Darf ich mich als Buddhist auf die Straße kleben?

Ein Beitrag von Tobias März veröffentlicht in der Ausgabe 2023/4 Verantwortung unter der Rubriken Transformation, Schwerpunkt Verantwortung.

Die Menschheit ist in der Klimakrise angekommen – und jetzt? Sollte ich hoffen? Oder doch selbst aktiv werden? Tobias März hat sich der Letzten Generation angeschlossen und wünscht sich, dass mehr Menschen ihren persönlichen Moment der Transformation erleben.

Was du tust ist wichtig.
Warum du es tust ist wichtig.
Alles hat eine Wirkung. 
Was ist deine Rolle?

Tobias März

„Okay, ihr könnt los.“ Das Kamerateam des SWR auf der anderen Straßenseite schaut uns erwartungsvoll an. Mit der mobilen Go-Pro-Kamera auf dem Kopf und einer Plastiktasche in der Hand steige ich gemeinsam mit Benchi, genau wie ich 42 Jahre alt und ebenfalls Vater, über die Mauer und hinunter zu den Containern des Supermarktes am Rande von Freiburg. Unten angekommen nehmen wir uns die Mülltonnen vor und durchsuchen sie nach brauchbaren Lebensmitteln, etwa den Joghurt mit Zimtgeschmack, der jetzt, Ende Januar, natürlich aussortiert wird. 

Es dauert nicht lange, bis der Filialleiter auf der Matte steht und uns unmissverständlich wissen lässt, was er von unserer Aktion hält: nichts. Aufgebracht ruft er die Polizei, die Minuten später mit Blaulicht um die Ecke gebraust kommt. Nun gut, so müssen wir das also nicht erledigen: Unser Plan war sowieso, uns noch vor Ort per Telefon selbst für Lebensmitteldiebstahl anzuzeigen. Damit wollen wir auf den Missstand aufmerksam machen, dass in Deutschland pro Minute eine Lkw-Ladung Essen in den Müll wandert, während es gleichzeitig verboten ist, Essen aus Supermarktcontainern wiederzuverwerten – ein Unding in Zeiten der Klimakrise, wo Ressourcen ohnehin immer knapper werden.

„Wir brauchen dann bitte Ihre Personalien …“ Die Begegnung mit den zwei Polizisten verläuft sehr entspannt, auch wenn mir das Adrenalin in die Adern schießt: mein erster richtiger Polizeikontakt, wo ich doch so ein harmonieliebender und pflichtbewusster Mensch bin! Fünf Minuten später es auch schon vorbei und die Polizei nimmt das „Diebesgut“ in der Plastiktüte mit auf die Wache. 

Selten war ich so aufgeregt wie vor dieser Aktion, aber auch selten so sinnerfüllt wie danach: Wir waren als „Einbrecher“ in der Badischen Zeitung und sogar im Fernsehen. Zusammen mit ähnlichen Aktionen in ganz Deutschland haben wir Anfang 2022 dazu beigetragen, dass seither zumindest Hinweise wie „Oft länger haltbar“ auf den Produkten stehen.

Die Krise kommt näher

Wie bin ich dazu gekommen, als Teil der Letzten Generation in Freiburg auf das Gelände eines Supermarktes zu klettern und später auch an Straßenblockaden teilzunehmen? 

Mein Bewusstsein für die Klimakrise wurde geweckt, als ich während meines Studiums Anfang der 2000er-Jahre in einer Sommerakademie mit Hartmut Graßl, damals leitender Klimaforscher Deutschlands, saß und mir klar wurde: Diese Krise ist viel schlimmer und dringender als mir und den Allermeisten bislang bewusst war. 

Nach meinem Studium beginne ich, international als Berater für Solarenergie zu arbeiten und zum Beispiel mitzuhelfen, dass in Bangladesch mehr Solarpanele auf die Dächer kommen. Aber die Krise kommt näher: verheerende Waldbrände in Europa und dann die Ahrtalflut 2021. Als mir klar wird, dass wir noch viel schneller handeln müssen und die Katastrophen nicht nur unsere Kinder und Enkel, sondern auch uns selbst noch betreffen werden, suche ich nach noch konkreteren Wegen, der Klimakrise hier und heute zu begegnen – und besuche so Ende 2021 den ersten Vortrag der Letzten Generation in Freiburg. Gut einen Monat später folgt dann die Episode mit dem Supermarkt. 

