Die Magie der Töne
Kristina Bischoff ist nicht nur seit vielen Jahrzehnten Buddhistin in tibetischer Tradition – sie leitet auch Chöre, teils weltliche, teils Dharma-Chöre. In einem sehr lebendigen Interview erzählt sie von den klanglichen, emotionalen und sozialen Resonanzen beim gemeinsamen Singen und von der inneren Resonanz auf die tiefe Weisheit spiritueller Lieder.

BUDDHISMUS aktuell: Du singst gerne, leitest Chöre und arbeitest als Vocal Coach. Was macht das Singen mit uns?
Kristina Bischoff: In dem Moment, wo du singst, bist du sehr gegenwärtig. Du hast Freude, bist sehr offen. Wenn du wirklich aufgehst in dem Song und in deinem Singen, hast du keine Zeit mehr für einen Gedanken wie „Mache ich das gut oder mache ich das schlecht?“. Sowohl im Körper wie auch im Geist passiert so viel Schönes, wenn Menschen singen und wenn sie das in Gemeinschaft tun. Das Singen transportiert Menschen von einem Moment zum nächsten in einen ganz anderen Körper-Geist-Zustand – und das finde ich großartig.
So ging es mir auch schon als Kind. Ich bin in Emden, Ostfriesland, bei meiner Großmutter aufgewachsen, die viel mit mir gesungen hat. Wenn ich mit Oma auf einem Kirchenausflug war, dann hat sie dem Busfahrer gesagt: „Meine Enkelin kann singen“, und hat mich nach vorne gestellt. Wir fuhren mit dem Bus, und ich habe gesungen. Da war ich vier oder fünf Jahre alt. Ich war wohl das, was man ein Naturtalent nennt. Mein Geist kann sich Musik sehr gut merken und ich konnte teilweise Töne in Tonhöhe abspeichern, man spricht heute vom absoluten Gehör.
Ich habe dann schon früh angefangen, in Kinderchören zu singen – bis mir das Singen in der Pubertät zu persönlich, zu intim wurde. Erst viel später, nach meinem Umzug nach Hamburg, habe ich den Faden wieder aufgegriffen und an der dortigen Sängerakademie sowohl klassischen Gesang wie auch Pop studiert. Später habe ich noch ein Zusatzdiplom in Musikpädagogik gemacht und gelernt, andere Menschen in Einzel- und Gruppenarbeit in Musik zu unterrichten. Nach einer Zeit als Musikjournalistin für den Rundfunk arbeite ich heute als Vocal Coach und helfe Menschen, die gerne singen möchten, sich aber nicht trauen. Damit knüpfe ich an meine eigene Erfahrung als Jugendliche an, als ich nicht mehr singen konnte. Es gibt für mich nichts Schöneres, als Menschen zu ermutigen, ihre eigene Stimme und Resonanz zu finden, ihren eigenen Widerhall zu entdecken und zu leben.
Deine Berufsperspektive hat sich auf dem Boden der buddhistischen Praxis entwickelt. Wie kamst du zum Buddhismus?
Mich hat die klare japanische Ästhetik schon früh angesprochen, deshalb habe ich Bücher über den Zen-Buddhismus gelesen und zunächst auch in einer Zen-Gruppe praktiziert. Doch dann habe ich mich nach einem authentischen Lehrer gesehnt, was in meiner Unwissenheit für mich damals bedeutete: jemand aus Asien. 1997 besuchte ein Freund einen Vortrag von Sogyal Rinpoche, was in mir den Wunsch aufkommen ließ, selbst einmal so einen Rinpoche zu treffen. Kurz darauf zog ich in ein neues Stadtviertel und damit „zufällig“ in unmittelbare Nähe zu einem tibetisch buddhistischen Zentrum. Nur ein paar Tage später nahm ich dort Zuflucht. Seitdem bin ich bei den Kagyüs und mein Hauptlehrer ist Dzogchen Pönlop Rinpoche, den ich 1998 kennengelernt habe. 1999 bat ich ihn, mein Lehrer zu sein, und 2000 traf ich seinen Lehrer Khenpo Tsültrim Gyamtso Rinpoche. Diese Begegnungen sind ein großes Glück für mein Leben und ich kann gar nicht ausdrücken, wie dankbar ich bin, solche Meister getroffen zu haben.

