Aus Liebe zu allen Wesen

Ein Beitrag von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2018/3 Lebendig unter der Rubrik Porträt. (Leseprobe)

Schwester Chan Khong ist im April 80 Jahre alt geworden. Seit mehr als 50 Jahren ist sie sie wichtigste Mitarbeiterin und Weggefährtin des vietnamesischen buddhistischen Lehrers Thich Nhat Hanh und längst auch eine inspirierende Dharmalehrerin.

Schwester Chan Khong, Paris, Mai 2018

„Langsam, langsam“, sagt sie

Meine Schritte beschleunigen sich immer mehr, fast renne ich schon. Ich weiß, wie die Freundin neben mir, dass wir uns zu spät auf den Weg gemacht haben, um rechtzeitig auf dem Parkplatz von Lower Hamlet zu sein. Dort stehen die Autos, die uns zur Meditation nach Upper Hamlet bringen sollen. Eine Frau winkt uns von dort mit einer energischen Geste herbei. So zumindest verstehe ich sie. Als wir etwas außer Atem vor ihr stehen, sagt sie mit ruhiger Stimme in für uns nicht einfach zu verstehendem Englisch: „Es gibt hier in Plum Village niemals einen Grund, sich zu beeilen oder gar abzuhetzen.“ Aber man darf doch auf keinen Fall zu spät kommen, vor allem nicht zur Meditation, opponiert in mir die Stimme der braven Zen-Schülerin, die bei ihrem ersten Besuch in Plum Village – es war 1985 – alles richtig machen will. Diesen Satz aber habe ich niemals vergessen, und in ihm scheint mir auch ein zentraler Aspekt der „Plum-Village-Tradition“ zum Ausdruck zu kommen: Egal, was passiert oder dir dringlich zu sein scheint, bewahre deine Ruhe und Achtsamkeit. Das ist das Wichtigste. Die Person, die diesen Satz damals äußerte, war Schwester Chan Khong – ihr Name bedeutet „Wahre Leerheit“, zu der Zeit seit über 25 Jahren die wichtigste Mitarbeiterin und Weggefährtin Thich Nhat Hanhs. Die Geste, die uns Westlern damals als Herbeiwinken erschien, bedeutet in ihrer Kultur im Übrigen nicht: Beeil dich, mach schnell, sondern das Gegenteil: langsam, langsam.
In jenen Jahren hat sie noch sehr dunkle, lange, seidige Haare – erst 1988 lässt sie sich zur Nonne ordinieren und den Kopf scheren –, und sie gehört zu den ersten sechs Mitgliedern des Tiep-Hien-Ordens (Intersein-Orden), den Thich Nhat Hanh 1966 in Vietnam gegründet hat. Ihm selbst ist sie erstmals 1959 begegnet, als sie auf Empfehlung eines bekannten buddhistischen Meisters einen Vortrag von ihm besucht, und schon bald erkennt sie, dass dieser junge Mönch der Lehrer ist, nach dem sie schon lange gesucht hat. Als achtes von neun Kindern im April 1938 als Cao Ngoc Phuong in Zentralvietnam geboren, wächst sie in einer Familie auf, die ihr Land an Kleinbauern verpachtet und für ihre Integrität und Wohltätigkeit bekannt und geschätzt ist. Soweit sie zurückdenken könne, habe sie Ungerechtigkeiten gleich welcher Art nie akzeptieren können, bekennt Chan Khong einmal in einem Gespräch. Dieser Impuls gibt ihr sicher Kraft und Ausrichtung, sich für die Armen und Notleidenden einzusetzen und gegen die erstarrten buddhistischen Institutionen und Lehren aufzubegehren, die ein Engagement für die Armen nur als Verdienste-Ansammeln legitimieren und für Frauen die Wiedergeburt als Mann als bestmögliches Ziel vorsehen.
Sie will beides verbinden, soziale Arbeit und Spiritualität. Und findet in Thich Nhat Hanh einen seelenverwandten Lehrer, der ihr vermittelt, dass sie auch bei einem Einsatz für Arme und Kranke Erleuchtung erlangen könne und es da keine Trennung gebe, wenn die Arbeit von Achtsamkeit getragen werde. Um an dem miterlebten Leid aber nicht zu zerbrechen und auszubrennen, sei es notwendig, buddhistische Praktiken zu entwickeln, die aufgewühlte Geisteszustände beruhigen helfen und den Geist wieder mit Nährendem, mit Heilsamem, Entspannendem und der Schönheit des Lebens in Berührung bringen. Dafür sind Meditation, Zeiten des Rückzugs und das gemeinsame Praktizieren als Gemeinschaft, als Sangha, wichtig. 