Noch vor zehn Jahren hätten sich viele nicht vorstellen können, dass die Krise so schnell so nah kommt: Hitzewellen, Flutkatastrophen, Hungersnöte passieren nicht „Mitte des Jahrhunderts“, wie es früher hieß, sondern heute und vor unseren Augen. Die Emissionen weltweit steigen immer weiter, trotz Solarenergie und Elektroautos. Die klimatischen Kipppunkte wie das Abschmelzen der Polkappen könnten all das bald unumkehrbar machen und uns für die nächsten Jahrtausende in eine drei oder vier Grad heißere Welt katapultieren – mit unsäglichem Leid für unzählige Wesen. Wenn in einer solch entscheidenden Zeit die Regierungen weltweit immer noch auf Minischritte und ein leicht angepasstes „Weiter-so“ setzen – ist dann nicht der Moment gekommen, um lautstark und voller Liebe „Stopp“ zu rufen? Ein paar Solarpanele reichen eben nicht. Wir müssen grundlegend überdenken, wie wir leben wollen – jetzt.

Der Moment, der alles verändert

Gab es einen Moment, in dem die Klimakrise bei dir persönlich ankam? In dem du gemerkt hast, wie krass diese Krise unser Leben verändern wird – und dass sie auch dich ganz persönlich betrifft?

Im Rahmen meines Vortrags „Angekommen in der Klimakrise – und jetzt?!“, den ich seit einem Jahr immer wieder halte, stelle ich vielen Menschen diese Frage. Für mich persönlich war solch ein Moment meine Begegnung mit Momota, einer inspirierenden Frau aus einer Hindu-Community im nördlichen Bangladesch. Ich traf sie im September 2022, als ich im Land Solarenergieberatungen durchführte. Wir sprachen über ihre Träume: einen Job für ihren Sohn und ein Haus aus Ziegelsteinen statt ihrer jetzigen Bambushütte. 

In Deutschland wäre ihr „Haus“ immer noch eine Gartenlaube, aber für sie: der Traum ihres Lebens, den sie voller Enthusiasmus verfolgt. Als ich kurz darauf wieder in meinem Büro saß, drängte sich mir die Frage auf: Was bedeutet die Klimakrise für diese Frau?

Mit immer mehr Überschwemmungen und tropischen Stürmen in den nächsten Jahren wird Momotas Haus sprichwörtlich auf Sand gebaut sein und immer wieder eingerissen werden – wenn wir, die reiche Bevölkerung dieser Welt, diese Klimakrise nicht in den Griff bekommen. Ihr Lebenstraum liegt also in unseren Händen. Unser Handeln entscheidet, ob sich ihre bescheidenen Vorstellungen von einem Leben in Würde erfüllen oder nicht. Diese Einsicht hat in mir damals einen Schalter umgelegt. Es war mein persönlicher Moment. 

 

Uns auf die Krise einlassen

Gerne möchte ich dich, liebe Leserin, lieber Leser, an dieser Stelle persönlich ansprechen. Hat es einen solchen Moment, der dich gepackt hat, auch für dich schon einmal gegeben? Und wie hast du darauf reagiert? Konnte er weiterwirken und in irgendeine Art von persönlichem Engagement, einen nächsten Schritt münden? Oder hast du ihn schnell verdrängt? Gerade wir Menschen auf dem buddhistischen Weg wollen ja möglichst viel Zeit für Praxis haben, an unserer Befreiung arbeiten und uns nicht mit anderen streiten … 

Solche Reaktionen des Verdrängens sind normal, sie sind menschlich und manchmal sind sie sogar nötig. Nur: Wenn das unser einziger Reflex auf diese Krise bleibt, ist das leider nicht heilsam, weder für uns noch für die Welt als Ganzes. Wenn wir es aber schaffen, solche Momente in uns weiterwirken zu lassen und uns auf diese große Krise einzulassen, kann uns das öffnen und transformieren.

