Die Resonanz des Körpers
Für die Therapeutin Isabel Viramo von Roon spielt die Integration von Körper, Geist und Emotionen eine Schlüsselrolle auf dem Weg der Heilung. Dabei bindet sie auch buddhistische Ansätze und Sichtweisen ein. Sarina Hassine hat mit ihr über Trauma, Resonanz und die heilende Kraft der Weite gesprochen.
Sarina Hassine: Erzähl uns ein bisschen von dir und deinem Weg. Wie hat sich dein doch sehr breites Spektrum entwickelt?
Isabel Viramo von Roon: In meinen Zwanzigern kam ich in Berührung mit dem Buddhismus. Ich war Anhängerin von Osho und reiste nach Indien und in die USA. Ende der 1990er-Jahre vertiefte ich meine buddhistische Praxis mit Wilfried Reuter in der Theravada-Tradition und engagierte mich auch aktiv bei der Gründung des Lotos-Vihara-Zentrums in Berlin. Später begleitete mich über sieben Jahre der Ehrwürdige Piyadhammo, ein begnadeter Lehrer in der Theravada-Tradition, der in Berlin-Lichtenberg lebt und bei dem wir sehr intensiv – fast wie in der Schule – Theorie und Praxis lernten.
Nach dem Abitur hatte ich entschieden, eine Ausbildung zur Korbflechterin zu machen, weil ich damals das Gefühl hatte, der Welt den Rücken kehren zu müssen. Doch schnell stellte ich fest, dass ich mit diesem einfachen Leben nicht wirklich meinen Lebensunterhalt sichern konnte. Die Sehnsucht nach Einfachheit und innerer Ruhe tauchte jedoch später wieder auf, als ich durch Marokko und die Wüste reiste.
Im Jahr 2002 entdeckte ich die Gestalttherapie und begann meine erste therapeutische Ausbildung im Therapeutischen Institut für integrative Gestalt- und Körpertherapie Berlin, das schon damals mit einem tibetischen buddhistischen Zentrum zusammenarbeitete. Einmal im Monat besuchte uns ein Mönch und meditierte mit uns. Hier wurde die tiefe Resonanz zwischen den beiden Welten spürbar.

Kannst du kurz erklären, was Gestalttherapie bedeutet und worin für dich die Verbindung zum Buddhismus besteht?
In der Gestalttherapie steht die direkte Erfahrung, der Kontakt im Hier und Jetzt im Mittelpunkt. Menschen lernen, auf innere und äußere Signale zu achten, Emotionen und Gedanken bewusst wahrzunehmen. Gestalttherapie und Buddhismus passen gut zusammen, da beide Ansätze Achtsamkeit und Präsenz betonen und dazu ermutigen, die eigenen Erfahrungen anzunehmen, ohne sie zu bewerten.
Im Laufe der Zeit erweiterte sich mein therapeutisches Spektrum: Ich machte die Ausbildungen in Somatic Experiencing nach Dr. Peter Levine und Compassionate Inquiry nach Gabor Maté und integrierte diese traumatherapeutischen Methoden in meine Arbeit. Compassionate Inquiry lässt sich als mitfühlende Erkundung oder einfühlsame Befragung übersetzen. Beide Ansätze arbeiten sehr direkt mit dem Körper.
Warum ist die Arbeit mit dem Körper wichtig und wie sieht sie aus?
Somatic Experiencing, also körperliches Erfahren, ist eine sehr achtsame und feine Arbeit, die mich auf Anhieb begeistert hat. Um es besser zu verstehen, muss man vielleicht zuvor den Begriff Trauma erklären: Trauma bezeichnet eine tiefgreifende seelische oder körperliche Verletzung, die durch überwältigende Ereignisse verursacht wird. Dabei ist das Trauma nicht das Ereignis selbst, sondern das, was im Nervensystem zurückbleibt. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Trauma tief in der körperlichen Erfahrung verwurzelt ist. Körperorientierte therapeutische Ansätze nutzen diese Erkenntnisse, um Heilung auf körperlicher und emotionaler Ebene zu fördern. Es gibt ein sehr gutes Buch von Dr. Bessel van der Kolk, „The Body Keeps the Score“. Auf Deutsch ist das Buch 2024 unter dem Titel „Verkörperter Schrecken“ im G. P. Probst Verlag erschienen. Es beschreibt, wie sich traumatische Erlebnisse in Form von Muskelverspannungen, chronischen Schmerzen und anderen körperlichen Symptomen manifestieren können.
