„Den alten Mantel kannst du dir nicht mehr umhängen“
Wie Gemeinschaft aus der Lebenskrise hilft
Das Leben hält nicht immer, was es verspricht. Wenn das scheinbar sichere Fundament plötzlich wegbricht, braucht es Mut für eine neue Orientierung – und eine tragende Gemeinschaft. Beate Aldag, Spendenbeauftragte der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) und langjährige Zen-Praktizierende, erzählt im Interview davon, wie sie eine tiefgreifende Lebenskrise in eine neue berufliche und spirituelle Ausrichtung verwandeln konnte.
BUDDHISMUS aktuell: Beate, wir sprechen über Neubeginn. Du hast vor einigen Jahren eine tiefgreifende Krise erlebt, die für dich zu einem Wendepunkt wurde. Kannst du beschreiben, was du erlebt hast und warum dein buddhistisches Zentrum im Schwarzwald damals so wichtig für dich wurde?

Beate Aldag: Gerne. Ich befand mich damals, im Alter von 47 Jahren, plötzlich in einer existenziellen Krise. Mein Leben, wie ich es kannte, löste sich auf. Plötzlich war ich am Ende meiner Kräfte. Diese persönliche Krise hat mich in die Knie gezwungen. Nach Jahren des Vertrauens musste ich nach einer unerwarteten Trennung schlagartig umsteuern, und alles, was ich hatte – mein Haus, mein Job, meine Familie in der bisherigen Form – schien zunächst einmal verloren.
Du hast einen weitgehenden Verlust der äußeren Sicherheiten erlebt. Wie hast du in dieser Situation einen Weg gefunden, um nicht im Schmerz zu versinken?
Von Anfang an waren gute, wohlmeinende Freundinnen und Freunde und Beistand an meiner Seite. Sie haben mich klug geleitet und mich umsorgt – aber entscheidend war meine spirituelle Heimat. Ich bin dem Zen-Buddhismus und meinem Lehrer Richard Baker Roshi verbunden, seit ich 18 Jahre alt bin. Die Sangha – also die buddhistische Gemeinschaft – und er haben mich mein gesamtes Erwachsenenleben begleitet. Als sich diese Krise anbahnte und meine Kräfte schwanden, wandte ich mich an ihn und fragte, was ich tun solle.
Und was war seine Antwort?
Er sagte sehr klar: „Beate, du fragst deinen buddhistischen Lehrer. Natürlich sage ich dir: „Komm zu mir ins Zentrum und praktiziere mit mir.“ Das habe ich dann getan. Ich ging in meine buddhistische Gemeinschaft, die Dharma Sangha und ihr Zen-buddhistisches Zentrum im Schwarzwald und nahm an einer dreimonatigen Praxisperiode teil, einer sehr intensiven tradierten Form der Ausübung.
Wie war es, in deiner existenziellen Notlage in eine so strikte Struktur einzutauchen?
Es war eine Wohltat. Das Leben in einem Kloster mit seinen Abläufen war mir zutiefst vertraut, da ich als junge Erwachsene schon oft daran teilgenommen hatte. Die Struktur des Tagesablaufs war wie ein altbekannter Platz, auf dem ich mich niederlassen konnte. Ich musste nicht mehr entscheiden, was gut oder schlecht für mich ist, sondern konnte dem Zeitplan des Zen-Klosters alles anvertrauen.
Während der Praxisperiode wurdest du von deinem Lehrer mit einer besonderen Aufgabe betraut: der Rolle der Shuso. Du warst dem Abt bei der Leitung der Praxisperiode zur Seite gestellt und hast bei den zeremoniellen Abläufen mitgewirkt. Darüber hinaus war es deine Aufgabe, eigene Vorträge zu halten und damit eine gestaltende Verantwortung gegenüber der Sangha einzunehmen. Wie hat sich das in deiner Krise ausgewirkt – nicht mehr nur für dich zu praktizieren, sondern in eine dienende, begleitende Verantwortung zu gehen?
