Die Elternreise

Ein Beitrag von Sarina Hassine veröffentlicht in der 4/2024 unterwegs unter der Rubrik Schwerpunkt unterwegs.

Die Elternschaft ist wie eine Reise – ohne definiertes Ziel, mit vielen Herausforderungen und Stationen. Wie beim Wandern sollten Eltern sich auf alle Wetter einstellen, öfter mal das Schuhwerk wechseln und prüfen, was sie im Wanderrucksack alles so mit sich herumschleppen. Betrachtungen von Sarina Hassine.

altanaka / photocase.de

Die Elternreise sei zwar der härteste Job auf dem Planeten, schreiben die bekannten Achtsamkeitslehrenden Myla und Jon Kabat-Zinn 1997 in ihrem Buch „Mit Kindern wachsen“, sie berge aber auch „das Potenzial für die tiefste Befriedigung im Laufe des Lebens und das größte Gefühl der Verbundenheit, Gemeinschaft und Zugehörigkeit.“

Es gibt heute eine große Zahl von Fachleuten aus der Pädagogik, Psychologie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich über die Bedürfnisse und geeigneten Rahmenbedingungen von Kindern, Eltern und Familien Gedanken machen. Sie fördern das allgemeine Bewusstsein dafür, dass Erwachsene eine der wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft übernehmen, wenn sie Kinder und Jugendliche begleiten. Dennoch stolpern Eltern gewöhnlich ziemlich unwissend in ihre neue Aufgabe, zumal es, trotz aller Tipps und guten Bücher, auf die großen Fragen des Alltags ohnehin keine allgemeingültigen Antworten gibt: Wer ist dieses Kind? Was braucht es? Und wie geht eigentlich „Erziehung“? Diese Fragen stellen sich das erste Mal während der Schwangerschaft und enden nicht mit der Pubertät des Kindes. Antworten sind oft nur zeitweise gültig. Eigentlich wächst man in immer neue Arten des Verstehens hinein, in einem Prozess, den Eltern und Kinder gemeinsam durchleben und entwickeln. 

Unordnung und Unberechenbarkeit

Bevor wir vor über zehn Jahren Eltern wurden, haben wir viel darüber gesprochen, wie wir uns das Leben als Familie vorstellen. Als die Kinder dann da waren, haben wir festgestellt, wie komplex die Umsetzung in der Realität aussehen kann. Eltern spüren heute hohe Ansprüche, Kinder, Beruf und Alltag unter einen Hut zu bringen und in allem erfolgreich zu sein; gleichzeitig mangelt es ihnen oft an Unterstützung. Dadurch kommen sie an ihre Grenzen, fühlen sich allein und haben nicht selten den Eindruck, es „irgendwie falsch“ zu machen – gerade, wenn sie sich bemühen, als Mutter und Vater ihr Bestes zu geben. 

Kinder großzuziehen und eine Familie zu managen bedeutet in weiten Teilen, mit Unordnung und Unberechenbarkeit umgehen zu lernen. Der inneren Entwicklung, die es als Mutter oder Vater dafür braucht, wurde lange Zeit gesellschaftlich wenig Beachtung geschenkt. Im Kontakt mit dem Kind tauchen dann unweigerlich Fragen auf, die die eigene Person betreffen: Wer bin ich eigentlich? Wie habe ich Erziehung erlebt? Wie will ich als Vater oder Mutter sein? Einiges von dem, was wir in unseren Herkunftsfamilien erlebt haben, möchten wir als Eltern genauso machen, anderes ganz neu gestalten. 

Uns war es zum Beispiel wichtig, dass wir den Kindern auf Augenhöhe begegnen, keinerlei Gewalt anwenden und auf alle ihre Bedürfnisse entsprechend ihrem Alter, ihrer Entwicklungsphase und ihrem Wesen eingehen. Moderne Ansätze wie die beziehungsorientierte Erziehung oder die Gewaltfreie Kommunikation, aber auch der Austausch mit anderen Eltern, die auf einem ähnlichen Weg sind, haben uns sehr geholfen. 

Für sich selbst und miteinander

Die Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls unterstützt uns dabei, mit Gefühlen, Gedanken und dem eigenen Körper bewusst umzugehen, die Kinder einfühlsam und friedvoll zu begleiten und eine freundliche und respektvolle Atmosphäre in der Familie entstehen zu lassen. Kinder brauchen keine perfekten Eltern, und Achtsamkeit in der Familie hat nichts damit zu tun, „besser“ zu werden. Vielmehr geht es darum, zu lernen, nicht nur die Kinder so anzunehmen, wie sie sind, sondern auch sich selbst. Was so sein darf, wie es ist, kann sich weiterentwickeln und Fehlentscheidungen gehören zum Lernen dazu.