Woran merkt man denn, dass im Körper noch ein Schrecken steckt?
Auf der geistigen, mentalen Ebene kann man traumatische Ereignisse vergessen haben, doch der Körper vergisst nichts. Wer als Kind beispielsweise in einer Atmosphäre von viel Streit oder Gewalt aufgewachsen ist, hat oft auch als erwachsener Mensch ein Nervensystem in hoher Aktivierung und Alarmbereitschaft. Bei manchen bleibt nach einem bedrohlichen Erlebnis eine Angst im Körper und kann in bestimmten Situationen Panikattacken auslösen. Im Somatic Experiencing versuchen wir, den Stress auf der körperlichen Ebene aufzulösen und aus dem Körper zu entlassen.
Kannst du einmal an einem Beispiel beschreiben, wie diese Arbeit mit dem Körper beim Somatic Experiencing vor sich geht?
Grundlage ist, dass sich die Klientin sicher fühlt. Wenn dann im Gespräch heikle Themen aufkommen, unterbreche ich meine Klientinnen und Klienten und lenke die Aufmerksamkeit in den Körper: „Schau doch mal, was jetzt gerade in deinem Körper ist, während du an diese Dinge denkst.“ Vielleicht ist der Hals eng oder das Herz klopft heftig. Dann kann die Klientin damit in Berührung gehen und schauen, ob sie ein bisschen dabeibleiben kann. Oft sind traumatisierte Menschen sehr im mentalen Bereich und abgespalten von ihrem Körper. So holt man sie sanft in den Körper zurück.
Zuvor habe ich mit ihnen ihre Ressourcen erkundet, beispielsweise Erinnerungen, die bei ihnen gute Gefühle und Entspannung hervorrufen. Im Gespräch können wir dann von der schwierigen Erfahrung zu einer Ressource, zum Beispiel einem beruhigenden Bild, wechseln: „Und wie ist es, wenn du auf dein Bild schaust und dann wieder zurück zu deiner Erinnerung gehst?“ Man pendelt zwischen der schwierigen und der angenehmeren Empfindung und dabei verändert sich die energetische Ladung im Körper. Das Nervensystem lernt so, sich zu regulieren und zu entspannen.

Das Unbewusste im Körper kann unser Nervensystem aktivieren, ohne dass wir es steuern können?
Ja, es gibt ja den Begriff „triggern“, der sehr passend ist. Der Trigger ist bei einer Waffe dieser kleine Haken, gegen den man zum Abschießen drückt. Jemand oder etwas drückt auf so einen kleinen Haken bei uns und dann geht unsere innere Ladung hoch. Das kann Wut sein oder Angst oder Traurigkeit. Wenn jemand schwer traumatisiert ist, ist sein sogenanntes Toleranzfenster sehr klein, und das Leben wird an vielen Stellen eingeschränkt. Man vermeidet Situationen, die einen triggern. In der therapeutischen Arbeit geht es darum, dieses Toleranzfenster immer größer werden zu lassen, indem wir mit dem Pendeln auf vorsichtige Art und Weise an den Grenzen arbeiten.
Welche Rolle spielen Emotionen in diesem Prozess?
Emotionen werden oft weggedrückt, weil sie zu heftig sind. Das passiert auch so bei Kindern, wenn sie starke Emotionen erleben, die nicht willkommen sind. Werden sie zum Beispiel weggeschickt, wenn sie wütend sind, und erst wiederkommen sollen, wenn sie sich „beruhigt“ haben, lernen sie, dass es nicht okay ist, wütende Gefühle zu zeigen. Die Emotion wird in den „Schatten“ – das ist ein Begriff aus der Theorie des Psychoanalytikers Carl Jung – verschoben und abgespalten. Als Erwachsene finden wir diese Emotionen dann manchmal in unkontrollierbaren Ausbrüchen wieder. Wir können aber lernen, Emotionen zu halten und anders zu bewerten. Im Buddhismus sind nicht alle Emotionen wünschenswert, aber es ist wichtig, zu erkennen, dass zum Beispiel Wut eine wichtige Funktion hat.