Und wie sehr das zu unserem Thema passt: Wenn man sich in den Fluss begibt und die Zeit reif ist, geschehen scheinbare Zufälle. Wenn du dich öffnest und dich von dem leiten lässt, was in dir widerklingt, erlebst du Resonanz.
Wie kamen das Singen und der Buddhismus dann für dich zusammen?
Ich lernte die Dohas kennen – im tibetischen Buddhismus sind sie eine Übertragung von Erkenntnis und Segen mittels Liedern. Ich erinnere mich, wie mir Dzogchen Pönlop Rinpoche selbst mit leiser Stimme einige Dohas vorgesungen hat.
Die Lieder singe ich auch in meinen Chören. Es sind keine gewöhnlichen Songs, sondern die Essenz der Verwirklichung ist in diese Musik gegossen. Wenn du dir einen Song merkst und ihn in deinem Kopf abspielen kannst, brauchst du keine Brille, kein Licht, kein Papier, sondern du kannst ihn jederzeit und überall in dir hören und damit in Kontakt treten. Der Guru des Liedes, der Guru des Wortes kann in diesem Moment direkt mit deiner Praxis in Resonanz sein und in deinem Geist Erkenntnis bewirken. Das macht die Dohas zu einer unglaublich praktischen und wirksamen Methode. Deshalb teile ich das so gerne!
2012 habe ich dann am Kamalashila-Institut in der Eifel den ersten Gesangsworkshop gegeben. Siddha-Singers habe ich das genannt. Anfangs war ich nervös, schließlich ging es hier um bedeutsame spirituelle Lieder. Doch es lag ein Segen darauf und ich bin in die Chorleitung gut hineingewachsen. Zwei Freunde und ich hatten im Jahr 2002 die CD „On A Bloomin’ Lotus Flower“ aufgenommen. Dafür haben wir Gebete, zum Beispiel das Siebenzeilengebet an Guru Rinpoche, in poppig-jazzigen Arrangements aufgenommen. Wir haben auch Konzerte gegeben und unser Publikum gefragt: Was wünscht ihr euch von uns? Daraus entstand im Hamburger Zentrum Theksum Tashi Chöling (TTC) der Dharma-Chor TTC-Singers, der sich einige Jahre sehr regelmäßig getroffen hat.
Seit 2017 leite ich auch weltliche Chöre, in die ich aber immer auch ein paar Dohas und Mantren einfließen lasse. Sie sind eben ein wichtiger Teil von mir und die Chormitglieder nehmen sie auch immer gerne an.
Spricht das Singen eine Seite an, die wir in der Dharmapraxis hierzulande vielleicht zu selten adressieren?
Gerade gestern habe ich noch mit einem Freund, einem Achtsamkeitstrainer, über genau dieses Thema gesprochen. Buddhistinnen und Buddhisten im Westen kennen meist die Shamatha- und Vipassana-Meditation, sie kennen die Achtsamkeitspraxis und halten daran als einzigen Praxisformen jahrelang fest, auch wenn sie vielleicht gar nicht recht vorankommen. Vielleicht übersehen sie, dass es eben auch noch andere Methoden gibt, die auch Stille oder Raum schaffen. Auch mit einem Mantra oder eben einem Doha können wir den Geist erkennen und in den Geist blicken; vielleicht noch unmittelbarer. Um eine Veränderung zu bewirken, müssen Studium, Kontemplation und Meditation zusammenkommen – nicht nur intellektuell, sondern im Körper-Geist-Bewusstsein.
Muss man „gut“ singen können, um an einem deiner Chöre teilzunehmen?
