Enkeltauglich! Mit den Lehren des Buddha

Kann die buddhistische Lehre auch für religionsferne Menschen eine Ressource sein, wenn es darum geht, die Transformation zu einer dringend benötigten nachhaltigen Lebensweise einzuleiten? Davon ist Manfred Folkers in seinem Essay überzeugt.
Der tibetisch buddhistische Gelehrte und Lehrer Geshe Thubten Ngawang, langjähriger Leiter des Tibetischen Zentrums Hamburg, hätte sich über „Buddhismus ist Verbundenheit“ als Motto der Feier zum 70-jährigen Jubiläum der Deutschen Buddhistischen Union gefreut, war die im Dharma erläuterte Zusammengehörigkeit aller Wesen und ihre Integration in die Natur für ihn doch ein permanenter Anlass für inneren Frieden, Mitgefühl und Geistesschulung.

Doch leider bewegt sich die Menschheit derzeit in Richtung großer Gefahren, gespeist aus geistigen Haltungen, die dem diametral widersprechen. Kaum jemand hat die Lage der Menschheit so plastisch veranschaulicht wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk 2006 in der Wochenzeitung Die Zeit: „Wir rasen mit Höchstgeschwindigkeit frontal auf eine Betonmauer zu, doch weil der Moment des Aufpralls eine Weile entfernt ist, bleibt man auf dem Gaspedal.“ Thomas Metzinger – ebenfalls Philosoph – fragt in seinem 2023 erschienenen Buch „Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise“, ob „wir vielleicht doch noch rechtzeitig eine neue Art zu leben entwickeln, die es uns ermöglicht, das giergetriebene Wachstumsmodell zu verlassen“. Uns fehle ein neues Leitbild, ein kultureller Kontext für die sich beschleunigende planetare Krise.
Neuartige Leitbilder, überzeugende Orientierungen, attraktive Ziele: Können sie mithilfe der Lehre des Buddha gefunden, beschrieben und genutzt werden? Geshe Thubten Ngawang hat diese Möglichkeit schon 1993 in der ZDF-Sendung „Buddhismus in Deutschland“ angedeutet, als er erklärte:
Der Buddhismus begründet, warum es gut ist, Liebe zu entwickeln und den Geist zu schulen. Deshalb ist diese Lehre für heutige Menschen, die kritisch sind und nicht blind glauben möchten, so wichtig.
Im Folgenden sollen vier zentrale Elemente des Buddhadharma auf ihre Eignung als Grundlagen einer nachhaltigen, enkeltauglichen Lebensweise untersucht werden.
Hier sein:
Es geht nur mit Ehrlichkeit

Den Ort und Zeitpunkt aller menschlichen Aktivitäten verortet der Buddhismus im Hier und Jetzt. In seinem 1991 erschienenen Buch „Ich pflanze ein Lächeln“ schreibt der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh: „Unsere Verabredung mit dem Leben findet immer im gegenwärtigen Augenblick statt. Und der Treffpunkt unserer Verabredung ist genau da, wo wir uns gerade befinden.“ Es ist ein wunderbares Erlebnis, als menschliches Wesen auf dieser Erde zuhause zu sein. Umso mehr, weil wir uns dieser Anwesenheit bewusst sein und sie genießen können. Diese Präsenz wertzuschätzen sollte zum Selbstverständnis jedes Menschen gehören.
Präsent sein – dieser Fokus kann erfreuen, ist jedoch derzeit auf besondere Weise getrübt. Wir scheuen einen ehrlichen Blick in die Zukunft, obwohl oder weil wir präzis berechnen können, wie sehr wir sie malträtieren. Vor allem im Umgang mit der Biosphäre folgen wir extrem schädlich wirkenden Vorgaben. Wir sind kollektiv fehlgeleitet und verschwenden unsere Kraft, um auf einem Weg voranzueilen, der uns in die Irre führt.
Es ist immer alles jetzt. Dies gilt gerade auch für die Zukunft, die ausschließlich im gegenwärtigen Moment „existiert“ – und zwar als Annahme in unserem Geist. Nur Menschen können sich die Zukunft vorstellen und sich um sie kümmern, was sie derzeit auf ruinöse Weise tun. Dabei möchten sie sich eigentlich bemühen, ihren Nachkommen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen.
Diesen Widerspruch sollten wir uns ständig vor Augen führen. Nur mit Ehrlichkeit lässt sich das ökonomische und kulturelle Dilemma, in dem die Menschheit steckt, sinnvoll erforschen. Erst eine unvoreingenommene Suche entdeckt Wege, die aus der Sackgasse führen. Durch das Erkennen, Akzeptieren und Vermeiden bisheriger Fehler können wir unser Leben in eine heilsame Richtung entwickeln. Das hat im Hier und Jetzt zu geschehen.
Ganz sein:
Intersein als Übungsweg