Was bedeutet Resonanz für deine Arbeit und den Heilungsweg der Menschen, die zu dir kommen?
Resonanz beschreibt im Grunde das, was für den therapeutischen Prozess wesentlich ist: Die Resonanz zwischen Klientin und Therapeutin ist ein Wechselspiel von Wahrnehmung und Antwort, eine eingestimmte Verbindung. Durch Achtsamkeit, Offenheit und Vertrauen entsteht ein Raum der echten Begegnung. Resonanz ist deshalb so wichtig, weil es oft genau das ist, was den Klientinnen und Klienten in ihrer Kindheit gefehlt hat – besonders bei Entwicklungstraumata, wenn grundlegende Bedürfnisse nach Sicherheit, Bindung und Fürsorge in der frühen Kindheit nicht erfüllt wurden. Die neue Elterngeneration trägt ihre Kinder viel am Körper, das stärkt die Bindung und schafft Sicherheit. Da hat sich schon vieles verändert. Die „Kinder“, die zu mir kommen, sind oft in meinem Alter, und ihre Eltern hatten noch die Anweisungen aus der Zeit des Nationalsozialismus verinnerlicht, dass man Kinder nicht verzärteln soll.
Kinder, die zuhause keine Resonanz spüren, fühlen sich einsam und falsch. Sie können sich auch als Erwachsene emotional nicht gut regulieren, haben ein schlechtes Selbstwertgefühl und sind in ihrer Bindungsfähigkeit beeinträchtigt. In der therapeutischen Beziehung ist es deshalb entscheidend, so eine eingestimmte Verbindung herzustellen und das Fehlende nachzunähren.
Ist es manchmal schwierig, als Therapeutin mit den eigenen Resonanzen umzugehen?
Meine Klientinnen und Klienten hatten als Kinder oft niemanden, der sie so aushielt, wie sie waren. Als Therapierende lernen wir, beides zu halten: die Erfahrung unseres Gegenübers und unsere eigene Resonanz – also das, was sie mit uns macht. Am Anfang meiner Arbeit ist es mir einige Male passiert, dass jemand ein Thema ansprach, das für mich persönlich noch ungeklärt war. Ich merkte, wie mein Körper und Geist sich verschlossen. Aber das habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Klientinnen und Klienten können uns ja nur vertrauen, wenn sie wissen, dass wir halten können, was sie mitbringen. Wenn ich mich verschließe, kann das nicht gelingen.
Ich mache viel Brahmavihara-Praxis, die Praxis der liebenden Güte, des Mitgefühls, der Freude und des Gleichmuts. Das ist der Hauptaspekt meiner eigenen buddhistischen Praxis: diese Herzensqualitäten zu trainieren und Mitgefühl groß werden zu lassen. Das heißt nicht, dass ich es immer und überall kann, aber im therapeutischen Setting ist es sehr wichtig.
Gibt es da bestimmte Techniken oder Übungen, die du in diesem Prozess anwendest?
Gelegentlich gebe ich meinen Klientinnen und Klienten Hausaufgaben, die darauf abzielen, ihre Achtsamkeit zu schulen, sodass sie bewusst beobachten können, was geschieht, wenn bestimmte Situationen auftreten – beispielsweise Konflikte mit den Eltern. Diese Übungen helfen ihnen, ihre Reaktionen besser zu verstehen. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit besteht darin, mit ihren kindlichen Anteilen zu arbeiten. Beim Compassionate Inquiry werden durch achtsame und mitfühlende Fragen unbewusste Glaubenssätze, emotionale Blockaden und tiefere Ursachen von Leiden aufgedeckt. Hierbei leite ich meine Klientinnen und Klienten dazu an, über die körperliche Empfindung in ihre Erinnerungen zurückzugehen. Dabei stelle ich Fragen wie: „Hast du dieses Gefühl zum ersten Mal oder hast du es schon früher erlebt?“ Oft führt dieser Prozess tief in die Vergangenheit zurück, bis zu Erlebnissen in der Kindheit.
