Die Stimme der Schwachen

Ein Interview mit Bob Isaacson geführt von Wiebke Westphal veröffentlicht in der Ausgabe 2016/1 Achtsamkeit unter der Rubrik Im Gespräch.

Es war der Vietnamkrieg, der den Friedensaktivisten Bob Isaacson dazu veranlasste, Anwalt zu werden. Nach Abschluss seines Jurastudiums reiste er durch Europa, Asien und Afrika und wusste bei seiner Rückkehr: Er wollte sich in seinem Beruf engagieren und die Gesellschaft verändern. Also vertrat er Menschen, die sich keinen Anwalt leisten konnten, und setzte sich gegen die Todesstrafe ein. Heute leiht er seine Stimme den Schwächsten unserer Gesellschaft – Tieren. Bob Isaacson meint: Es ist an der Zeit, dass auch Buddhistinnen und Buddhisten aufwachen, was die Lage der Tiere angeht. Anlässlich einer Vortragsreise in Deutschland konnte Buddhismus-aktuell-Mitarbeiterin Wiebke Westphal mit dem buddhistischen Tierrechtsaktivisten sprechen.

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Wiebke Westphal: Sie waren 25 Jahre lang Anwalt für Menschenrechte. Heute setzen Sie sich vor allem für Tierrechte ein. Gibt es zwischen diesen beiden Bereichen einen Zusammenhang?

Bob Isaacson: Als Anwalt für Menschenrechte habe ich mich vor allem mit der Todesstrafe befasst, die damals von vielen als das größte Menschenrechtsproblem in den USA angesehen wurde. Und das auch, weil dies etwas mit Rassismus zu tun hatte – darum war ich im Grunde ein Anwalt für Menschenrechte, der auf den Rassismus aufmerksam machte. In meinem Herzen gab es da immer eine klare Verbindung zu Tierrechten. Wenn man sich für Menschenrechte einsetzt, spricht man im Namen derer, die sich unter den gegebenen Umständen – zum Beispiel aufgrund eines Mangels an Geld oder Macht – kein Gehör verschaffen können. Das Gleiche gilt für Tiere, die überhaupt nicht für sich selbst sprechen können. Die Zahl der Tiere, die wir jedes Jahr essen, nimmt so unglaublich rasant zu – und dazu tragen auch die vielen Buddhistinnen und Buddhisten bei, die trotz der Lehre des Buddha nicht auf Fleisch verzichten.

WW: Deshalb haben Sie die Organisation „Dharma Voices for Animals“, kurz DVA gegründet. Erzählen Sie uns ein bisschen über die Geschichte dieser Organisation.

BI: Wir haben „Dharma Voices for Animals“ vor vier Jahren gegründet, um Dharma-Gemeinschaften auf der ganzen Welt dafür zu sensibilisieren, in welchem Maß auch buddhistische Menschen und buddhistische Einrichtungen direkt und indirekt zum Leiden der Tiere beitragen. Milliarden von Tieren werden jedes Jahr gequält und getötet, auch aufgrund von Entscheidungen, die Buddhistinnen und Buddhisten treffen, und zwar entgegen den Lehren des Buddha. Auch sie tragen dazu bei, dass das Leiden der Tiere immer weiter zunimmt. Die Zielgruppe, die wir erreichen wollen, ist also ziemlich groß. Wir sprechen von etwa 500 Millionen Buddhisten. Hier wollen wir die Stimmen der Tiere sein, die fragen: Warum tut ihr mir das an? Warum bezahlt ihr andere dafür, mich zu töten oder zu quälen?

WW: Wie reagieren Buddhistinnen und Buddhisten auf Ihre Initiative? Schließlich ist es unbequem und vielleicht sogar unangenehm, wenn der eigene Fleischkonsum und die eigenen Gewohnheiten hinterfragt werden.

BI: Das ist ganz unterschiedlich. Bei meinem Vortrag neulich im Buddhistischen Haus in Berlin gab es alle Arten von Reaktionen. Manche Menschen sind sehr offen für die Botschaft. Wer zum Beispiel schon vegan lebt, praktiziert diesen Ernährungsteil der Dharma-Praxis ja schon. Dann gibt es viele, die neugierig werden. Darum versuchen wir auch häufig, bekannte Lehrerinnen und Lehrer für Vorträge zu diesem Thema zu gewinnen, weil die Menschen ihnen viel Vertrauen entgegenbringen, besonders wenn die Vortragenden ordiniert sind. Das konnten wir vor allem in Asien, wo wir ja auch aktiv sind, beobachten. Und dann gibt es natürlich auch viele Menschen, die sich sehr verschließen und sich nicht ändern möchten.