Sehr wahrscheinlich werden wir dann auch immer neue Momente der Transformation erleben: Vor einigen Monaten verbrachte ich ein Wochenende mit Dharma-Brüdern und -Schwestern. Die Frau, die uns dabei begleitete, war selbst schon Großmutter. Als wir über die Klimakrise und all die damit verbundene Gewalt und Zerstörung sprachen, begann sie zu erzählen – von ihrem lebenslangen Engagement und auch von ihrer Verzweiflung. Bis ihr die Tränen kamen – und wir trauerten mit ihr. Genau das ist der Schlüssel für ein ehrliches und persönliches Engagement: gemeinsam zu trauern und von einem Leid zutiefst betroffen zu sein.

So beschreibt es auch die berühmte buddhistische Ökologie-Aktivistin Joanna Macy in ihren Texten zur Tiefenökologie, beeinflusst von Lehrern wie Nyanaponika Thera oder dem achten Khamtrül Rinpoche, Dongyü Nyima: Wenn wir nicht nur Gebete zum Wohle aller Lebewesen sprechen, sondern uns mit dem Leid der Wesen in dieser Welt wirklich verbinden und Trauerprozesse gemeinsam durchleben, wachsen wir in die Bereitschaft hinein, uns auch aktiv einzusetzen – nicht, weil es moralisch richtig ist, sondern weil es unserem tiefsten Sein entspringt.

An der Grenze unserer Komfortzone

Unsere innere Transformation gelingt also nicht fernab der Probleme der Welt, sondern indem wir uns für sie öffnen – und nötigenfalls auch den Konflikt mit der Staatsgewalt nicht scheuen. Genau das haben auch große Lehrer getan, etwa der junge Thich Nhat Hanh mit seiner buddhistischen Sangha und den Boatpeopleso nannte man damals die vietnamesischen Flüchtlinge, die auf überfüllten und meist seeuntauglichen Booten versuchten, Krieg, Verfolgung und Folter zu entkommen. Sie haben sich staatlicher Repression und großen inneren Krisen ausgesetzt, wie Thich Nhat Hanh es in seinem Buch „Zen und die Kunst, die Welt zu retten“ eindrücklich schildert. Im Nachhinein erscheinen seine Geschichten kraftvoll und eindeutig, aber im persönlichen Erleben waren sie gewiss oft auch sehr aufwühlend. Ganz bestimmt war sich Thay, wie er von seinen Schülerinnen und Schülern genannt wird, in vielen Momenten auch unsicher, wie wohl der nächste richtige und gewaltfreie Schritt aussehen könnte, genauso wie sich heute Menschen fragen, ob der nächste richtige Schritt wohl ist, etwas weniger Auto zu fahren und auf Plastiktüten zu verzichten, oder ob es jetzt nicht darum geht, sich auf eine Straße zu setzen und zu lernen, mit den Folgen eines solchen Protestes umzugehen. Eines aber ist sicher: Sobald Menschen aufstehen und sich einem persönlichen Risiko aussetzen, werden sie gesehen und inspirieren damit wieder andere.

Die Unwissenheit akzeptieren

Ist der buddhistische Weg, wenn wir ihn wirklich ernstnehmen, nicht immer ein Aneinanderreihen von Schritten ins Unbekannte, ein Setzen des Fußes auf unsicheren Boden, um zu erkennen, dass auch dieser uns trägt? Im Nichtwissen, an der Grenze zwischen Bekanntem und unserer Komfortzone einerseits und Unbekanntem andererseits, passiert die Entwicklung. 