Um diese Absicht umzusetzen, bietet sich eine Einsicht des Buddha an, die vor 2 500 Jahren revolutionär wirkte und sich heutzutage besonders für alle atheistisch, agnostisch und humanistisch eingestellten Menschen eignet; denn seine Lehre kommt ohne das Konzept einer Seele aus. Er ging davon aus, dass sie real nicht existiert, sondern lediglich eine Konstruktion des menschlichen Geistes ist. Seine Erkenntnis „Alles ist ohne eigenständiges Selbst“ erlebte er nicht nur als Befreiung von Einbildungen, sondern als universelles Merkmal: Was ohne Eigenständigkeit ist, befindet sich immerzu vollständig in Verbindung mit allem anderen („Intersein“). Verbundenheit bildet den Kern des Dharma. Auf das menschliche Leben angewendet ist sie die Quelle für Solidarität, Kooperation und Verantwortung.
Doch im 21. Jahrhundert wird der konkrete Alltag von völlig anderen Motiven bestimmt. Angesagt ist eine Art Hyperindividualismus, der sich als Selbstüberhöhung, Getrenntsein und Einsamkeit bemerkbar macht. Das Wissen um unser prinzipielles Integriertsein in das Raum-Zeit-Geschehen kann uns von Gefühlen wie Isolation und Vereinzelung befreien und die Freude stärken, auf dieser Erde willkommen zu sein. Ganzheit und gegenseitiges Durchdrungensein verknüpfen uns mit den Naturgesetzen – räumlich bis zur Quantenphysik und zur Thermodynamik, zeitlich bis zum Urknall.
Die Einsicht in die existenzielle Zusammengehörigkeit kann uns dabei helfen, unser Handeln neu auszurichten und zu stabilisieren. Statt Neigungen wie Selbstbezogenheit, Abgrenzung und Oberflächlichkeit zu pflegen, können wir uns aufrichtig für die Schaffung einer Gesellschaft einsetzen, die gemeinsames Wohlergehen für alle anstrebt und dabei spätere Generationen einbezieht.
Um diese Umwidmung zu erreichen, ist es wichtig, dass jeder Mensch seine Gewohnheiten hinterfragt und eine „neue Spontanität“ mit Inhalt füllt. Es gilt, das erlernte Reiz-Reaktions-Muster zu durchbrechen, um die von Eigensinn, Distanzverhalten und Ablenkung ausgehenden Impulse umzupolen in Richtung mitfühlender Zuwendung, Inklusion und Achtsamkeit. Dieser Übungsweg erfordert viel Konzentration und Ausdauer. Ihn erfolgreich zu gehen kann jedoch als Kürprogramm des Lebens erfahren und kultiviert werden.
DENN DIE FREUDE, DIE WIR GEBEN – Großzügigkeit ist eine grundlegende buddhistische Praxis.
Die BA-Redaktion bemüht sich täglich darum, buddhistische Wortmeldungen und Texte aus allen Traditionen sowohl aus Deutschland wie weltweit wahrzunehmen, zusammenzutragen und für diese Webseiten, auf den Sozialen Medien und in der Print-Ausgabe aufzubereiten und weiterzugeben.
Unser digitales Angebot ist zu einem großen Teil kostenfrei – doch uns kostet es sehr viel Geld. Darum sind wir auf Ihre SPENDE, auf deine GROßZÜGIGKEIT angewiesen – und gerne auch auf ein ABONNEMENT, das uns wertvolle Planungssicherheit liefert.
Denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.
Vielen Dank!
Wach sein:
die Wirklichkeit wahrnehmen
Diese Kür lässt sich durch eine besondere Fähigkeit des Menschseins verwirklichen: als Person um die eigene Bewusstheit in einem Wechselspiel zu wissen, das sich mit den beiden Perspektiven „Der Mensch nimmt das Leben in sich wahr“ und „Im Menschen nimmt sich das Leben wahr“ beschreiben lässt.
Vorrangiges Ziel der Buddhalehre und ihrer meditativen Praktiken ist es, diese Fähigkeit zu vervollkommnen. Das Ergebnis wird in der Regel „Erwachen“ genannt. „Wach sein“ bedeutet, die Wirklichkeit achtsam wahrzunehmen und diese Betrachtungsweise dauerhaft anzuwenden und zu pflegen.
Indem „wach sein“ als hervorragende oder gar beste Eigenschaft des Menschen angesehen wird, kann sie bei der Überwindung der planetaren Krise und der Suche nach Alternativen zu den destruktiven Orientierungen eine zentrale Rolle spielen. Für Thomas Metzinger ist die Entwicklung einer Bewusstseinskultur sogar „das Kernstück einer neuen Lebensform“.
Wer die fatale Lage der Menschheit erforscht, hat bis zu den Ursachen vorzudringen. Im buddhistischen Kontext geraten dann drei menschliche Beweggründe in den Fokus: Gier, Hass und Verblendung. Als Anhaftung, Abneigung und Folgenleugnung sind sie zu Antriebskräften eines ökonomischen Systems mutiert, das sich durch Wachstumsdogmen, Konkurrenzprinzipien und eine weitgehende Ignoranz gegenüber dem Zustand der Biosphäre auszeichnet und „Gierwirtschaft“ genannt werden kann.
Diese Analyse führt zu zwei Ergebnissen. Einerseits waren es Menschen, die diese brisante Situation herbeigeführt haben, weswegen sie auch die Akteure der Lösung sind. Sie haben allmählich ein ökonomisches Konzept entwickelt und umgesetzt, das ihre kleinen persönlichen Sehnsüchte (Besitzdenken, Gegeneinander, Selbsttäuschung) im Großmaßstab verwirklicht. Andererseits hat sich diese Wirtschaftsweise als Turbokapitalismus verselbständigt, der seine Funktionsregeln (Mehrung, Wettbewerb, Ausbeutung) inzwischen rückkoppelnd einsetzt und alle Beteiligten dazu zwingt, den eingeschlagenen Weg beizubehalten. Die Menschheit ist in eine selbst gebaute Falle geraten.
Zufrieden sein:
Ich habe genug