WW: Mit welchen Argumenten?

BI: Im Grunde begegnen wir immer wieder zwei Arten von Reaktionen. Die erste ist wütend und defensiv: „Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich zu essen habe!“ oder „Geht das jetzt wieder mit den Tieren los?“ Die andere zieht sich freundlich aus der Affäre: „Ich weiß, ich sollte kein Fleisch essen. Wenn ich der Lehre des Buddha tatsächlich folgen würde, sollte ich mich ändern. Aber es tut mir Leid – so verhalte ich mich nun mal.“ Doch wir werden unsere Botschaft weiter verbreiten, auf respektvolle Weise und möglichst, ohne die Menschen hart zu konfrontieren, denn das würde den Tieren nichts nützen. Trotzdem bleiben wir hartnäckig, denn das Thema ist nicht nebensächlich und nicht trivial – vor allem nicht für die millionenfach betroffenen Tiere. Deshalb suchen wir immer wieder nach Wegen, um uns Gehör zu verschaffen.

WW: Geht es Ihnen ausschließlich um die Ernährung, oder befassen Sie sich auch mit anderen Aspekten wie Tierversuchen oder Naturschutz und Artensterben?

BI: Ich finde das Thema Kleidung sehr wichtig, zum Beispiel die Frage, aus welchem Material die Schuhe gemacht sind, die man trägt. Bevor ich Veganer wurde, habe ich mich vegetarisch ernährt und als Anwalt stand ich vor dem Problem, dass ich repräsentativ aussehen musste, um ernst genommen zu werden. Sie können sich vorstellen, wie wenig Schuhe es damals gab, die nicht aus Tierleder waren und trotzdem für einen Auftritt vor Gericht in Frage kamen. Das hat sich heute geändert. Im Internet gibt es zahllose Möglichkeiten und Webseiten aus den verschiedensten Ländern, die vegane Schuhe zum Versand anbieten, und das qualitativ sehr hochwertig. Je mehr ich mich dann mit der Produktion von Kleidung beschäftigte, desto mehr lernte ich darüber, wie qualvoll zum Beispiel auch das Leben von Schafen ist. Die Schafscherung, wenn ihnen die Wolle bis aufs Fleisch abgenommen wird, ist ein brutaler und häufig auch blutiger Akt. Natürlich werden sie am Ende auch geschlachtet und das lange, bevor sie eines natürlichen Todes sterben würden. Wolle, Leder, Pelz, Seide – das alles findet sich nicht nur in unserer Kleidung, sondern auch in Möbeln und Autos. Auch hier haben unsere Entscheidungen einen enormen Einfluss auf das Maß des Leidens. Aber es gibt Alternativen und deren Verfügbarkeit ist heute kein unüberwindliches Problem mehr. Dazu informieren wir auch auf unseren Seiten. Trotzdem versuchen wir als Organisation in erster Linie, Menschen dazu zu ermutigen, vegetarisch oder vegan zu leben.

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WW: Warum dieser Fokus?

BI: Wegen der enormen Zahlen. Man muss sich klar machen: Jedes Jahr werden weltweit in der Landwirtschaft schätzungsweise 70 Milliarden Tiere getötet. In den USA allein 9 Milliarden Hühner. Aufgrund dieser schockierenden Zahlen ist das unser Fokus. Wir lenken die Aufmerksamkeit auf die Grausamkeit und möchten hier mehr Bewusstheit erreichen: Wer einen Burger isst, trägt zu dieser unglaublichen Zahl an getöteten und gefolterten Tieren bei. Um die buddhistischen Zentren anzusprechen, haben wir zum Beispiel einen Fragebogen entworfen, der auch auf unserer Webseite heruntergeladen werden kann. Wir fragen darin zum Beispiel, ob im Zentrum auch vegetarische und vegane Mahlzeiten angeboten werden, ob die Lehrerinnen und Lehrer dort das Thema ansprechen oder sich vielleicht sogar selbst als vegetarisch oder vegan zu erkennen geben. Viele verhalten sich hier sehr unbewusst, sprechen öffentlich darüber, wie gern sie Burger oder Sushi essen – dabei sind sie wichtige Vorbilder, und ihre Schülerinnen und Schüler könnten den Eindruck gewinnen, dass es im buddhistischen Kontext in Ordnung wäre, Fleisch zu essen. Deshalb bitten wir Lehrerinnen und Lehrer, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, auch darum, sich zu „outen“ und zu erklären, welcher Aspekt des Buddhismus sie von dieser Ernährungsweise überzeugt hat.

