Die Thangka-Malerinnen von Boudha

Ein Beitrag von Heike Frenzel veröffentlicht in der Ausgabe 2023/4 Verantwortung unter der Rubrik Kunst.

Jährlich bereisen Zehntausende Touristinnen und Touristen Nepal. Nur wenige nehmen sich die Zeit, die Menschen vor Ort mit ihren Sorgen und Träumen genauer kennenzulernen. Ein Reisebericht von Heike Frenzel.

Bevor ich 2022 erneut nach Nepal reiste, hatte ich das Land schon zweimal besucht, um als Freiwillige in der Clinic Nepal, einer kleinen Ambulanz, Patientinnen und Patienten zu behandeln. Nun verspürte ich den Wunsch, ohne größere Pläne und mit offenem Herzen in das Leben der Landeshauptstadt Kathmandu einzutauchen und deren heilige Stätten zu besuchen. Eines hoffte ich: ein ganz bestimmtes Thangka zu finden. 

Durch eine glückliche Fügung fand ich eine Unterkunft im Stadtteil Boudha, vis-à-vis des großen Stupa Jhyarung Khasyor, der in Kathmandu auch als „Geist Buddhas“ betrachtet wird. „Wir nennen den Stupa auch wunscherfüllendes Juwel“, erklärte mir Rabindra, mit einem warmherzigen Lächeln hinter seinem Verkaufstresen sitzend. Er fühle sich gesegnet, sagte er, seine Handwerkskunst seit zwanzig Jahren direkt an dem Stupa verkaufen zu können. Er muss es wohl wissen, dachte ich. Dass sich im Umfeld des Stupa Dinge auf besonders günstige Art und Weise zu synchronisieren schienen, meinte auch ich zu spüren. Sicherlich trug die betonte Herzlichkeit und Friedfertigkeit der Menschen hier ihren Teil dazu bei.

Nach der Morgenmeditation tauchte ich regelmäßig in den frühmorgendlichen Strom der kora-Gehenden ein; Kora nennt man die rituelle Umrundung eines Stupa oder anderen Heiligtums. Anschließend setzte ich mich zum traditionellen nepalesischen Milchtee auf die Stufen des Klosters Guru Lhakang zu den Einheimischen. Wie gut es mir hier ging. Die ungeschminkte Einfachheit dieses Ortes schenkte mir Entlastung und Erdung. Nur mein Thangka hatte ich noch nicht gefunden. Zwei sympathische junge Nepalesinnen setzten sich direkt neben mich auf die Stufen. Einer Eingebung folgend fragte ich sie, ob sie wüssten, wo ich mein Thangka wohl finden könne. Zu meiner Überraschung sagten sie: „Den können wir dir doch malen!“ 

Kurze Zeit später saß ich mit Minchu und ihrer älteren Schwester Susma bei einem Nescafé in der kleinen Galerie der beiden. Ich sah mich um. Kein Zweifel: Minchu und Susma waren äußerst begabte Künstlerinnen. Die einfachen Umstände ihres Ateliers ließen die schöpferische Kraft ihrer Thangkas umso stärker strahlen. Gleichzeitig nahm mich die erfrischend ungekünstelte und herzliche Art der beiden Frauen ein. Wohlhabend schienen sie mir trotz der eigenen kleinen Galerie nicht zu sein. Ich gab zwei Thangkas in Auftrag.

Gerne wollte ich die Frauen aber auch näher kennenlernen und von ihrem Leben und ihrer Kunst erfahren. In der folgenden Zeit traf ich mich darum mehrere Male mit Minchu, Susma und weiteren Familienmitgliedern, und ihre freundlichen Antworten auf meine Fragen eröffneten mir nach und nach Einblicke in eine äußerst kraftvolle Familie. Schwere Schicksalsschläge und Armut hatten deren Harmonie, Sanftmut und Herzlichkeit nicht trüben können, so schien es mir. Gelacht wurde häufig. Groll schien es nicht zu geben.

Arbeitsplätze schaffen

„Erst einmal möchten wir unserer Familie helfen, ein besseres Leben zu führen“, antwortet mir Minchu so ernsthaft wie bestimmt auf meine vorsichtige Frage nach ihren beruflichen Wünschen. „Später möchten wir dann gern Arbeitsplätze für ärmere Frauen schaffen.“ Trotz der mutigen Pläne liegt in ihrer Stimme ein trauriger Unterton. Habe ich eben noch im Bann der farbenprächtigen und wunderschönen Rollbilder geschwelgt und mich an der Gesellschaft der lebenslustigen Frauen erfreut, so führt mich Minchus Antwort sanft in die oft bedrückende Wirklichkeit eines sogenannten Entwicklungslandes zurück. 