Um dieser Falle zu entkommen, reicht ein simples Nein zu den gegenwärtigen Zuständen und Motiven nicht aus. Dieses Nein ist zwar ein Ausdruck von Ablehnung, aber an sich noch keine gute oder produktive Botschaft. Schließlich ist die Gierwirtschaft ein System, dem nie etwas genügt, sondern das auf Gewinndenken im Sinne von Profit und Expansion angewiesen ist. Insofern bestehen die Triebfedern dieses Regimes auch aus Angst vor Verlust, Verzicht und Verrat sowie vor Mangel an Macht und materiellen Mitteln, wodurch permanent ein latentes Gefühl von Unzufriedenheit erzeugt wird.
Erst eine Überwindung dieses gegenwärtigen Zustands durch ein weiteres Nein, also die Negation der Negation, bahnt den Weg zu Lösungen. Es gilt, sich von der Fixierung auf das Untergangssystem zu befreien und die Blickrichtung zu wechseln. „Wir konnten auch anders“, hat die Historikerin Annette Kehnel ein Buch betitelt, in dem sie darüber schreibt, welche vielfältigen Möglichkeiten nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens Menschen in früheren Jahrhundert anzuwenden wussten. „Wir können auch anders“, ist die Politökonomin und Autorin Maja Göpel überzeugt. Dies sollten wir möglichst sofort beherzigen.
Ein Blick von der Buddhalehre aus erweist sich dabei als äußerst fruchtbar. Sie verbindet die bereits geschilderten Merkmale „hier sein“, „ganz sein“ und „wach sein“ zu einer Geisteshaltung, die der Sanskrit-Begriff samtusta beschreibt: Du hast bereits genug und du bist vollkommen befriedigt. Wer den von Buddha vorgeschlagenen Mittleren Weg beherzigt, kann dieses Leitbild hinsichtlich Konsum und Umgang mit der Natur als besonnene Genügsamkeit oder genügsame Zufriedenheit erleben. Die Wachstumsökonomie wird mit zufriedenen Menschen nicht funktionieren, denn dem Steigerungssystem ist die Kategorie „genug“ wesensfremd. Es gilt, das Richtige zu tun, also ein menschliches Maß zu beachten. Diese „Suffizienz“ genannte Haltung ermöglicht eine „Kultur des Genug“, die den Turbokapitalismus beenden kann, dem selbst zu viel noch nicht reicht.
Wer materielles Wachstum hintanstellt und sich fragt: „Was brauche ich wirklich?“, wird Bedürfnisse wie frische Luft, sauberes Wasser, ausreichend Nahrung, soziale Kontakte, angemessenen Wohnraum und gute Gesundheit nennen. Wer Aspekte wie den ökologischen Fußabdruck, universelle Verantwortung, globales Denken und lokales Handeln im Blick behält, wird sich einsetzen für nachhaltige und zukunftsfähige Ideen wie: langlebige Produkte kaufen, Dinge reparieren oder miteinander teilen, Nachbarschaftshilfe, Gemeinwohl, Gemeinschaftsleben und gemeinschaftliches Eigentum, Selbstversorgung, fleischlose Ernährung, ehrenamtliches Engagement, Entschleunigung, umweltgerechte Mobilität, Naturschutz und Artenvielfalt.
Wir können auch Kür