Trotzdem tauchen bei Eltern Gefühle wie Selbstzweifel oder Scham auf, wenn sie ihre Kinder vielleicht einmal angeschrien oder zu Dingen gedrängt haben, die ihnen nicht guttaten. Da ist es wichtig, sich selbst zu verzeihen und mit Nachsicht und Selbstmitgefühl zu betrachten. Achtsamkeit bedeutet, in jedem Moment neu beginnen zu können. Diese Einsicht kann sehr entlasten und hat für mich mit dem Muttersein noch mal eine neue Dimension erhalten.

Wer schon vor den Kindern auf einem buddhistischen Weg war oder Achtsamkeitspraktiken, Meditation oder Yoga für sich entdeckt hat, bemerkt schnell, wie sich die Praxis in ihrer Form und Intensität verändert. Das zeigt sich zum Beispiel in der Kommunikation. Auf dem Kissen können Eltern sich friedvoll, entspannt und klar erleben, doch im Alltag zeigt das Verhalten des Kindes wie in einem Spiegel, was man ihnen in der Beziehung an Klarheit oder Entspanntheit tatsächlich anbietet. Für viele wird die Meditationspraxis auf dem Kissen nicht selten zum schlichten Rettungsanker im Alltag, ein Moment der Stille und Neuausrichtung. Manche schaffen es, Yoga und Meditation als Ritual in die Ruhe des frühen Morgens einzubauen, bevor alle in den Tag starten und der Trubel beginnt. Für mich hat das in den ersten Jahren kaum funktioniert, weil ich jede Stunde Schlaf brauchte. Die informelle Praxis nahm einen immer größeren Stellenwert ein, und ich habe sie in vielen Facetten erkundet. So wurden kleine Momente des Innehaltens und der Entspannung für mich zum A und O unseres Familienalltags. 

Bis alle so weit sind

Andrés Martínez / photocase.de

Vielleicht werden wir ungeduldig, wenn die Kinder sich ihre Zeit nehmen, um ins Auto zu steigen oder ihr Spiel zu beenden. Hier können wir aber auch einen Moment entdecken, um durchzuatmen, uns selbst zu spüren und zu entspannen – bis alle so weit sind. Auch die kostbare kinderfreie Zeit bei einem Spaziergang allein durch den Wald oder einer Mahlzeit in Ruhe sind mir sehr wichtig geworden und ich empfinde sie als wohltuend für Körper und Geist. Der ehrwürdige Thich Nhat Hanh sagt: 

Das eigene Glück ist das wertvollste Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können.

Wenn man mit Kindern lebt, füllen sich diese Worte sehr konkret mit Leben: Sich um sich selbst zu kümmern, Momente für Spaß im Freundeskreis, körperlichen Ausgleich im Sport oder Erfüllung in der Arbeit zu finden gehört zur gelingenden Elternschaft dazu. Wenn unsere eigene Schale gefüllt ist, wenn wir selbst glücklich und in Frieden sind, dient das der ganzen Familie. Krisen lauern natürlich überall, aber wenn wir als Eltern der Absicht treu bleiben, einen friedvollen Raum entstehen zu lassen, in dem alle sein dürfen, wie sie sind, wachsen Gefühle der Verbundenheit und Liebe und geben allen Familienmitgliedern die Kraft und das Vertrauen, dass man es gemeinsam schafft. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Es lohnt sich, unverplante Zeit füreinander zu haben! Für Begegnungen, Gespräche oder Aktivitäten, die allen Freude machen. Das öffnet neue Räume, in denen wir als Eltern trotz Stress auch von Dankbarkeit erfüllt sind und die bunte, unkontrollierbare Reise mit Kindern genießen können. 

Der perfekte Reisebegleiter

Das Gute ist ja auch, dass wir den perfekten „Reisebegleiter“ schon mit an Bord haben: das Kind selbst. Kinder sind von Natur aus neugierig, vertrauensvoll, lernbegabt, unendlich nachsichtig, verzeihend, ehrlich, humorvoll und voller bedingungsloser Liebe. Wenn Erwachsene dieses Geschenk annehmen, dürfen sie selbst auch noch einmal neu anfangen, dürfen spielen, entdecken, fühlen und heilen. Das kleine oder größere Kind bringt so viel Weisheit und Potenzial mit. Eine tibetische Weisheit sagt:

Kinder sind unsere wirklichen Lehrer. Wenn du ihnen zuhörst, erzählen sie dir von der Schönheit und der Sorglosigkeit, die du nur im gegenwärtigen Moment findest.