Die 27-jährige Minchu Yonjan Lama und ihre 37-jährige Schwester Susma Lama haben, ebenso wie ihre vier Geschwister, die traditionelle Thangka-Malerei von ihrem Vater Karma Yonjan Lama gelernt. „Lama“ ist in der Volksgruppe der buddhistischen Tamang, zu der die Familie gehört, ein weitverbreiteter Familienname. Die Tamang sind tibetobirmanischen Ursprungs und machen etwa fünf Prozent der nepalesischen Bevölkerung aus. 

Vater Karma Yonjan, heute 69 Jahre alt, hat die Malerei bei seinem Vater gelernt, der ein buddhistischer Lama war. Obgleich Karma Yonjan einst ein sehr bekannter Thangka-Maler in Nepal war, konnte er seine Kunst nicht eigenständig an westliche Besucherinnen und Besuchern verkaufen; dazu reichten seine Sprachkenntnisse nicht aus. Er war daher auf Wiederverkäufer angewiesen, die ihn übervorteilten, sodass die Familie weiter in Armut leben musste. Denn Einheimische können meist nur so viel für einen Thangka erübrigen, dass es für die Malerin oder den Maler gerade zum Überleben reicht. Für die Kinder der Familie bedeutete das viele Einschränkungen. So fehlte zu den traditionellen Feierlichkeiten das Geld für schöne Festtagskleidung. „Als Kinder waren wir dann sehr traurig“, erinnert sich Minchu. „Unsere Eltern sagten immer, im nächsten Jahr werde es besser. Aber es wurde nie besser!“ 

Die Armut konnte die Familie allerdings nicht davon abhalten, sich für andere einzusetzen. Vater Karma Yonjan hat viele obdachlose junge Menschen kostenlos in der Thangka-Malerei ausgebildet, um ihnen eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Ganz selbstverständlich versorgten er und seine Frau sie wie die eigenen Kinder mit allem Lebensnotwendigen. Um alles das zu ermöglichen und die Familie über Wasser zu halten, verkaufte Ehefrau Maya Dolmo Lama neben der Haus- und Gartenarbeit Sitzmatten, die sie selbst geflochten hatte. Leider erlag sie 2015 einer Krebserkrankung.

Nun richteten sich die Hoffnungen der Familie auf den älteste Sohn Anil, der sehr schnell Englisch lernte. Vielleicht konnte es ja doch gelingen, mit seiner Hilfe einen eigenen Thangka-Shop zu eröffnen. Doch es kam ein schwerer Schlag: Im Alter von 24 Jahren wurde Anil tot aufgefunden und die Todesursache nie geklärt. Wenige Jahre später verließ die Familie Kathmandu, um in einem kleinen Dorf in Chitwan Zuflucht vor den traurigen Erinnerungen zu suchen und sich zusätzlich mit Landwirtschaft über Wasser zu halten.

Auch Minchu, die jüngste unter den Geschwistern, lernte relativ gut, Englisch zu sprechen; denn für Karma Yonjan war es selbstverständlich, seine Töchter genauso wie die Söhne zu fördern. Minchu konnte, ebenso wie ihre ältere Schwester Susma, trotz großer Armut das zwölfte Schuljahr beenden. Aufgrund hervorragender Leistungen erhielt sie ein Stipendium, konnte sogar studieren und einen Bachelorabschluss in Betriebswirtschaft machen. Für Menschen aus der buddhistischen Tamang-Community ist es im hinduistisch geprägten Nepal allerdings schwierig, eine Arbeitsstelle zu finden, da sie noch immer in vielem benachteiligt werden. 

Verzicht auf Heirat

Eine neue Idee kam auf: Minchu könnte mit ihren Talenten und ihrem Wissen mit für eine gute Zukunft der Familie sorgen. Da war sie wieder, die Hoffnung auf bessere Zeiten und einen eigenen Thangka-Shop. 2021 zogen Minchu und Susma zurück nach Kathmandu, um diesen Traum endgültig Wirklichkeit werden zu lassen.

Normalerweise, erklärten mir Minchu und Susma, werde bei den Tamang im Alter von 20 bis 25 Jahren geheiratet. In ganz Nepal zieht, der Tradition entsprechend, die Braut zur Familie des Ehemanns. Dort erfüllt sie die traditionelle Frauenrolle, bekommt Kinder und führt den Haushalt. Alles Einkommen bleibt in der Familie des Ehemanns. Die Gründe dafür liegen vor allem in der wirtschaftlichen Lage Nepals, das ein armes Land ist, mit einem wenig entwickelten Sozialsystem. Indem die Menschen ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten der Familie und der Gemeinschaft zurückstellen, fangen sie die Härten und Risiken des Lebens auf, zumindest teilweise. 

Doch nur eine der Töchter von Karma Yonjan hat bislang geheiratet: Chandra May, die zweitjüngste, lebt mit ihrem Ehemann in den USA. Minchu, Susma und eine weitere Schwester namens Puspa haben bisher nicht geheiratet. „Unser Vater hat so viel für uns getan. Alle unsere Einnahmen sollten zuerst in unsere Familie fließen“, sagt Minchu bestimmt, doch ich sehe ihrem Vater an, dass er unter dieser Situation für seine Töchter leidet. Die Höflichkeit gebietet es mir, an dieser Stelle nicht weiter nachzufragen. 