Vielfältig und vielschichtig. Du musst verstehen, dass ich mich in meiner Krise zutiefst nicht gesehen gefühlt habe. Und jetzt sah mich mein Lehrer Richard Baker Roshi und sagte: „Ich möchte dich mit dieser Aufgabe betrauen.“ Das hat mich wie aus dem Sumpf herausgezogen. Ich habe auf seine Einschätzung vertraut; er kannte mich mein ganzes Erwachsenenleben und wusste, was er mir zutrauen konnte. Ich glaube, viele Menschen, die an Orte der buddhistischen Praxis kommen, haben das starke Bedürfnis, in ihrem Sein und ihrer Person gesehen zu werden. Das ist wie ein nachträgliches Heilen und Erwachsenwerden. Mein Lehrer sah eine Beate, die diese Position ausfüllen konnte, egal wie zerbrochen sie sich fühlte. Dieses Vertrauen war ein Wendepunkt: von der eigenen Ohnmacht in die Hingabe, vom Schmerz in den Dienst.

Du musstest also lernen, dich in die Praxis zu versenken, während dein Geist sich wahrscheinlich noch im Gedankenkarussell drehen wollte. Was hast du auf diese Weise erfahren, das du allein in dieser Zeit nicht hättest finden können?
Mich haben die Praxisgelöbnisse getragen und dass ich sie mit anderen und für andere umsetzen konnte. Ich hatte das Anliegen, dass sich trotz meines eigenen Leidens und der schwierigen Erfahrungen, die hinter mir lagen, das Leiden aller Beteiligten durch mein Handeln verringern möge. Jahrelang hatte ich in den Vorträgen meines Lehrers gehört: „Das Beenden von Leiden ist möglich.“ Jetzt beschloss ich, die Werkzeuge der Praxis voll zu nutzen. In dieser Zeit begann ich, zu verstehen, was das wirklich bedeutet.
Wenn der eigene Geist Schmerzen einspielt, scheint es keinen Ort zu geben, an dem es nicht wehtut. In der Übung des Zazen, dem stillen aufrechten Sitzen, lernt der Geist durch den Körper, was Ruhe und Stille bedeuten. Die Haltung selbst zeigt dem Geist, dass er sich niederlassen kann, zunächst nur für Augenblicke, dann immer häufiger.
Im Klosteralltag lenkst du dich nicht ab, du weichst dem Schmerz nicht aus. Das ablenkungsfreie Nichtausweichen bringt dich an den Rand dessen, was du fassen kannst, aber auch in einen Zustand, wo alles da sein darf. Dann beginnt sich etwas zu wandeln: Du erkennst, dass auch das, was nicht mehr wehtut, da ist.
Es war harte Arbeit. Wie sich mit einem kleinen Hammer durch ein riesiges Felsgebirge zu schlagen. Man legt dabei nichts ab, sondern man lernt, auch das Leiden mit einzuschließen. So wird der Schmerz zu einem Tor, einem Katalysator, der hilft, die Tiefe des Lebens zu erfahren.
Diese Krise ist nun fast zehn Jahre her. Gab es einen bewussten Moment, in dem du deinen schweren Rucksack ablegen konntest, oder war das ein allmählicher Prozess?
Einen plötzlichen Durchbruch habe ich nicht erlebt. Zu meiner Erfahrung passt eher ein Gedicht des tschechischen Lyrikers Jan Skácel:
alles schmerzt sich einmal durch
Jan Skácel
bis auf den eignen grund
und die angst vergeht
schön die scheune
die nach längst vergangnen ernten
leer am wegrand steht
Ein wichtiger Faktor waren die Sangha und die klugen, weisen Menschen an meiner Seite. Wie es im I Ging heißt: „Förderlich ist es, zu haben, wohin man geht.“ Ich hatte die Zen-Praxis und den Platz. Dort konnte ich hingehen, um mich wieder aufzurichten.
Welche alten Muster musstest du bewusst loslassen, um in neues Fahrwasser zu gelangen?
Ich musste ein tief verankertes Selbstverständnis loslassen: das Bild von mir als jemand, der nicht genug ist. Ein Selbstbild voller Unsicherheit, mit diesem hartnäckigen Zweifel, wirklich gut genug zu sein, auch wenn das Leben längst anderes zeigt.
Doch als meine Sangha mir dann auch noch größere Aufgaben anvertraute, wie die Geschäftsführung unseres Zentrums, musste ich erkennen, dass meine Lehrer und die Gesellschafter nicht zufällig Vertrauen in mich setzten. Sie sahen Potenziale, die ich selbst zu erkennen begann. Mir fällt dazu ein weiteres Gedicht ein, „Archaïscher Torso Apollos“ von Rainer Maria Rilke. Es endet mit den Zeilen:
Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht.
