicht immer einfach gemacht hat. Gerade auch die buddhistische Praxis ist von diesem forschenden Geist getragen. Inzwischen ist die offene, erkenntnisorientierte Haltung des Naturalismus leider oft durch absolute Lehrmeinungen des Materialismus überlagert und selbst zu einer dogmatischen Quasireligion geworden: überall dann nämlich, wenn behauptet wird, dass die Welt vollständig durch physikalische Gesetze erklärt werden könne oder dass alle Aspekte der Existenz ausschließlich auf der Basis derMaterie zu erklären seien.
Doch gerade wenn es um die Erklärung geistiger Aspekte der Realität geht, versagen die Naturwissenschaften bisher weitgehend und subjektives Erleben als solches findet zu wenig Betrachtung. So bleibt es naturwissenschaftlich ein ungelöstes Rätsel, wie das Gehirn unser Erfahrungserleben, erzeugt. „Liebe“, „Grün“, „Mona Lisa“, „Beethovens 5. Sinfonie“ – die Wissenschaft vermag nicht zu sagen, auf welche Weise Materieteilchen solche Erfahrungen zustande bringen könnten. Sie versucht es zwar – doch zwischen elektrischen Nervenströmen oder hormonellen Kaskaden und der Erfahrung der Mona Lisa bleibt doch immer eine Erklärungslücke; das Materielle und das Geistige bleiben im wissenschaftlichen Blick bisher zwei logisch unvereinbare Kategorien. Dieses Rätsel trägt die Bezeichnung „explanatory gap“ – es handelt sich um eine Erklärungslücke, die innerhalb des materialistischen Denkens bisher nicht überbrückt geschweige denn geschlossen werden konnte; dennoch wird gleichzeitig oft behauptet, dass die Kategorie des Geistigen der Materie entspringe, ihr untergeordnet sei.
Weil die Wissenschaft hier einen blinden Fleck hat, aber dennoch das Wirklichkeitsverständnis der Menschen auf dieser Grundlage prägt und ein großes Gewicht für viele Entscheidungsprozesse in unserer Gesellschaft hat, kann das problematisch sein. Wissenschaftliche Laien und unkritische Anhängerinnen und Anhänger der Naturwissenschaften hegen das positive Vorurteil, dass Wissenschaft offen und unvoreingenommen, eben „wissenschaftlich“ vorgehe, alle Aspekte der menschlichen Erfahrung neutral untersuche und dies mithilfe ihrer Methoden auch könne. Das ist ein Irrtum. Tatsächlich ist es so, dass die Wissenschaftsgemeinde die Normen für zukünftige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzt – sie gibt vor, was gute Wissenschaft ist und was nicht, verlangt ein normgerechtes Verhalten der Forschenden und belohnt es in Form von Ansehen, Forschungsaufträgen und Karrieren. Da es zu den Normen der Naturwissenschaften in ihrer jetzigen Form gehört, Erklärungen jenseits des materialistischen Mainstreams kaum zuzulassen, finden sich Forscherinnen und Forscher, die geistige Phänomene ernstnehmen und sich beispielsweise um ein neues Verständnis des Bewusstseins bemühen möchten, häufig im Abseits wieder – ohne Karriere, Forschungsgelder und -möglichkeiten.