Die planetare Krise enthält Widersprüche, die alle Menschen durchdringen. Um sie konstruktiv zu bewältigen, brauchen wir attraktive Leitbilder. Dafür bietet sich Buddhas Lehre als eine überzeugend begründete Orientierung an, die als Kraftquelle jederzeit zur Verfügung steht. Wer sich hier auf dieser Erde ganz und zuhause erlebt und sich wach um das wissende Gefühl bemüht, von Grund auf zufrieden zu sein, kennt eine ständig erreichbare Basis, von der aus es leichtfällt, die große Transformation mitzugestalten.
Indem wir unsere prinzipielle Verbundenheit mit dem Universum akzeptieren, sind wir auch geistig auf unserem Heimatplaneten angekommen. Indem wir diese Anwesenheit mit Freude wahr- und ernstnehmen, können wir damit beginnen, ein enkeltaugliches Füreinander zu leben, das auch den kommenden Generationen zugutekommt. Streben wir den Aufbau einer Kultur des Genug an, erfahren wir nicht nur Integrität und Zufriedenheit, sondern können unser Leben auch als eine Art Kür gestalten. Praktizieren wir dabei Toleranz und Gleichmut, erkennen wir unsere Unvollkommenheit und lernen, unsere Widersprüche anzunehmen und zu bearbeiten.
So können wir jeden Abend ohne Scheu in den Spiegel schauen und uns auf den nächsten Tag vorbereiten.

Manfred Folkers
wurde 2004 von Thich Nhat Hanh zum Dharma-Lehrer ernannt. Er ist seit über 20 Jahren Vorsitzender des Vereins „Achtsamkeit in Oldenburg“. Er leitet die Umwelt-AG der DBU und ist seit 2009 Ratsmitglied der DBU.