Bei Missbrauch muss gehandelt werden – oder nicht?

Ein Beitrag von Bhikshu Tenzin Peljor veröffentlicht in der Ausgabe 2015/4 Handeln, Nicht-Handeln unter der Rubrik Handeln / Nicht-Handeln.

Über den Umgang mit den Schattenseiten in spirituellen Gemeinschaften und in Lehrer-Schüler-Beziehungen

Lange folgte ich der Vision, mich buddhistisch ausschließlich auf das Positive, Konstruktive, belebend Inspirierende zu konzentrieren. Nun spreche ich seit zehn Jahren öffentlich über Fehlentwicklungen innerhalb des Buddhismus im Westen. Wie kam es dazu und was habe ich dabei über die Frage des Handelns und Nicht-Handelns gelernt?

Auslöser war meine persönliche Erfahrung in einer buddhistischen Gemeinschaft mit sehr destruktiven Strukturen, einer „Sekte“. Nach meinem Austritt lebte ich in einer WG zusammen mit anderen, die diese Erfahrung teilten. Einmal besuchte uns ein Freund und war von dem Schmerz eines unserer WG-Mitglieder über die Sektenerfahrung sehr betroffen. Nach langem Schweigen sagte er: „Wenn man auch nur eine einzige Person davor beschützen könnte, das zu erleben, was wäre das für ein Segen!“ Dann reiste er ab und ich stand mit diesem Satz alleine da.

„Ich kenne die destruktiven Strukturen und Mechanismen“, dachte ich. „Wenn ich nichts tue, wer tut dann etwas?“ Mir fiel niemand ein. Noch am Abend begann ich eine Website zu entwerfen. Sie ging Ende 2004 online. (Im Jahr 2005 entstanden die Seiten www.info-buddhismus.de und www.info-buddhism.com, um kontrovers diskutierte Themen rund um die Adaption des Buddhismus im Westen und Hintergründe zum tibetischen Buddhismus, zu den Dalai Lamas und zu Tibet mit primär akademischen Quellen zu beleuchten. Für einen informellen Rahmen und zur Diskussion richtete ich 2008 den englischen Blog und im Jahr 2010 den deutschsprachigen Blog ein.) Von Anfang an war es mir wichtig, meine Auseinandersetzung mit dem Thema buddhistisch zu fundieren. Es gibt in den Mahayana-Schriften wunderbare Vorschläge, welche Gedanken man sich machen sollte, bevor man handelt. (PDF)

Hat man die Wahl zwischen dem eigenen Nutzen und dem der anderen, dann sollte man den Nutzen der anderen bevorzugen. Hat man die Wahl zwischen kurzfristigem Vergnügen und langfristigem Wohlergehen, dann soll man langfristiges Wohlergehen bevorzugen. Bringt die Handlung kurzfristigen Nutzen, aber langfristigen Schaden, dann sollte man sie unterlassen. Bringt die Handlung kurzfristigen Schaden, aber langfristigen Nutzen, dann sollte man den langfristigen Nutzen bevorzugen. Auf welchen Gebieten besitzt man die größten Fähigkeiten und Kapazitäten? Dort sollte man handeln.

Von diesen Prinzipien versuche ich mich leiten zu lassen. Doch das ist gar nicht so einfach. So lässt sich schwer abschätzen, was langfristig heilsam oder unheilsam ist. Und was genau ist ein „Schaden“? Definiere ich das nicht entsprechend meinen eigenen Wünschen und Werten? Wenn ich all meine Ersparnisse in eine destruktive Gruppe habe fließen lassen – habe ich mir und anderen dann geschadet? Es war doch positiv für mich, loszulassen und Großzügigkeit zu üben! Aber war es auch positiv für die, die mich zum Geben manipulierten? Wer hat mir geschadet? Die „Sekte“ – oder meine eigene Naivität? Und wer ist „schuld“? Ich allein? Oder auch die Gruppe und ihre Anführer/innen? Alles das braucht sorgfältige Überlegung.