Wenn sie an diesen emotionalen Punkt gelangen, gebe ich ihnen manchmal die Aufgabe, ein Kissen zu nehmen und sich vorzustellen, sie würden das innere Kind halten. Diese Übung dient der Förderung von Mitgefühl und Selbstmitgefühl. Es geht darum, die eigenen verletzten Anteile anzunehmen und zu trösten. Das ist eine Aufgabe, die niemand anders für sie übernehmen kann.
Deine buddhistische Praxis fließt, so nehme ich es wahr, durch deine innere Haltung in deine Arbeit mit den Klientinnen und Klienten. Integrierst du auch konkrete buddhistische Praktiken?
Am Anfang der Sitzung meditiere ich meist zehn Minuten mit meinen Klientinnen und Klienten. Dadurch kommen sie gut an und finden in ihren Körper. Manchmal leite ich auch Meditationen an, die die Selbstliebe stärken. Außerdem bringe ich in den Gesprächen oft Themen wie Alter, Krankheit und Tod zur Sprache. Jede tiefe Angst hat mit der Angst vor dem Sterben zu tun. Ich finde es im Buddhismus besonders hilfreich, dass wir uns mit der Tatsache beschäftigen, dass das Leben begrenzt ist. Da ist eine lange Reihe von Atemzügen. Irgendwann war der erste, irgendwann wird der letzte sein. Dazwischen bewegen wir uns. Das im Bewusstsein zu haben ist so hilfreich und muss nicht weggeschoben werden. Die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, kann sehr entspannen – auch im therapeutischen Prozess.
Wir alle erleben jeden Tag , wie wir in Resonanz gehen mit anderen Menschen oder unserer Umgebung. Manchmal kann uns das sogar zu viel werden. Kann Meditation unsere Fähigkeit, positiv mit Resonanz umzugehen, verbessern?
Ich denke schon. Das Weltgeschehen ist angefüllt mit unermesslichem Leid. Bei vielen Menschen besteht die Tendenz, sich hier abzuschotten. Aber selbst, wenn wir das tun – das Leid ist trotzdem in unserem System, weil wir alle miteinander verbunden sind. Darum ist es so wichtig, dass wir lernen, uns mit Mitgefühl anderen und uns selbst öffnen. Positiv in Resonanz zu gehen bedeutet, ein weites Toleranzfenster zu entwickeln, dann können wir unserem Gegenüber zuhören, es spüren und mit ihm mitfühlen, ohne etwas abblocken zu müssen, weil es uns triggert. In der Meditation lässt sich das üben, im Alltag können wir es leben.

Das klingt nach innerer Weite. Du hast eingangs davon gesprochen, dass du auch die landschaftliche Weite der marokkanischen Wüste liebst und Wüstenreisen sogar persönlich begleitest. Wie hast du dazu gefunden?
Als ich das erste Mal in die Wüste kam, war es für mich, als würde ich nachhause kommen. Ich habe das körperlich erfahren, und es wiederholt sich bis heute immer dann, wenn ich dort an eine bestimmte Stelle komme – sie liegt auf einem Berg und ich kann von oben hinunter in die Weite blicken. Dort gehe ich in Resonanz mit einer Grenzenlosigkeit und bemerke: Mein innerer Raum ist auch grenzenlos. Es ist darin für alles Platz. In Marokko habe ich auch meinen Mann Brahim, einen Berber, kennengelernt. Er organisiert Reisen durch die Wüste. Bei den Wüstenreisen, die ich spirituell begleite, gehen wir in Stille durch die Wüste.Wir schweigen fast den ganzen Tag. In jeder Reisegruppe gibt es viele Resonanzen und Dynamiken. Das Wunderbare ist, dass der Resonanzraum unendlich weit ist und eine Offenheit hat, die sich bewusst erkunden und gestalten lässt.
Weitere Informationen
freies-herz.de
sahara-karawane.de

Isabel Viramo von Roon
Für die Therapeutin Isabel Viramo von Roon spielt die Integration von Körper, Geist und Emotionen eine Schlüsselrolle auf dem Weg der Heilung. Dabei bindet sie auch buddhistische Ansätze und Sichtweisen ein.