Rainer Maria Rilke
Du musst dein Leben ändern.
So war es auch für mich. Ich sagte mir: Jetzt hast du alles durchdrungen. Den alten Mantel kannst du dir nicht mehr umhängen.
Sprechen wir über deinen beruflichen Neuanfang: Wie kamst du zu deiner jetzigen Aufgabe in der DBU?
Nach dieser Zeit des Loslassens begann sich mein Leben langsam neu zu ordnen. Als mein bisheriger Job weg war, wusste ich monatelang nicht, wie es weitergehen würde. Es war, als stünde ich in dichtem Nebel. Und doch spürte ich, dass mein Weg sich im Gehen zeigen würde, Schritt für Schritt, direkt unter meinen Füßen.
Als ich lernte, dem Prozess zu vertrauen, begannen sich die Dinge zu fügen. So war es auch, als ich in einem Newsletter auf die Stellenausschreibung der DBU stieß. Ich hatte schon lange Fundraising für die Dharma Sangha gemacht und von Grund auf gelernt, wie das geht.
Meine Motivation, mich auf diese Stelle zu bewerben, kam aus tiefer Dankbarkeit. Ich durfte in meiner Gemeinschaft mithelfen, einen Ort zu gestalten, der Menschen eine Zuflucht bietet. An mir selbst habe ich erfahren können, wie kostbar solche Räume sind – Orte des Zusammenlebens und -praktizierens, in einer Kultur von Achtsamkeit und Mitgefühl. Es erfüllt mich, zu wissen, dass mein Beitrag dazu beigetragen hat, die Welt ein bisschen besser zu machen.
Mich zu engagieren – das ist mein Weg. Nicht lamentieren, sondern etwas tun. Deshalb schien es mir folgerichtig, mein Engagement auf den buddhistischen Dachverband auszuweiten.
Du bist von einem Ende aller Sicherheiten zum Aufbau neuer Strukturen gewandert.
Ja, das kann man so sagen. Für mich geht es immer darum, das eigene Tun so zu verstehen, dass man am Ende sagen kann: Das konnte ich ermöglichen. das habe ich mitgestaltet. Dieses gemeinsame Lernen und Wachsen, im Austausch zwischen den verschiedenen buddhistischen Traditionen der DBU, finde ich immens wichtig. Die DBU ist ein Ort des Zusammenkommens, ein Raum, in dem Menschen ihre Erfahrungen teilen, sich beraten und gegenseitig stärken.
Ich bin dankbar für das Vertrauen, das mir entgegengebracht wird und die Möglichkeit, auf diese Weise weiterzugeben, was ich selbst empfangen habe.
Ein Dachverband ist etwas anderes als eine einzelne traditionsgebundene Sangha. Was reizt dich an dieser Arbeit?
Die Arbeit für die DBU erlebe ich wegen der Vielfalt der Menschen als eine große Bereicherung. Es ist wohltuend, zu sehen, wie Nonnen und Laien, Geschäftsleute und junge Menschen, Studierende und Ruheständler gemeinsam wirken, größtenteils ehrenamtlich und mit großem Engagement. Ich wünsche mir sehr, dass der Buddhismus in Deutschland in absehbarer Zeit die volle öffentliche Anerkennung erfährt und als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt wird.
Mein tiefer Wunsch ist, dass die DBU durch ihre Impulse und Angebote bestmöglich dabei helfen kann, dass Menschen, die auf der Suche sind – oft angetrieben durch persönliches Leiden –, die spirituelle Begleitung, die Weisheit und das Mitgefühl Gleichgesinnter finden können.
Du ziehst gerade um. Was für ein Neubeginn ist das?

Ich werde meinen Lebensmittelpunkt bald in die unmittelbare Nähe des Zen Buddhistischen Zentrums im Schwarzwald verlegen. Es fühlt sich stimmig an, in der unmittelbaren Nachbarschaft zu leben, nah genug, um den Alltag und die Praxis zu unterstützen, und zugleich mit etwas Abstand, um Raum für Rückzug, Familie und Freundschaften zu haben.
Unser Anliegen in der Dharma Sangha ist, einen Lebenszyklus abzubilden, der Menschen in jeder Phase ihres Weges ein Angebot macht. Vom ersten Kontakt mit der Praxis bis ins Alter. Für mich ist das Leben in der Nähe des Zentrums eine gute Form: verbunden, aber eigenständig. Intensive Zeiten im Kloster möchte ich weiterhin phasenweise einlegen: als Möglichkeit zur Vertiefung und zum erneuten Eintauchen in die gemeinsame Praxis.
