Bewusstsein erforschen und kultivieren

Ein Beitrag von Susanne Billig veröffentlicht in der 3/2024 Geist unter der Rubrik Schwerpunkt Geist.

Seit 2021 stellt eine Reihe von Colloquien der Deutschen Buddhistischen Union (DBU), teils in Zusammenarbeit mit der Kölner Stadtbibliothek, renommierte Expertinnen und Experten – dem Buddhismus gegenüber aufgeschlossen oder ihn praktizierend – mit ihren Positionen und Forschungsansätzen zum Thema Geist und Bewusstsein vor. Mit diesem Beitrag starten wir eine Serie von Texten, die einen Einblick in bisherige Vorträge geben. 

Einen der Vorträge im Rahmen der DBU-Veranstaltungsreihe hielt der Theologe, Buchautor, Philosoph, Zen-Praktizierende und bekannte Fernsehmoderator Gert Scobel unter dem Titel „Geist zwischen Philosophie, Neurowissenschaft und Zen“.

Darin ging er das Thema zunächst aus der Perspektive des chinesischen Chan und japanischen Zen an und zitierte aus dem ältesten überlieferten Text des Chan-Buddhismus, dem Shinjinmei aus dem 7. Jahrhundert. Shin (oder im Japanischen kokoro) steht für Geist, Bewusstsein oder Herz – und berührt eine der großen, seit Jahrtausenden erörterten und bis heute ungelösten Menschheitsfragen, betonte Gert Scobel. 

Im Shinjinmei heißt es:

Der Höchste Weg ist unbeschwert,
weise nur alle Wahl zurück.
Nur ohne Abneigung und ohne Vorliebe
verstehst du wirklich die klare Leere.
Um Haaresbreite abgewichen –
und Himmel und Erde klaffen auseinander.

Diese Zeilen zeigen, dass es darum geht, einen nicht dualistischen Geist zu kultivieren, wobei das Nicht-Zwei, die Nicht-Dualität hier als letzter Grund der Wirklichkeit aufscheint. Nur auf diesen non-dualen Grund ist Verlass, nur er ist „wahr“ im Sinne von wirklich, gibt das Shinjinmei zu verstehen. Es trägt den Glauben an diese Wahrheit denen, die es studieren, allerdings nicht in einem religiösen Sinne an, betonte Gert Scobel. Stattdessen kann jeder Mensch die Non-Dualität selbst überprüfen und als verlässlich und tragfähig erfahren – und ihr darum vertrauen.

Weitere Verse des Shinjinmei machen deutlich, wie non-duale Erfahrung erzielt wird: nicht durch Denken und Reden, sondern durch das stille Sitzen in der Meditation. Gert Scobel, der sich sowohl als Autor und Fernsehmoderator wie auch als Gastdozent und Honorarprofessor intensiv mit Fragen der Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Weisheitsforschung beschäftigt, verwies an dieser Stelle auf die wissenschaftliche Meditationsforschung, die sich ebenfalls mit non-dualen Erfahrungen befasst, um sie mit neuronalen Aktivitätsmustern in Zusammenhang zu bringen. Der Begriff Shin, so betonte Gert Scobel, steckt allerdings einen Erfahrungsraum ab, der anders beschaffen ist als das, was die westliche Philosophie und die westlichen Wissenschaften gemeinhin mit Geist meinen. Shin eröffnet eine ganze Palette von Assoziationen, kann das Herz ebenso meinen wie den Geist, sich auf das Bewusstsein ebenso beziehen wie, allerdings nur in seltenen Fällen, auf den Verstand und die Vernunft.

Denken mit dem ganzen Körper

Verstand und Vernunft sind im Westen seit der Aufklärung die zentralen Bezugspunkte beim Thema Geist, arbeitete Gert Scobel heraus – und werden als weitgehend abgekoppelt von alldem gesehen, was in Shin immer mitschwingt: Gefühl, Emotion, Herzenswärme, Wirklichkeitswahrnehmung. Doch seit etwa zwei Jahrzehnten kehren sich Teile der westlichen Medizin und Neurowissenschaft von einer verengten Betrachtung von Vernunft, Verstand und Kognition ab und sprechen von embodied cognition oder embodied consciousness. Damit ist gemeint, dass auch die abstrakte Kognition oder das schlussfolgernde Denken immer eingebunden sind in die Gesamtheit des Körpers mit all seinen Empfindungs- und Wahrnehmungsdimensionen.