WW: Was machen Sie mit diesen Fragebögen? Ich könnte mir vorstellen, dass viele Zentren den Eindruck gewinnen, Sie wollten da eine Art öffentlichen Pranger aufstellen.

BI: O nein, wir veröffentlichen die Antworten nicht! Sondern wir versuchen, mit diesen Informationen ausgestattet, Kontakt mit einem Entscheidungsträger in den Zentren aufzunehmen. Sehr respektvoll und immer in dem Bemühen, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner zu finden. Oft zeigen sich diese Menschen dann sehr offen für unsere Vorschläge. Aber natürlich gibt es auch Widerstand. Eines der größten Meditationszentren in den USA – dort meditieren jährlich 50 000 Menschen – verarbeitet Unmengen an Eiern und Milchprodukten. Dort ein Gespräch anzustoßen hat sich bis jetzt als enorm schwierig erwiesen. Es gibt aber auch Zentren in den USA, in denen nicht einmal vegetarische Alternativen zum Fleisch auf dem Speisezettel stehen. Die Erklärung lautet dann oft, dass eben nicht viele Vegetarier an den Retreats teilnehmen würden. Und wir sagen dann, dass vielleicht mehr kommen würden, wenn es entsprechendes Essen gäbe – so versuchen wir einen Dialog anzustoßen.

WW: Kommen wir doch einmal auf die buddhistische Lehre zu sprechen – wo sehen Sie da die Regeln, die Anregungen, die Haltung zum Fleischkonsum?

BI: Es gibt mindestens fünf Lehren des Buddha, die ganz klar eine friedfertige, vegetarische oder vegane Ernährung bevorzugen. Nehmen wir den rechten Lebenserwerb. Der Buddha hat fünf Bereiche festgelegt, in denen Menschen ihren Lebensunterhalt nicht verdienen sollten, weil sie schlecht sind. Das umfasst den Menschenhandel, das Töten von Menschen, den Waffenhandel, das Töten von Tieren und das Halten von Tieren zum Zwecke des Tötens. Der letzte Punkt zeigt, dass der Buddha nicht nur die direkte, sondern auch die indirekte Beteiligung am Töten von Tieren ablehnte.

Oder: Die erste der fünf buddhistischen Ethikregeln verbietet das Verletzen oder Töten eines empfindungsfähigen Wesens. Empfindungsfähig bedeutet, dass dieses Wesen Schmerz spürt. Ein Huhn oder ein Schwein fühlt Schmerz. Und genau wie wir frei von Schmerz sein wollen, wollen es auch die Tiere – und wer Fleisch isst oder Angeln geht, beteiligt sich daran. Wir schlitzen dem Schwein vielleicht nicht persönlich die Kehle auf, doch wenn das Fleisch auf unserem Teller landet, wissen wir, dass jemand genau das dem Tier angetan hat. Und wir wissen, dass dieses Tier zuvor ein furchtbares Leben erdulden musste. Unser indirektes Handeln hat damit einen genauso großen Einfluss wie das aktive, und es führt zu ebenso großem Leid.

WW:  Nun gibt es aber auch die berühmte Geschichte, wonach der Buddha den Mönchen erklärte, dass sie kein Fleisch essen sollen, von dem sie vermuten, dass das Tier für sie getötet wurde, oder dies gesehen oder gehört haben.

BI: Das stimmt, und viele ziehen daraus den Schluss, es sei in Ordnung, Fleisch zu essen, wenn diese exakte Anforderung nicht erfüllt ist. Mönche, die sich vom Betteln ernähren, sollen nicht wählerisch sein – das wollte der Buddha damit sagen. Wichtig ist nun aber: Wir haben es hier mit einer Ausnahme von der Regel zu tun. Wenn wir keine Mönche oder Nonnen sind und uns nicht vom Betteln ernähren, sondern auf einem Markt oder in einem Laden einkaufen – dann gilt das für uns nicht, denn wir wählen ohnehin aus einem reichen Angebot aus. Und darin sind eben auch vegetarische Alternativen. Hier müssen wir eine Entscheidung treffen – möchten wir als Buddhistinnen und Buddhisten wirklich Lebensmittel kaufen, die das Leiden von Lebewesen unterstützen? Oder möchten wir eine Haltung des Mitgefühls kultivieren und Lebensmittel kaufen, die ohne solche Gewalt produziert worden sind?