Was unterscheidet – in Zeiten digitaler Meditation-Apps – die buddhistische Praxis im Sangha-Kontext von einer App-gesteuerten 10-Minuten-Stille?
Was unsere Praxisplätze einzigartig macht, ist das Zusammenkommen von Menschen, die miteinander ein Feld halten. Dieses Feld eröffnet einen Erfahrungsraum, in dem man Verbundenheit fühlen und wachsen lassen kann. Das, was uns verbindet, ist so viel umfassender als das, was uns trennt – und das lässt sich digital nicht herstellen.
Es geht nur in der direkten persönlichen Begegnung, wenn wir zusammen meditieren, arbeiten, essen, Entscheidungen treffen. Diese geteilte Alltäglichkeit hat etwas sehr Heilsames: Sie erinnert uns daran, dass wir Teil eines Ganzen sind.
Und gleichzeitig sehen wir, dass sich die Lebensrealitäten vieler Menschen verändert haben. Nicht jede oder jeder kann regelmäßig an einem Praxisort leben oder üben. Mit der Dharma Academy, gegründet von Nicole Baden Roshi, der Nachfolgerin Baker Roshis, haben wir deshalb begonnen, die Präsenzpraxis durch digitale Angebote zu ergänzen – nicht zu ersetzen. Wir schaffen Möglichkeiten, dass Menschen, die bei uns waren oder mit uns üben möchten, auch zu Hause weiter begleitet werden können: zur Vorbereitung, zur Vertiefung oder als Erinnerung an die gemeinsame Praxis.
So entsteht eine neue Form von Kontinuität: Die Körperpraxis bleibt der Anker, und die digitalen Mittel dienen dazu, in Kontakt zu bleiben – wann immer es die eigene Praxis braucht. Ich sehe das als Ausdruck einer lebendigen Sangha in unserer Zeit: Verwurzelung im Körper, Offenheit im Geist und Verbundenheit über die Grenzen des Ortes hinaus.
Auch die DBU geht diesen Weg. Sie nutzt die Möglichkeiten des Internets, um Menschen niedrigschwellig an den Buddhismus heranzuführen, Informationen zu vermitteln und Zugänge zu den verschiedenen Traditionen zu eröffnen. Ihre Website, Ihr Newsletter oder Online-Material von ihr ist für viele der erste Kontaktpunkt: ein Ort, an dem Interessierte sich orientieren, Gruppen finden und Hintergründe verstehen können. Auf diese Weise entsteht ein Netzwerk, das Menschen verbindet, informiert und ermutigt, eigene Schritte in die Praxis zu gehen – digital und analog zugleich. Auch die Zeitschrift BUDDHISMUS aktuell bietet inzwischen ein komplettes digitales Format an.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie heilsam es ist, wieder Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wenn Menschen gemeinsam praktizieren, entsteht ein Feld, das trägt – durch schwierige Zeiten hindurch und darüber hinaus. Gemeinschaft erinnert uns daran, dass wir uns selbst nicht allein tragen müssen.
In einem Praxiszentrum leben wir Gemeinschaft und haben Traditionen entwickelt, die sie ermöglichen. Das hat auch mit dem großen Thema Frieden zu tun: Wenn wir gemeinsam in tiefer Stille unter einem Dach sitzen, lässt sich Ärger auf eine andere Person nicht lange aufrechterhalten.
Weitere Informationen
dharma-sangha.de

Beate Aldag
Beate Aldag ist Fundraiserin der Deutschen Buddhistischen Union (DBU). Ihr beruflicher Hintergrund ist der klassische Tanz; später hat sie als Yogalehrerin gearbeitet. Sie ist seit über drei Jahrzehnten Laienschülerin von Zentatsu Baker Roshi und gehört zu den Gründungsmitgliedern des Zen Buddhistischen Zentrums Schwarzwald (ZBZS), wo sie demnächst lebt und dessen Geschäftsführerin sie ist. Dort hat sie viele Jahre Erfahrung in der Entwicklung von Spendenaufrufen und der Betreuung von Mitgliedern gesammelt. Das ZBZS wird seit 2024 von Tatsudo Nicole Baden Roshi geleitet.