Bei einer Gehmeditation in Paris im Mai 2018

Vom Biologiestudium in die Sozialarbeit

Thich Nhat Hanh entwickelt in jenen Jahren zusammen mit anderen zumeist jungen Mönchen sowohl theoretisch als auch praktisch einen sozial engagierten Buddhismus, der lange vom buddhistischen Establishment bekämpft und sabotiert wird. Er ist der Meinung, dass der Buddhismus und die ihn tragenden Institutionen sich wandeln müssen, um den Bedürfnissen der Menschen besser gerecht werden zu können, um ihr ganz konkretes Leiden durch Armut, Naturkatastrophen und den zunehmend allgegenwärtigen Krieg zu lindern. „Die Leute glauben, dass engagierter Buddhismus nur Sozialarbeit sei, es nur darum gehe, den Krieg zu beenden“, sagt Chan Khong, „doch tatsächlich musst du genauso den Krieg in dir selbst beenden.“
1964 gründen Thich Nhat Hanh und seine Mitbrüder ein Institut für Höhere Buddhistische Studien, 1965 die Schule der Jugend für Sozialarbeit (SYSS). Chan Khong studiert Biologie und reist 1964 nach Frankreich, wo sie an der Pariser Universität mit Auszeichnung ihr Diplom erwirbt sowie eine Anstellung am Pariser Naturkundemuseum angeboten bekommt. Doch sie kehrt schnell wieder nach Vietnam zurück, um als Sozialarbeiterin in den von der SYSS gegründeten Musterdörfern tätig zu sein und weitere zu gründen und aufzubauen. Daneben arbeitet sie zum Gelderwerb als Biologin an der Saigoner Universität.
Der Vietnamkrieg eskaliert in jener Zeit immer mehr. Die Musterdörfer werden wieder und wieder bombardiert und dann immer wieder neu aufgebaut, viele Sozialarbeiter der SYSS werden getötet, Friedensdemonstrationen mit Gewalt aufgelöst; als Protest gegen eine Einschränkung der Religionsfreiheit und gegen den Krieg verbrennen sich öffentlich buddhistische Mönche und Nonnen. Thich Nhat Hanh folgt 1966 Einladungen in die USA, um dort für den Frieden zu werben und auf das Schicksal des vietnamesischen Volkes aufmerksam zu machen, während Chan Khong vor Ort die Schrecken und Tragödien des Krieges weiter hautnah miterlebt und sich für die Notleidenden engagiert. „Ich begriff angesichts von so viel Sterben und Verzweiflung, dass wir uns dem Krieg um jeden Preis widersetzen müssen. Hat er einmal begonnen, so entwickelt er eine Eigendynamik und Intensität, die nur noch schwer aufzuhalten ist“, schreibt sie in ihrem Buch Aus Liebe zu allen Wesen.
Am 23. Juli 1968 verlässt sie Vietnam, um Thich Nhat Hanh in Hongkong zu treffen. Sie überbringt ihm die Botschaft der buddhistischen Führung im Lande, die ihm dringend davon abrät, wieder nach Vietnam einzureisen, da er dort nicht mehr sicher sei. Chan Khong glaubt, für vielleicht eine Woche wegzufahren. Thich Nhat Hanh bittet sie aber, seine Assistentin zu werden, um die Welt noch effektiver über den Krieg in Vietnam aufzuklären und für den Frieden zu werben. Sie stimmt zu und wird erst 2005 zusammen mit Thich Nhat Hanh und etlichen Nonnen, Mönchen und Laien der Gemeinschaft erstmals wieder zu einem Besuch nach Vietnam zurückkehren können.

ENDE DER LESEPROBE

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Ursula Kogetsu Richard

ist Verlegerin der edition steinrich, Autorin und Übersetzerin. Sie war viele Jahre Chefredakteurin von BUDDHISMUS aktuell und wurde im Herbst 2020 von Tanja Palmers zur Zen-Priesterin in der Phönix-Wolken-Sangha ordiniert.

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