Alles das hat der Begriff Shin schon immer mit gemeint, indem er letztlich die ganze Person bezeichnet, betonte Gert Scobel. Sogar das soziale Eingebundensein ist hier mitzudenken. „Wir brauchen mehr als einen Körper“, unterstrich der Philosoph. „Wir brauchen das, was in der modernen Philosophie Interkorporalität heißt, also Mitkörperlichkeit, oder bei Jürgen Habermas und ähnlichen Philosophen Intersubjektivität.“ 

Bewusstsein ist immer auch soziales Bewusstsein, führte Gert Scobel weiter aus, und die Wirklichkeit selbst steckt voll von bewussten Ereignissen. Zwar trifft die westliche Kulturtradition ständig Unterscheidungen, etwa zwischen Tieren und Menschen oder zwischen Fühlen und Wissenschaft. „Aber wenn wir konsequent von embodied consciousness sprechen, also auch von sozial verkörperlichtem Bewusstsein, dann müssen wir diese traditionellen Unterscheidungen eigentlich hinter uns lassen und stattdessen eine Beschreibungsebene wählen, die man tatsächlich mit dem Soziologen Hartmut Rosa als Resonanzbeziehung bezeichnen könnte.“

Denken gleich Gehirnzustand?

Im Mittelteil seines Vortrags ging Gert Scobel ausführlich auf einige grundlegende Schwierigkeiten der Neurowissenschaften im Umgang mit Geist und Bewusstsein ein. Zum einen gibt es nach wie vor keine allgemein akzeptierte, wissenschaftlich abgesicherte Theorie des Bewusstseins, während aber schon intensiv etwa mit Gehirnstrommessungen experimentiert wird.

Zum zweiten tobt nach wie vor eine offene und teils harsch geführte Debatte um das sogenannte Qualia-Problem. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob Wahrnehmungsphänomene objektivierbar, also allen Menschen grundsätzlich gemeinsam sind (und deshalb möglicherweise auch identisch mit objektiv messbaren chemisch-physikalischen Zuständen im Gehirn), oder ob sich Bewusstseinsphänomene gerade durch ihren subjektiven Erlebnisgehalt auszeichnen (was auch bedeuten würde, sie nicht auf chemisch-physikalische Vorgänge reduzieren zu können, es sei denn mit einem vielleicht erweiterten Verständnis von dem, was chemisch-physikalische Vorgänge sind).

Ob sich Phänomene des Bewusstseins letztlich in eine physikalische Theorie überführen lassen – und damit in die dominante naturwissenschaftliche Theorie der westlichen Kultur – kann bis heute nicht beantwortet werden, unterstrich Gert Scobel. „Wir wissen nicht, ob Bewusstsein eine emergente Eigenschaft von Materie oder etwas Eigenes ist. Das können wir im Moment einfach nicht klar sagen.“

An dieser Stelle warf der Journalist auch einen Blick auf den Philosophen Marcus Gabriel und die von ihm entwickelte „Sinnfeldontologie“. Danach sind Gefühle, Gedanken, Ideen und geistige Phänomene aller Art nicht weniger real und existent als die dingliche Welt. Gert Scobel: „In unserer Kultur neigen wir dazu, die Innenperspektive als die weniger gültige abzustempeln. Wir sind stark daran gewöhnt, dem, was wir messen und zählen können, einen höheren Realitätsstatus zuzuschreiben als den von uns erlebten Qualitäten unserer Wahrnehmung. Dabei sind, wenn man es philosophisch und erkenntnistheoretisch untersucht, Daten, die wir als Beobachter aus der Wirklichkeit extrahieren, nichts anderes als in Symbole oder Zeichen übersetzte Erfahrungen.“ 

Selbstverständlich können sich Menschen in Bezug auf ihre subjektiven Wahrnehmungen irren. „Aber das gilt natürlich genauso für die Beobachtung dessen, was sich da angeblich draußen objektiv in der Wirklichkeit abspielen soll. Wie oft lagen wir da falsch!“ Als Beispiel nannte Gert Scobel die Überwindung der newtonschen Vorstellungen von Raum und Zeit durch die Berechnungen und Vorstellungen Albert Einsteins. 