Viele Menschen haben ja leider negative Erfahrungen mit der eigenen Stimme machen müssen, wenn ihnen früher in der Schule gesagt wurde, sie sollten im Chor in der letzten Reihe stehen oder ihre Stimme würde schrecklich klingen. Jeder, der sprechen kann, kann auch singen, und wenn jemand den Wunsch hat zu singen, können wir gemeinsam daran arbeiten und uns verbessern. Mir ist es wichtig, niedrigschwellige Angebote zu machen und alle willkommen zu heißen – gerade bei den Dohas, die ja eine spirituelle Praxis sind. In unserer buddhistischen Linie wird gesagt: „Selbst, wenn du klingst wie ein jaulender Hund, solltest du diese Lieder singen, denn sie tragen den Segen in sich.“
BUDDHISMUS TRADITIONSÜBERGREIFEND WERTSCHÄTZEN UND FÖRDERN
Als traditionsübergreifende Zeitschrift weiß sich „BUDDHISMUS aktuell“ sowohl den buddhistischen Schulen mit ihrer teils viele Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte verpflichtet – wie auch jüngeren, westlich-buddhistischen Strömungen.
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Singen bedeutet, den eigenen Körper in Schwingungen zu versetzen und mit sich selbst darin in Resonanz zu treten. Wie leicht, wie schwer fällt das ungeübten Sängerinnen und Sängern?
Sie haben keine Chance, nicht mit ihrem Körper in Resonanz zu treten! Man betritt beim Singen, davon bin ich überzeugt, einen gesegneten Bereich. Ich bin keine besonders strenge Lehrerin und versuche, Humor einzubringen, um eine positive Dynamik zu schaffen. Ich lenke die Menschen ein bisschen ab, wie man ein Kind ablenkt, das sich vor etwas scheut, das ihm eigentlich guttun würde.
Wir beginnen oft mit dem Tara-Mantra, das Hindernisse beseitigt, und regen mit tibetischen Körperübungen den Windfluss an und lösen Blockaden. Wir tanzen, machen fröhliche Gesangsübungen und bereiten den Körper vor, wie wenn wir ein Instrument stimmen. Und so stellt sich der Kontakt zum Körper fast wie von selbst ein und man sieht schon nach ein, zwei Stunden eine Verwandlung. Oft kommen die Leute nach einer anstrengenden Arbeitswoche gebeugt und erschöpft an, aber nach zwei Stunden Singen stehen sie aufrecht, strahlen und sind wach. Singen energetisiert und synchronisiert den Herzschlag und die Atmung, was sehr heilsam ist. Wenn Menschen erleben, wie gut es ihnen nach dem Singen geht, kommen sie gerne wieder.

Durch mein Coaching lernen sie, lauter zu singen und Töne zu treffen, die vorher unmöglich schienen. Die eigene Stimme ist das Persönlichste, was man nach außen geben kann. Chorleitung ist eine soziale Aufgabe, die Mitgefühl braucht. Man sollte die Leute nicht kränken, sondern ihnen helfen, ihre Treffsicherheit zu verbessern. Dann wachsen sie an sich selbst, im eigenen Tempo.
Im Chor singt man gemeinsam – wie wird in diesem Zusammenspiel die soziale Resonanz erlebt?
Ich bin sehr „Harmonie-verliebt“. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet „miteinander klingen“. Wenn wir im Chor singen und jeder seine Stimme einbringt, hören wir Akkorde und Harmonien. Aber gleichzeitig entsteht da etwas, das mehr als die Summe der einzelnen Teile ist. Das entsteht etwas Magisches: Dieser Moment, wenn alle aufeinander achten, und sich in der Mitte etwas formt, das sich nur durch dieses Zusammenkommen entwickelt. Ich bekomme dabei – wie viele andere auch – meistens eine Gänsehaut, und manchmal kommen sogar Tränen. Diese Resonanz ist das Besondere, was das Chorsingen für mich ausmacht.
Wir erleben, wenn wir singen oder Musik hören, auch eine starke emotionale Resonanz. Wie stark erlebst du das persönlich?
Sehr stark. Ich bin meiner musikalischen Ausbildung sehr dankbar, besonders dem Fach Stilkunde, in dem wir gelernt haben, bewusst zu hören und Klänge zu analysieren. Die Magie der Musik bleibt erhalten und zusätzlich kann man noch staunen, auf welche Weise einen die Musik hier eigentlich bewegt.
