Die Vielfalt wertschätzen

Ein Beitrag von 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje veröffentlicht in der Ausgabe 2014/3 Ist Buddhismus eine Religion? unter der Rubrik Ist Buddhismus eine Religion?.

Religionen geben uns viel, doch sie können auch zur Ursache von Feindseligkeit und sozialen Konflikten werden, anstatt sie zu beenden.

Karmapa Ogyen Trinley Dorje

Wir sind alle durch unser Menschsein miteinander verbunden. Religiöse Lehren versuchen, uns auf dieser universellen menschlichen Ebene anzusprechen. Doch das Festhalten an einer bestimmten religiösen Identität kann Menschen vom Geist dieser Lehren wegführen. Wenn Religionen Menschen am Ende voneinander trennen, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass etwas sehr schief gelaufen ist. Um uns davor zu schützen, ist es von besonderer Wichtigkeit, die von uns allen geteilte Menschlichkeit immer im Blick zu haben … Im Jahr 2001 wurden die riesigen Bamiyan-Buddha-Statuen in Afghanistan vorsätzlich zerstört. Muslime, die innerhalb des Islam eine ganz bestimmte Perspektive einnehmen, vertreten die Auffassung, diese Statuen seien beleidigende Instrumente der Götzenanbetung, während die Statuen Buddhisten an heilige Prinzipien erinnern und an das Beste des uns allen innewohnenden menschlichen Potentials. Wir Buddhisten verwenden grundsätzlich physische Darstellungen in unserer spirituellen Praxis, während Muslime in ihren Gottesdiensten und Praktiken keine bildlichen Darstellungen verwenden. Das Festhalten an der einen oder anderen Position hat eine Mauer zwischen den Menschen entstehen lassen. Doch es handelt sich nur um Statuen. Wenn wir uns wegen einer Statue gegeneinander ausspielen lassen, dann klammern wir uns wirklich an unsere Vorlieben und Voreingenommenheiten. Ich halte persönlich nichts davon, mit religiösen Konflikten in dieser Weise umzugehen. Kurz nachdem die Bamiyan-Buddhas zerstört worden waren, hatte ich die Gelegenheit, eine Gruppe afghanischer Jugendlicher zu treffen, die für den Frieden arbeiteten. Ich schlug ihnen vor, die Zerstörung der Bamiyan-Buddhas so zu verstehen, dass dadurch die Mauern zwischen allen Menschen zum Einsturz gebracht worden wären. Wenn die Präsenz dieser Statuen uns gegeneinander aufgebracht hatte, könnten wir es vielleicht als sinnvoll ansehen, dass sie niedergerissen wurden. So dachte ich darüber. Mauern entstehen zwischen Menschen, wenn wir der Form unserer religiösen Identität mehr Bedeutung beimessen als den Inhalten, die uns die Religion lehrt. Wenn spirituelle Überzeugungen dafür benutzt werden, Mauern zu errichten, wird die Absicht von Spiritualität völlig verfehlt. Spiritualität sollte bedeuten, sich selbst näherzukommen. Wenn dies geschieht, kommen wir auch anderen näher. Spiritualität und Religion sollten eine Diskriminierung anderer nicht unterstützen, sondern abzubauen helfen. Sie sollten keine Grenzen ziehen, sondern zu ihrer Auflösung beitragen.

Auszug aus: Karmapa Trinley Dorje: Das edle Herz, die Welt von innen verändern, edition steinrich 2014. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Die Vielfalt umarmen

Das Leben in einer Gesellschaft, die eine Vielfalt religiöser Überzeugungen beinhaltet, gibt uns die wunderbare Chance, Toleranz, Respekt und Liebe zu praktizieren. Toleranz, Respekt und Liebe sind Werte, die von allen großen Weltreligionen geteilt werden. Und auch die meisten säkularen Menschen vertreten die Meinung, dass Respekt gegenüber anderen Menschen ein wichtiger ethischer Wert ist … Wir alle sind menschliche Wesen. Wir sind Nachbarn. Wir teilen einen Planeten und die gleiche Atmosphäre miteinander. Wir werden von der gleichen Sonne gewärmt und erfreuen uns alle am sanften Licht des Mondes. Darum wird es immer Gemeinsamkeiten zwischen uns geben. Spiritualität sollte unsere Aufmerksamkeit für diese Gemeinsamkeiten zu erhöhen suchen. Sie sollte uns darin bestärken, den grundsätzlichen Wert des Lebens in allen Wesen zu erkennen … Es geht nicht darum, ob wir die Glaubensgrundsätze anderer Religionen für wahr halten oder nicht. Wenn wir um das Glück anderer ehrlich besorgt sind, sollten wir uns daran erfreuen, dass ihnen ihre Religion dabei hilft, es zu finden. Wenn ihre Religion oder ihr spiritueller Weg zu ihrem Wohlergehen beiträgt, sollte das für uns ausschlaggebend sein.

17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje

Ogyen Trinley Dorje ist einer der beiden offiziell inthronisierten XVII. Karmapas, Oberhaupt der Karma-Kagyü-Tradition des tibetischen Buddhismus. Der andere ist Thaye Dorje. Er lebt nach seiner Flucht aus Tibet im indischen Exil. 2014 besuchte er erstmals Deutschland. Er setzt sich sehr für die Gleichstellung der Frau, Umweltschutz, vegetarische Ernährung und den interreligiösen Dialog ein.

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