Hinter der laut Gert Scobel „falschen Dominanz des sogenannten Objektiven“, das sich zählen und messen lässt, steht auch die Idee, dass sich Wirklichkeit in kleinste Einzelteile zerlegen und anschließend beliebig neu zusammensetzen lasse. Als Beispiel nannte er die Gentechnik, aber auch die KI-Forschung, die das Bewusstseinsproblem lösen will, indem sie das Denken in kleinste Programmierschritte zu transformieren versucht. „Damit macht sie unserer natürlichen Dummheit harte Konkurrenz“, kommentierte Gert Scobel.

Es ist jedoch trügerisch, anzunehmen, dass sich nach dem Zerlegen der Wirklichkeit übersichtliche Elemente ergeben, die sich in simple und deterministische Ursache-Wirkung-Ketten sortieren lassen. „Derzeit deutet alles darauf hin“, sagte Gert Scobel und bezog sich auf die Teilchen und Dynamiken, die in der Quantenphysik beobachtet werden, „dass weder die dort beobachteten Elemente noch ihre Beziehungen zueinander irgendwie linear sind. Sie sind komplex und stellen Ursache-Wirkungs-Reihenfolgen oftmals auf den Kopf.“ 

KOKORO, Kalligrafie von Dokko-An Kokugyo Kuwahara

Die Annahme, die Wirklichkeit lasse sich zerlegen, ist hochproblematisch, weitete der Wissenschaftsphilosoph das Thema, denn Karten und Modelle sind etwas anderes als das eigentliche Gelände, auch wenn sie oft verwechselt werden. Selbst wenn es eines Tages möglich werden sollte, beispielsweise die menschliche Niere und ihre Tätigkeit vollständig chemisch-physikalisch zu beschreiben, kann das kein Anlass sein, die subjektive Wahrnehmung von Nieren als weniger wahr und wichtig beiseitezulegen. Etwa wenn eine medizinische Behandlung mit erwartbaren Sorgen und Schmerzen ansteht. Gert Scobel betonte: Es ist eine Illusion, davon auszugehen, dass die Quantenzustände dieser Niere bedeutsamer sind als das eigene Erleben. Insbesondere in der Biologie hat man es zu tun mit sich selbst organisierenden, miteinander rückgekoppelten komplexen Systemen, die sich nicht in einfache lineare Zusammenhänge von Ursache und Wirkung bringen lassen.

Wie wir uns selbst erleben

Ein weiteres Problem des Konzepts einer „zerlegbaren Wirklichkeit“ besteht für Gert Scobel darin, dass Vorstellungen der empirischen Wissenschaften häufig auch in unser Gesellschaftsverständnis wandern. Statt sozialer Gesamtgefüge wird dann das Individuum als Einzelelement in den Blick genommen, häufig allein als homo oeconomicus – dem rechnenden und berechnenden Menschen als Glied in einer logistischen Kette.„Welche Probleme solche Trennungen gebracht haben, wissen Sie alle“, rief Gert Scobel dem Publikum in Erinnerung. „Denken Sie zum Beispiel an Handelsketten in der Herstellung von Textilen oder die Idee, die Natur sei ein in Einzelteile zerlegbares Ersatzteillager, das uns dienen soll.“

Die Perspektive des Vernetzten

Wie der Buddhismus hier als Gegengewicht fungieren könnte, führte der Moderator anschließend aus. Für ihn liegt eine besondere Stärke des Buddhismus heute darin, sich auf die Perspektive der Zerlegung gar nicht erst einzulassen, sondern ihr konsequent immer wieder die Perspektive des Ganzen, des Vernetzten und des Systems entgegenzusetzen. „Die entscheidende Lehre des Buddhismus – nämlich die Kultivierung der Erfahrung, dass die Wirklichkeit Leere ist, also gerade die Abwesenheit von dualistischen Zuschreibungen – ist philosophisch betrachtet nichts anderes als die konsequent zu Ende gedachte Erkenntnis, dass alles, was existiert, miteinander in Beziehung steht und verbunden ist. Nichts hat aus sich selbst Bestand. Und weil das so ist, kann es auch kein einzelnes Objekt oder Element geben, dass diesen Bestand für sich selbst garantiert. Inklusive dem eigenen Ich. Es gibt eben keine Dinge – es gibt nur Relationen.“

Meditation ist dann der Weg, diese Interaktionen und Beziehungen – oder, wieder mit dem Soziologen Hartmut Rosa gesprochen, „Resonanzfelder“ – dem Menschen bewusst werden zu lassen. Indem die Meditation eine Reihe von unterschiedlichen Übungen und Perspektiven umfasst, erfüllt sie die Aufgabe, das In-Beziehung-Sein „immer wieder in Erfahrung zu übersetzen und erfahrbar zu machen“. 