Meine Ohren brauchen Musik, die ihnen etwas zu tun gibt und sie in neue Welten entführt. Ich liebe gute Sounds und gehe oft auf Konzerte. Früher als Musikjournalistin musste ich oft über Mainstream-Pop berichten, der mich persönlich nicht berührt hat. Heute pflege ich einen sehr speziellen, verfeinerten Geschmack, höre gerne Musik, die außergewöhnlich, warm und individuell ist. Gestern habe ich in einem Kino den Film „Metropolis“ mit einen Live-Orchester gesehen, ein wunderschönes Erlebnis. Vor zwei Jahren habe ich die Musikerin Laurie Anderson in der Elbphilharmonie gehört, die mit tibetischen Musikern aufgetreten ist. Der Sound schien fast haptisch und zum Anfassen nah – großartig.
Du leitest auch Chöre mit und für Menschen, die an Alzheimer erkrankt sind. Was sind das für Projekte?
Diese inklusiven Chöre für demente Menschen leite ich für die Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Es ist ein großartiger Job. Menschen mit leichter Alzheimer-Erkrankung singen gemeinsam mit ihren Angehörigen und auch mit Nichtbetroffenen. Zweimal im Monat für zwei Stunden zusammen zu singen schafft eine wunderbare Atmosphäre. Denn wir wissen: Singen ist heilsam.
Ein besonderes Erlebnis ist, wie Musik tief verankerte Fähigkeiten aktiviert. Menschen mit Aphasie, die kaum sprechen können, lesen und singen plötzlich Liedertexte. Oder eine 88-jährige Dame, die stark dement ist und das meiste vergisst, was gerade geschehen ist, trifft bei Tonleitern sofort den nächsten Ton. Singen bringt sie ins Hier und Jetzt. Musik aktiviert Hirnareale, die sonst brachliegen, puffert den Krankheitsverlauf und schafft Freude, Gemeinschaft und Offenheit. Auch mit Demenz kann Lebensqualität erhalten bleiben.
Diese Arbeit erfüllt mich, weil sie meinen Lebensweg in der Chorarbeit mit einem tieferen Sinn verbindet. Es ist ein schönes Gefühl, Menschen Momente zu schenken, in denen sie ihre Krankheit vergessen und einfach die Musik genießen. In Hamburg gibt es bereits drei solcher Chöre. Ich setze mich dafür ein, dass wir dieses Angebot ausweiten, insbesondere in strukturell schwächeren Gegenden. Wenn unser Antrag beim Hamburger Spendenparlament bewilligt wird, könnten wir für zwei Jahre einen weiteren Chor aufbauen.
Ein Highlight war ein Festival, bei dem der Alzheimer-Chor Altona auftrat. Die Zuschauerinnen und Zuschauer gingen mit Sympathie, aber ohne große Erwartungen hinein – und waren überrascht von der Qualität. Viele fragten hinterher: „Wer von den Menschen auf der Bühne ist eigentlich erkrankt und wer nicht?“ Das zeigt, wie die Krankheit durch Musik in den Hintergrund tritt. Musik lässt das in den Vordergrund treten, was bleibt.
Solche Erlebnisse zeigen, wie wichtig die Arbeit der Alzheimer Gesellschaft ist, auch in der Selbsthilfe und Beratung. Ich bin dankbar, Teil dieses Projekts zu sein und die Kraft der Musik in den Dienst einer so sinnvollen Sache stellen zu können.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Kristina!
Das Gespräch führte Susanne Billig. Bearbeitung: Susanne Billig und Sarina Hassine.
Weitere Informationen
Webseite Kristina Bischoff: joyofsong.net
Aktuelle Infos von Kristina Bischoff auf Facebook: tinyurl.com/kristina-bischoff-facebook
Regelmäßige Berliner Chortermine am 1. Sonntag im Monat: bodhicharya.de/termine/sing-den-dharma (Momentan proben die Singenden für das Kagyü Mönlam vom 22. bis 24.8.2025 im Bodhicharya Berlin)
Nächster Workshop mit Kristina Bischoff im Kamalashila Institut in der Eifel: 23. bis 25.1.2026

Kristina Bischoff
Kristina Bischoff ist nicht nur seit vielen Jahrzehnten Buddhistin in tibetischer Tradition – sie leitet auch Chöre, teils weltliche, teils Dharma-Chöre. In einem sehr lebendigen Interview erzählt sie von den klanglichen, emotionalen und sozialen Resonanzen beim gemeinsamen Singen und von der inneren Resonanz auf die tiefe Weisheit spiritueller Lieder.