Besonders wichtig ist es, die eigene Motivation zu klären. Klar und gewahr zu bleiben, fällt vergleichsweise leicht, wenn eine Situation nicht die eigene Person betrifft. So ging es mir im Falle des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs eines Minderjährigen in einer Gemeinschaft in Frankfurt. Nach Rücksprache mit einem befreundeten Polizeibeamten und dem Verein Wildwasser e.V., der Opfer von sexuellem Missbrauch unterstützt, konnte ich offensiv Anzeige erstatten, obwohl sich der Betroffene noch im Machtbereich des missbrauchenden Lehrers befand. Langfristig hat sich das, wie der Betroffene mir später bestätigte, als gut und richtig erwiesen. Andererseits verzichtete ich vor Jahren darauf, eine destruktive Gruppe auszubremsen, die ich beim Finanzamt hätte anzeigen können. Ich war mir unsicher, ob ich nicht vielleicht doch von Rache motiviert war. Heute würde ich – frei von Rachegedanken – die Anzeige erstatten. Damals war es richtig, nicht auf der Basis eines ungeklärten Geistes zu handeln.

Mehrmals entschied ich mich für das Nicht-Handeln. So als eine Frau in Gesprächen mit mir vehement einen tibetisch-buddhistischen Würdenträger, einen ordinierten Rinpoche, sexueller Übergriffe beschuldigte. Doch ihre Geschichte fühlte sich für mich nicht überzeugend an. Ich konfrontierte die Frau mit meiner Wahrnehmung, was sie sehr in Wut versetzte. Jahre später meldete sie sich wieder und erklärte, sie sei damals krank gewesen und tatsächlich sei zwischen dem Rinpoche und ihr nichts vorgefallen.

Schwieriger war und ist der Fall eines berühmten Meditationsmeisters und Lehrers der Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus. Mehrere Schülerinnen haben gegen den Gründer eines internationalen spirituellen Netzwerks den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs erhoben. In den USA kam es deshalb sogar zu einem Gerichtsverfahren; der Konflikt wurde außergerichtlich beigelegt. Weil dieser Fall so hohe Wellen schlug und immer unübersichtlicher wurde, wollte ich mich davon fernhalten. Doch es häuften sich Anfragen an mich, auch erzählten mir mehrere Frauen ihre eigenen Geschichten. Ich fühlte mich nicht mehr in der Lage wegzuschauen und informierte mich gründlich. Schließlich meldete ich mich auf meinem englischsprachigen Blog dazu zu Wort und zog damit den Ärger einiger Anhänger des spirituellen Netzwerks auf mich. Andere aus der Gemeinschaft schätzten meine Wortmeldung jedoch, und es meldeten sich auch Betroffene bei mir, mit denen ich Gespräche führte. Meine damalige Wortmeldung ist bis heute das meist gelesene Posting auf dem Blog.

Wie reagieren wir, wie handeln wir, als Einzelne, als betroffene buddhistische Gruppen und als Gemeinschaft der Buddhistinnen und Buddhisten in Deutschland, wenn Missbrauch und destruktive Strukturen unter uns aufgedeckt werden? Nicht hinzusehen, zu schweigen und nichts zu tun ist sicher die falsche Handlung, denn dadurch werden destruktive Kräfte genährt. Wie viel Leid ist schon in dieser Welt entstanden, weil Menschen wegsahen? „Wenn wir sagen: ,Das geht mich nichts an!‘, entziehen wir anderen unsere Fürsorge“, sagte der 17. Karmapa, Ogyen Trinley Dorje, 2014 in Berlin. Persönlich fand ich das sorgfältige und klare Vorgehen der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft (DBO) im Falle des Abtes einer Frankfurter Pagode beispielgebend. (Blog)

Meine große Hoffnung ist, dass der in der Deutschen Buddhistischen Union gegründete Ethik-Rat – nach ersten hoffnungsvollen Anfängen „eingeschlafen“ – wieder zu neuem Leben erwacht. Aus zweierlei Gründen ist dieser Ethik-Rat meines Erachtens wichtig: zum einen als institutionell getragener Ansprechpartner für Betroffene, zum anderen, um deutlich zu machen, dass die DBU in diesen Fragen eine klare Haltung und Position einnimmt.

Bhikshu Tenzin Peljor

Bhikshu Tenzin Peljor studiert und praktiziert den Buddhismus seit 1995 und wurde von S. H. dem Dalai Lama 2006 zum Mönch ordiniert. Von 2008 bis 2013 Studium am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien. Von Ringu Tulku Rinpoche wurde er 2007 zum Residenzmönch für Bodhicharya Deutschland in Berlin berufen. Er ist Vorstandsmitglied in der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft (DBO).

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