Eine Schnecke am Wegesrand kann den Dreijährigen bezaubern. Die Freundschaft zu Tieren veranlasst manche Kinder, sich fortan vegetarisch zu ernähren. Mir macht es oft viel Freude, mich von den Ideen und dem Wesen der Kinder inspirieren zu lassen. Entwickeln sie mit der Zeit eigene Interessen für Sportarten, künstlerisches Schaffen, Technik oder Kochen, öffnen sich Eltern oft ganz neue Felder, bei denen sie selbst mit einsteigen können oder die schlichte Akzeptanz und Offenheit für „Fremdes“ üben können.

Mit Kindern zu leben bietet Erziehenden viele Chancen, gewohnten oder neuen Situationen mit Anfängergeist zu begegnen. Im Alltag hilft mir hier ein Mantra wie „Aha, so ist das gerade“ oder „Interessant, was hier passiert“. Das gibt mir den Spielraum, nicht sofort urteilen zu müssen oder impulsiv zu reagieren. Aber es ist nicht immer leicht, insbesondere dann nicht, wenn mich die Kinder mit ihrem Verhalten emotional triggern und sich alte Muster, Glaubenssätze und Verletzungen aus meiner Kindheit zeigen. Wie automatisch rutschen uns Eltern dann Sätze heraus, die wir selbst als Kind oft gehört haben, aber eigentlich nicht wiederholen wollten. Manchmal bemerken wir auch, wie wir den eigenen Leistungsdruck oder bestimmte Ängste auf das Kind übertragen. Ich habe festgestellt, dass es sich in solchen Situationen lohnt, immer wieder zu prüfen, worum es eigentlich geht und was die Beteiligten gerade wirklich brauchen. 

Der innere Kompass

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Die Wege der Elternreise führen durch viele Landschaften – einige bieten Weitblick, andere gehen durch dichten Dschungel. Es ist hilfreich, mit der Zeit einen inneren Kompass zu entwickeln, um sich immer wieder auszurichten und in „Dschungelphasen“ zu orientieren. Das bedeutet, dass man sich als Eltern über die eigenen Werte, Bedürfnisse und Ziele klar wird. Dann kann der innere Kompass uns zeigen, wo wir gerade stehen und wo wir hinmöchten. So bedarf allein der Anspruch, eine gewaltfreie Erziehung zu leben, in unzähligen Momenten der Reflexion, was „gewaltfrei“ eigentlich jetzt bedeutet. Uns war immer wichtig, dass wir die Kinder nicht mit Worten, Strafen oder Handgreiflichkeiten zu einem Verhalten zwingen. Aber dann wollten sie sich die Zähne nicht putzen, ihr Zimmer nicht aufräumen oder haben heimlich Filme geschaut. Wie geht man damit nun gewaltfrei, – und zwar tatsächlich gewaltfrei – um? Strafen, Sanktionen, Festhalten, Wegschicken – das sind Dinge, die die meisten Erwachsenen als Kind selbst erlebt haben. Je genauer wir Eltern solche Situationen betrachten, desto feiner können wir für uns abstimmen, wo die Begleitung auf Augenhöhe aufhört und Adultismus oder Gewalt beginnen.  

Im Leben mit Kindern gibt es ständig etwas tun, zu regeln oder zu organisieren. Manchmal erwische ich mich dabei in einem Erledigungsmodus, der mich den Kontakt zu mir selbst, meinem Partner und meinen Kindern verlieren lässt. Dann hilft mir ein Moment des achtsamen Innehaltens, in dem ich bemerken kann, dass mein Körper angespannt ist, ich nur noch meine To-do-Liste abarbeite und von den anderen Familienmitgliedern erwarte, dass auch sie „funktionieren“. 

Ein Blick in den Himmel oder auf die dicke Eiche vor unserem Haus erinnert mich dann daran, wieder bewusst in den Seinsmodus zu wechseln: Die Natur ist einfach da – so wie auch ich. Auf diese Weise kann ich mich wieder mit mir selbst verbinden und spüren, dass ich lebe und Teil von etwas Größerem bin. Auch die Unterbrechungen, wenn Kinder sich mit ihren Themen und Bedürfnissen an uns wenden und im ersten Augenblick vielleicht nerven, sind oft die perfekte Hilfestellung dafür, wieder genauer hinzuschauen und präsent zu werden. Schließlich geht es bei der gemeinsamen Reise ja nicht darum, möglichst viel zu „machen“, sondern darum, das Geschenk des Lebens miteinander zu teilen.

Sarina Hassine

arbeitet als Autorin und Redakteurin, unter anderem bei BUDDHISMUS aktuell.Seit 2012 leitet sie Angebote für Achtsamkeit, Meditation und Mitgefühl für Erwachsene, Eltern, Familien und im pädagogischen Kontext. Sie ist Mutter von zwei Kindern.

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