WW: Geht es nicht im Grunde und ganz einfach nur darum – um Mitgefühl? Und gar nicht so sehr um die komplizierte Interpretation einzelner Lehrreden des Buddha?

BI: Das denke ich auch. Denn wie auch immer man das erste Gelübde interpretiert – es bleibt die Frage: Wie steht es mit dem Mitgefühl? Es ist eine Tatsache, dass Schweine, die heute zum Fleischkonsum aufgezogen werden, ein furchtbares Leben führen. Sie werden in winzigen Ställen gehalten, können sich kaum bewegen. Vielleicht können sie in ihrem Leben nicht ein einziges Mal liegen. Sie leben wirklich in einer Hölle. Und wenn sie zur Schlachtbank geführt werden, erleben und sehen sie, wie andere Tiere vor ihnen geschlachtet werden. Oft ist es auf dem Transport so heiß oder so kalt, dass die Tiere allein deshalb schon auf dem Weg zur Schlachtung sterben. Da kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Mitgefühl jemanden beim Einkaufen dazu bewegen kann, zum Fleisch zu greifen.

WW: Eine andere wichtige Idee im Buddhismus ist das Geflecht von Ursache und Wirkung – und die Vorstellung, dass es darum geht, sich als Mensch selbstverantwortlich zu formen und zu entwickeln. Deshalb geht es ja auch um die Frage: Welche Konsequenzen hat es für mich als einzelnen Menschen, wenn ich die buddhistischen Ethikregeln ignoriere? Und umgekehrt: Inwiefern ist es gut und heilsam für mich, wenn ich auf Tierrechte achte?

BI: Sicherlich, ganz unabhängig von der Frage der Wiedergeburt und der genauen Interpretation der Karma-Vorstellung, ist es ja schon im Alltag offensichtlich, dass alles, was wir tun, erhebliche Auswirkungen auf uns selbst und auf andere hat. Wenn wir zum Beispiel einem fremden Menschen auf der Straße eine Freundlichkeit erweisen, haben wir spontan ein gutes Gefühl und der andere auch – und vielleicht wird er in einigen Minuten freundlich zu einem dritten Menschen sein und so weiter. Genau dieselbe Kette entsteht, wenn wir uns aggressiv oder wütend verhalten. Wir ernten, was wir säen. Der Buddha hat uns aufgefordert, uns dieser Konsequenzen unseres Handelns bewusst zu werden. Und das gelingt mir, indem ich achtsam bin. Betrachten wir deshalb den Verzicht auf Produkte, die Leiden fördern, als einen Akt der Großzügigkeit.

WW: Dürfen wir uns dabei auch gut fühlen?

BI: Gewiss! Vegetarisch oder vegan leben zu lernen, das muss kein erdrückender und überfordernder Prozess sein. Wir tun eben unter den gegebenen Umständen mit jeder Entscheidung aufs Neue, was wir können. Und oft erleben wir dabei die Freude des Mitgefühls. So möchten wir Menschen auch inspirieren – wir möchten ihnen nahebringen, wie gut es tut, ein friedvolles Leben zu führen und die Stärke des Mitgefühls zu erleben. Im Mitgefühl gibt es keine Unterscheidung zwischen „uns“ und „den anderen“. Die sogenannten Nutztiere gehören zu den schwächsten Wesen dieser Welt und sie werden über unsere Vorstellungskraft hinaus geschunden und ausgebeutet. Ihnen Mitgefühl entgegenzubringen durch unsere Entscheidungen – das ist die Essenz der Lehren des Buddha.

WW: Und wie sieht Ihre Vision aus – eine vegane Gesellschaft ohne Tierhaltung?

BI: (lacht)   Das klingt wunderbar! Wir arbeiten schrittweise darauf hin.

Bob Isaacson

Bob Isaacson praktiziert seit 18 Jahren den Dharma in der Vipassana/Theravada Tradition. Er war 25 Jahre lang ein Bürgerrechts- und Menschenrechtsanwalt, spezialisiert auf die Verteidigung von Menschen gegen die Todesstrafe. Bob unterrichtet derzeit den Dharma, leitet zwei Sanghas, sowie eintägige- und Wochenend-Retreats in der Gegend von San Diego, nachdem er im Spirit Rock Meditation Center zum Dharma-Leiter ausgebildet wurde. Bob ist DVA-Mitbegründer und Präsident.

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