Wissenschaft öffnet sich für neue Perspektiven
Philosophen und Physiker wie Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Max Planck, Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli, um nur einige zu nennen, waren bereits berühmte Befürworter der Ansicht, dass Bewusstsein und materielle Welt nicht voneinander getrennt zu betrachten sind. Seit gut 95 Jahren gibt es immer mehr Befunde, vor allem aus der neuen Physik und anderen Forschungsbereichen, die darauf hindeuten, dass das Bewusstsein eine grundlegende Rolle spielt, wenn es darum geht, das zu begreifen, was wir als „Wirklichkeit“ bezeichnen. Dafür einige jüngere Beispiele:
- Im British Journal of Psychology wurde das Ergebnis einer sogenannten Metaanalyse der medizinischen Fakultät Freiburg veröffentlicht. Für solche Analysen werden viele vorhandene Studien in einer neuen Studie ausgewertet und zusammengefasst. Die Metaanalyse kam zu dem Schluss, dass das Denken an eine entfernte andere Person eine Beziehung mit dem autonomen Nervensystem dieser anderen Person aufweist. Derzeit ist kein biophysikalischer Mechanismus bekannt, der für das beobachtete Phänomen verantwortlich sein könnte. Als Buddhistin und Buddhist dürfte man sich hingegen daran erinnern, dass gemäß der buddhistischen Lehre eben auch geistiges Handeln karmisch wirksam ist.1
- Andere Studien2 zeigen, dass Patientinnen und Patienten die intensivsten Bewusstseinserfahrungen ihres Lebens mitunter genau dann machen, wenn das Gehirn schwer beeinträchtigt ist oder immense Schäden aufweist, was klar gegen neuronale Entstehungstheorien des Bewusstseins spricht. Es gibt Berichte von gehirngeschädigten Patientinnen und Patienten, die ihr verloren geglaubtes Erinnerungsvermögen kurz vor dem Ableben wiedererlangten oder wieder zum Gespräch mit Angehörigen fähig waren und gesteigerte geistige Fähigkeiten aufwiesen.3 Psychedelische Forschungsergebnisse legen nahe, dass gerade eine Abnahme der Gehirnaktivität das Erfahrungserleben steigert und nicht senkt. Auch wurde im Rahmen von Untersuchungen zu Nahtoderfahrungen eine Tendenz zu zunehmender mentaler Aktivität mit dem Näherrücken des Todeszeitpunktes festgestellt.4 Auch hierbei werden sich Buddhistinnen und Buddhisten daran erinnern, dass die frühbuddhistischen Texte gerade den Todeszeitpunkt als idealen Moment beschreiben, um die Lehre zu vernehmen und sie zu kontemplieren, um ein Erwachungserleben herbeizuführen, mutmaßlich genau aus diesem Grund der gesteigerten Geistesfähigkeit.
- Jim Tucker, Professor für Psychiatrie und neuronale Verhaltensforschung an der Universität West-Virginia, leitet dort den Bereich der Wahrnehmungsforschung und befasst sich mit möglichen Erinnerungen von Kindern an vergangene Leben. Mittlerweile wurden im Rahmen dieser Forschung rund 2 500 Fälle von Kindern untersucht, die von dem Leben (erfolgreich identifizierter) Verstorbener oft ein Wissen in frappierender Detailtreue besitzen. Dokumentiert ist auch das erstaunliche Phänomen, dass kleine Kinder Sprachen sprechen oder rezitieren können, die sie niemals bewusst lernen konnten.5
Auch Nichtbewiesenes kann orientieren
Die Wirklichkeit umfasst mehr, als wir momentan verstehen; das würden auch Mainstream-Naturwissenschaftler:innen sicherlich so unterschreiben. Unser Unwissen darüber, wie die Dinge wirklich sind, wird im Buddhismus avijja genannt – was die Wirklichkeit in Gänze ausmacht, wissen wir nicht, und das kann bescheiden machen. Naturwissenschaften und Buddhismus ziehen aus diesem Umstand allerdings sehr verschiedene Schlussfolgerungen. Die vorherrschende naturwissenschaftliche Forschung fischt mit ihren Netzen und deren Maschengröße im Ozean des Unbekannten. Dabei tut sie oft so, als könnte es kaum etwas geben, das der Maschengröße ihrer Netze entgeht. Gleichzeitig hält sie das, was noch nicht bewiesen ist, für entweder nicht existent oder zumindest für vernachlässigbar.
Im Buddhismus sehen wir das ganz anders: Unsere Unwissenheit ist das Übel, das unsere Lage so prekär macht. Es gilt die Empfehlung, in unsere Entscheidungen auch Inhalte einzubeziehen, derer wir uns zunächst nicht zu hundert Prozent sicher sein können, also einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Warum? Weil es sehr unvorteilhaft sein könnte, der Lehre und Erkenntnis des Buddha darüber, wie ein Leben im Einklang mit der Natur gelingt, von dem wir uns persönliches, soziales und spirituelles Wohlergehen versprechen, nicht Rechnung zu tragen.
Nehmen wir als Beispiel die Wiedergeburt. Eine rein materialistische Weltanschauung schließt eine Existenz nach dem Tod kategorisch aus. Doch geistige Vorgänge und Phänomene lassen sich, wie oben gezeigt, aus den Funktionsweisen der Materie gar nicht schlüssig erklären. Weder Neuronen noch andere Teile des Körpers können das Bewusstsein erzeugen; zumindest hat die Naturwissenschaft das bislang nicht zeigen können. Deshalb ist es keineswegs abwegig darüber nachzudenken, ob es nicht auch umgekehrt sein könnte: dass nämlich der Geist die Materie erzeugt oder beide, ganz im Sinn der „bedingten Entstehung“, unterschiedliche voneinander abhängige Aspekte der Wirklichkeit sind. Das wiederum würde bedeuten, dass das Bewusstsein mit dem Zerfall der Materie auch nicht zu einem Ende kommen muss, sondern fortbestehen kann. Und genau das legen auch Unmengen an subjektiven Zeugnissen nahe, weltweit über kulturelle Grenzen und Zeitepochen hinweg. Die moderne Wissenschaft nimmt solche Zeugnisse dennoch, wie oben beschrieben, bis auf wenige Ausnahmen nur zögerlich ernst, weil sie ihr derzeitiges Denkmodell sprengen.