Erfrischend selbstbewusst

Und Minchu und Susma sprühen ja auch vor Plänen. In der Gemeinschaft der Tamang und in ihrer buddhistischen Umgebung fühlen sie sich als Frauen und Künstlerinnen gleichberechtigt, lassen sie mich erkennen. Beide haben den Traum, später einmal Ausstellungen zu organisieren, um den Erhalt der Tamang-Kultur zu unterstützen. „Jede Kultur, jede buddhistische Schule und jede Religion soll bewahrt werden“, betonen sie. „Wir wünschen uns, dass unsere Thangkas als Tamang-Kunst wahrgenommen werden. Denn wir sind ja Tamang, keine Tibeter. Einige Menschen sagen, Tamang wüssten nicht so viel über den Buddhismus, weil sie arm sind. Daher möchten wir unsere Tradition bekannter machen.“ Susma, die mehrere Jahre in einem Restaurant ausgeholfen hat, hegt insgeheim noch einen weiteren Traum, wie sie mir erzählt: Sie möchte irgendwann noch einmal Kunst studieren, um noch mehr für die traditionelle Kunst tun zu können.

In alldem treten die beiden Schwestern mit einer heiteren und sanften Gelassenheit auf, immer wieder aber auch erfrischend selbstbewusst und schlagfertig. Das Malen der Thangkas sei für sie wie eine Meditation, erzählen sie mir. Ein entspannter Geisteszustand sei eine der Voraussetzungen für gutes Gelingen. Jeden Thangka beginnen die Schwestern mit einer puja, einer Ehrerweisung, für die jeweilige Gottheit. „Wirkliche buddhistische Praxis bedeutet, zum Wohle aller Lebewesen aktiv zu werden“, sagen sie aus tiefstem Herzen. Den Straßenhunden am Fluss Bagmati haben sie mit regelmäßigen Fütterungen ihre Fürsorge zukommen lassen. Und als Vajrayana-Praktizierende helfen sie in einem befreundeten Theravada-Nonnenkloster bei Feierlichkeiten und anderen Anlässen in der Küche aus. Der über 90-jährigen leitenden Nonne des Klosters standen sie in ihren letzten Lebenstagen und -nächten tatkräftig als ungelernte Pflegekräfte bei. 

Es geht aufwärts

Nach meiner Rückkehr aus Nepal muss ich noch oft an diese Familie denken.

Einige Monate später besuche ich das Land erneut. Dort erfahre ich, dass sich den mir inzwischen so vertraut gewordenen Thangka-Malerinnen durch weitere Kontakte zu westlichen Buddhistinnen und Buddhisten neue Möglichkeiten eröffnet haben. Inzwischen stehen ihnen auch die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, eigene T-Shirts mit selbst entworfenen Designs auf den Markt zu bringen. Es bahnt sich zudem eine Zusammenarbeit mit einem europäischen Modeunternehmer an, der das Talent der beiden Schwestern erkannt hat.

Vater Karma Yonjan hat eine eigene Theorie, warum es aufwärts geht: Die Familie hat begonnen, in Chitwan einen Stupa zum Wohle aller Lebewesen zu errichten. Daher die glückliche Fügung, dass der langersehnte Thangka-Shop nun in sehr guter Lage eröffnet werden konnte – die Familie kann ihr Glück kaum fassen. 

Während ich, wieder daheim in Deutschland, diese Zeilen schreibe, blicke ich auf die sehr schönen Thangkas der Schwestern an meiner Zimmerwand und bin mir sicher: Minchu, Susma und Karma Yonjan werden ihr Glück mit anderen teilen.

Weitere Informationen

Eine eigene Webseite hat die Familie nicht, um ihre Thangkas zu verkaufen, aber es gibt eine Präsenz auf Facebook (facebook.com/minchu.lama) und auf Instagram (instagram.com/minchulama).

Fotos Sajin Khadgi

Der Fotograf Sajin Khadgi aus Lalitpur, Nepal, war von 2001 bis 2021 Mönch in der Theravada-Tradition.
Er hat an der Internationalen Buddhistischen Akademie von Sri Lanka das Fach „Buddhist Leaderhip“ studiert und mit dem Bachelor abgeschlossen.

Heike Frenzel

ist Heilpraktikerin und Ergotherapeutin mit eigener Praxis in Dortmund und seit mehr als 30 Jahren Dharma-Praktizierende. Sie
reist gerne nach Nepal, um sich von der Demut, Herzensgüte und Gelassenheit der dortigen Buddhistinnen und Buddhisten inspirieren zu lassen. heike-frenzel.de

Alle Beiträge Heike Frenzel