Tiefgreifende Transformation

Für den Einzelnen besteht der Sinn der Meditation darin, sich mit dem Geist vertraut zu machen, „und im Idealfall ist das, mit dem wir dann vertraut werden, aus der Sicht des Zen-Buddhismus die Erfahrung des Nicht-Zwei.“ Das Resultat dieser Erfahrung ist bodhi, das Erwachen, das sich dann spontan als Praxis der Weisheit zeigt. Gert Scobel: „Weisheit bedeutet dann, im Alltag das Nicht-Zwei, die nicht dualistische Erfahrung zu realisieren, also Form und nicht dualistische Leere gleichzeitig wahrzunehmen. Genau das hilft Menschen und anderen Lebewesen, sich vom Leiden zu befreien.“

Die Weisheitsforschung streifend, sprach Gerd Scobel gegen Ende seines Vortrags noch über den Zusammenhang zwischen Weisheit und buddhistischer Praxis. Er ist davon überzeugt: Auch wenn der Begriff in aktuellen Debatten noch keine große Rolle spielt, kann Weisheit als ein wichtiger Faktor im Umgang mit Komplexität gesehen werden und helfen, die vielen Transformationsprobleme zu lösen, mit denen sich die Menschheit derzeit konfrontiert sieht, denn „Weisheitsbewusstsein zu kultivieren, also die Fähigkeit auch mit komplexen, ambivalenten rückkoppelnden Prozessen umzugehen, hat unmittelbare soziale und auch politische Konsequenzen.“

Hier sieht Gert Scobel einen Unterschied zwischen Buddhismus und Achtsamkeitsbewegung, die ihren Schwerpunkt auf die Verbesserung der Konzentration und die Erzeugung bestimmter psychischer Zustände und Stimmungen legt und deshalb in buddhistischen Kreisen auch zunehmend kritisch gesehen wird. Die buddhistische Meditation sieht Gert Scobel als deep mindfulness – „eine tiefgreifende Transformation nicht nur des Bewusstseins, sondern des gesamten Lebens und der Gesellschaft.“

Wirklichkeit ist nicht zwei

Was er damit meint, verdeutlichte er, indem er das Shinjinmei mit einer hochaktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion verband. Dabei erinnerte er noch einmal an den Begriff Shin, der, ganz im Sinne von deep mindfulness, darauf hinweist, dass die Wirklichkeit in ihrem Kern nicht-zwei ist. Wer das verstanden hat, so Gert Scobel, kann nicht mehr glaubwürdig finden, qualitativ zwischen Menschen auf dem Mittelmeer und Menschen auf dem Festland zu unterscheiden.

Interessanterweise hat der Buddhismus von Anfang an gegen die Idee argumentiert, die Wirklichkeit könne zergliedert werden. Darin, so betonte Gert Scobel abschließend, steckt ein kritisches Potenzial auch gegenüber den Neurowissenschaften und der KI-Forschung. Bewusstsein zu kultivieren bedeutet dann nämlich auch, „sich kritisch gegen eine instrumentelle Nutzung von Bewusstseinstechnologien zu stellen, also gegen das, was man Neuroliberalismus nennen könnte.“

Beitrag von Susanne Billig mit Dank an Doris Wolter und Hanna Ebinger für die inhaltliche und organisatorische Vorbereitung der DBU-Colloquien „Was ist Geist?“.

Susanne Billig

Susanne Billig ist Biologin, Buchautorin, Rundfunkjournalistin (Wissenschaft, Gesellschaft) und Sachbuchkritikerin. Sie ist seit 1988 in Praxis und Theorie mit Buddhismus und interreligiösem Dialog befasst, Kuratoriumsmitglied der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg und Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell.

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