Ein tiefgründiges Verständnis der Wirklichkeit
Zusammenfassend lässt sich sagen: Wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf der Analyse von Daten, die in Experimenten erhoben werden. Diese Experimente sollten bei identischer Versuchsanordnung immer wieder das gleiche Ergebnis erbringen, also wiederholbar sein. Spirituelle Traditionen hingegen bedienen sich zur Erschließung der Wirklichkeit der direkten individuellen Erfahrung. So hat auch der Buddha seine Erkenntnisse erworben: unmittelbar und durch subjektive Innenschau. Spirituelle Erfahrung ist subjektiv, das heißt, ein anderer Mensch kann sie nicht unmittelbar nachvollziehen, sofern er sie nicht selbst bereits gemacht hat. Die subjektive Erfahrung findet auch nicht unter wissenschaftlich kontrollierten Bedingungen statt und ist dementsprechend auch nicht in derselben Weise wiederholbar wie ein wissenschaftliches Experiment.
Aus diesen Gründen belächelt oder aber ignoriert die Naturwissenschaft den subjektiven Erkenntnisgewinn häufig und spricht ihm ab, Gültiges und Wahres über die Wirklichkeit beziehungsweise die Realität herausfinden zu können. Zugleich scheitert sie mit ihren Methoden des Erkenntnisgewinns seit vielen Jahren an der Erforschung des Bewusstseins, also genau dort, wo spirituelle Traditionen seit Jahrtausenden durch unmittelbare innere Erkenntnis Forschung betreiben. Daher scheint ersichtlich zu sein, welche der beiden Disziplinen wohl etwas von der anderen zu lernen vermag, wenn es darum geht, tiefgreifende Zusammenhänge der Wirklichkeit des Daseins zu erkennen. Wenn wir zur Ergründung der Wirklichkeit die subjektiven und spirituellen Erfahrungswege einbeziehen, kann sich uns ein tieferes und umfassenderes Verständnis unserer Existenz eröffnen.
Anmerkungen
1 Stefan Schmidt, Rainer Schneider, Jessica Utts, Harald Walach: „Distant intentionality and the feeling of being stared at. Two meta-analyses, British Journal of Psychology, 95 (2004), S. 235–247. Siehe zu diesem Thema auch: Radin Dean: „Entangled Minds. Extrasensory Experiences in a Quantum Reality”, Paraview Pocket Books 2006.
2 Siehe hierzu: S. 415 ff. „The Challenge of Near-Death Experiences“, in E. F. Kelly u. a.: „The Irreducible Mind. Toward a Psychology for the 21st Century“, 2006, S. 415 ff; H. Carhart u. a.: „Neural correlates of the psychedelic state as determined by fMRI studies with psilocybin“, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (2012), 109 (6), S. 2138–2143; M. Nahm, B. Greyson: „The death of Anna Katharina Ehmer. A case study in terminal lucidity“, OMEGA (2013), 68 (1), S. 77–87.
3 Siehe hierzu: „The Irreducible Mind“ (Anm. oben), S. 410 u. 411.
4 Siehe hierzu: Ebd., S. 386 mit Verweis auf J. Owens, E. W. Cook, I. Stevenson: „Features of ‘near-death experience’ in relation to whether or not patients were near death“, Lancet (1990), 336, S. 1175–1177. Wissenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass diese Forschung größtenteils spendenfinanziert ist und die Arbeit der Universität von West-Virginia Transparenzvorschriften unterliegt, um eine unabhängige Forschung sicherzustellen.
5 Bhikkhu Analayo: „Rebirth – In early Buddhism & Current Research”. Auch Dr. Ian Stevenson hat drei Fälle von „responsive xenoglossy“ (die Fähigkeit, eine fremde Sprache zu sprechen, ohne sie gelernt zu haben) untersucht.
Bhikkhu Sujata
ist deutscher Theravadamönch in der Waldtradition Sri Kalyani Yogasrama Samstha des Ramanna Nikaya in Sri Lanka. Er lebt und praktiziert im Na-Uyana-Studienkloster Dharmatanaya. Seine Schwerpunkte sind das Studium der Pali-Schriften und die Meditationspraxis.