Ich kann mich noch an einen Moment in einem Retreat an einem wilden Ort in Nordspanien vor etwa zehn Jahren erinnern. Ich war sehr frustriert, weil mir schien, dass ich mich noch auf der untersten Stufe des Weges zur Befreiung befand. Als ich meine Lehrerin Jaya fragte, wie sie meinen spirituellen Fortschritt einschätzte, sagte sie etwas, das ich nie vergessen werden: 

Genau diesen Teil unseres Geistes müssen wir loslassen: den Teil, der genau wissen will, wo wir stehen. Was uns jedoch tragen kann, ist die Sehnsucht nach Freiheit: eine sanfte Strömung, die uns tiefer und tiefer trägt.

Genauso fühle ich mich oft mit meinem Engagement in der Klimakrise: So gerne hätte ich eine Gewissheit, wo der Weg langgeht und wie wir es noch schaffen können, die Katastrophe zu verhindern. Aber diese Gewissheit gibt es nicht. Was es gibt, sind einzelne, konkrete Schritte, getragen von der Sehnsucht, diese wunderbare Welt für unsere Kinder und deren Kinder zu erhalten.

Die Bereitschaft und die Fähigkeit, mit einer solchen gravierenden Unsicherheit klarzukommen: Ist es nicht genau das, was Menschen auf dem buddhistischen Weg in diese Zeit der Krise und in den Klimaaktivismus einbringen können? Denn es gibt viel Unsicherheit. Unsicherheit, wie diese Krise ausgehen wird. Unsicherheit über den Erfolg von bestimmten Taten. Unsicherheit, nicht einmal sagen zu können, was zu tun gerade richtig wäre.

Zudem können solche Menschen ein Bewusstsein dafür einbringen, wie sehr wir alle miteinander verbunden und damit immer auch Teil des Problems sind – und wie wenig Sinn es daher macht, die Schuld bei Einzelnen zu suchen oder einen Kampf „Gut gegen Böse“ zu führen. Die Einsicht in die Interdependenz sagt uns, dass wir unser Bewusstsein und unsere Lebensweise alle zusammen weiterentwickeln müssen. 

Nach innen und nach außen

Innerer und äußerer Weg sind dabei kein Widerspruch. Das erklärt auch Kaira Jewel Lingo, eine ehemalige Nonne der Plum-Village-Tradition und Autorin des Buchs „Wir wurden für diese Zeiten geschaffen – Zehn buddhistische Impulse für mehr Resilienz und Zuversicht“: 

Es ist eine einzige kontinuierliche Reise, ein einziger Pfad – wie beim Unendlichkeits-Symbol ∞ –, und der trägt dich manchmal mehr nach innen und manchmal mehr nach außen. Du kannst kein:e wirklich spirituell Praktizierende:r sein, ohne dabei auch auf die Bedürfnisse der Welt um dich einzugehen. Und du kannst nicht auf die Bedürfnisse der Welt eingehen, wenn du dich nicht auch um deine eigenen spirituellen Bedürfnisse kümmerst. 

So empfinde ich das auch: Würde ich mich, trotz des Wissens um all die Zerstörung in der Welt und die Dringlichkeit der Lage, auf mein Kissen zurückziehen, dann würde ich den Teil meines Herzens, der davon tief berührt ist, ausschließen. Erst im Aktivwerden, sei es auf der Straße oder im Vortragssaal oder im gemeinsamen Trauern in der Gruppe, kann ich diesen Teil lebendig werden und sich ausdrücken lassen – und so daran wachsen. 

Und meine Praxis? Die brauche ich, um bei all dem nicht den Verstand zu verlieren und mein Herz immer wieder dem Leben öffnen zu können. Und bei all dem Chaos nicht aus den Augen zu verlieren, warum wir all das tun: um die unbändige Schönheit dieser Welt jeden Moment bewusst zu erleben – und für unsere Nachkommen zu bewahren.

Tobias März

Tobias März ist internationaler Berater für Solarenergie, engagiert sich bei der Letzten Generation und hält Vorträge zum persönlichen Umgang mit der Klimakrise. Er lebt mit seiner Familie in einem gemeinschaftlichen Hofprojekt bei Freiburg, das er mitgegründet hat. Der von seiner Familie gegründete Verein „Wir und die Welt e.V.“ unterstützt die Armutsbekämpfung in Bangladesch. tobiasmaerz.de

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