Achtsame und mitfühlende Verbundenheit

Ein Beitrag von Franz-Johannes Litsch veröffentlicht in der Ausgabe 2021/4 Verbundenheit unter der Rubrik Verbundenheit.

Verbundenheit ist das Anliegen, um das es dem Buddha ganz besonders geht. Seine Lehre und Praxis zielt vor allem darauf. Der Palibegriff dafür ist sambandha. Doch der ist merkwürdigerweise kaum bekannt und wird von buddhistischen Lehrerinnen und Lehrern fast nie benutzt. Aus Scheu vor seiner tiefen Bedeutung? Aus Unkenntnis oder Unverständnis?

Möglicherweise ist der Begriff sambandha auch darum so wenig zu hören, weil er für das Ziel des Weges steht und das Ziel am Anfang zumeist nicht zu erkennen ist. Da liegt zunächst so viel anderes auf dem Weg. Und der Buddhismus ist auch nicht sparsam mit Lehren, Begriffen und Methoden, die den Weg begleiten.

Tatsächlich gibt es andere Begriffe und Lehren, die uns in der Überlieferung von Buddhas Weg schon bald begegnen, doch letztlich nichts anderes aussagen, als es das Wort Sambandha beinhaltet. Der wichtigste ist paticca samuppada (Pali; Sanskrit: pratitya samutpada). Hiervon sagt der Buddha:

Wer das wechselseitig bedingte Entstehen sieht, sieht den dhamma (dharma); wer den dhamma sieht, sieht das wechselseitig bedingte Entstehen.1

Dhamma oder Dharma heißt „das Tragende“. Paticca samuppada ist damit auch „Das, was trägt“. Wörtlich heißt es „abhängiges“ oder „bedingtes (paticca) „zusammen“ (sam) „Entstehen“ (uppada) – und zwar ausnahmslos aller Phänomene der Wirklichkeit.Ein anderer Begriff ist ida-paccayata, „Hier-und-jetzt-Bedingtheit“. Ein weiterer annam-anna-paccaya, „wechselseitiges Bedingen“.

Die nähere Ausdeutung dieser Begriffe durch den Buddha lautet: 

„Wo dies ist, gibt es jenes, wenn dies entsteht, entsteht jenes. Wo dies nicht ist, gibt es jenes nicht, wenn dies vergeht, vergeht jenes.2

Dabei ist der Satzteil – „Wo dies ist, gibt es jenes“ – als Gleichzeitigkeitsbeziehung zu verstehen. Der Satzteil – „wenn dies entsteht, entsteht jenes“ – ist als Abhängigkeitsbeziehung zu verstehen.

Der Buddha lehrte keine Kausalität

Was der Buddha hier eindeutig nicht gelehrt hat, ist Kausalität, wie ihm von zahllosen Buddhistinnen und Buddhisten unterstellt wird. Dabei verkennen sie den Unterschied zwischen den lateinischen Begriffen „Kausalität“ (lineare dualistische Ursache-Wirkung-Beziehung) und „Konditionalität“ (zirkuläre wechselseitige Bedingungs-Beziehung). Diese Unterscheidung ist aber grundlegend. Wenn der Buddha überwiegend Kausalität gelehrt hätte, wäre er nie als Buddha, als zur Wirklichkeit „Erwachter“ anerkannt worden, denn die Wirklichkeit ist nicht kausal. Wenn die Wirklichkeit kausal wäre, wäre sie in jeder Hinsicht berechenbar, planbar, beherrschbar. Das suggeriert uns auch das westliche rationale Denken. Wir sehen aber täglich dessen Scheitern. Der Buddha erläutert seine Seinslehre gegenüber dem Mönch Kaccana folgendermaßen: 

Auf zweierlei Möglichkeiten kommt, Kaccana, diese Welt zumeist hinaus, auf Sein oder auf Nichtsein. Für den nun, Kaccana, der das Entstehen der Welt, wie sie geworden ist, mit vollständigem Verständnis betrachtet, gibt es das nicht, was in der Welt „Nichtsein“ heißt; für den aber, der das Vergehen der Welt, wie sie geworden ist, mit vollständigem Verständnis betrachtet, gibt es das nicht, was in der Welt „Sein“ heißt. Durch Aufsuchen, Erfassen und Festhalten ist, Kaccana, diese Welt zumeist gefesselt. Wenn nun jemand, Kaccana, dieses Aufsuchen und Erfassen, die [verdinglichende] Intention des Denkens, sein Eindringen und [dogmatisches] Daraufbeharren nicht aufsucht, nicht erfasst und erkennt: es ist in mir kein Selbst, … insofern, Kaccana, gibt es vollständige Einsicht. „Alles ist“, das, Kaccana, ist das eine Ende. „Alles ist nicht“, das ist das andere Ende. Diese beiden Enden vermeidend, verkündet der Tathagata [Buddha] seine Lehre in der Mitte.3

Mit anderen Worten: Für den Buddha existiert nichts aus sich selbst und für sich selbst, unabhängig, eigenständig, autonom, abgetrennt, absolut. Alles existiert nur, weil und insofern und solange anderes existiert, mit dem es in Kontakt (phassa, vedana), Berührung, Austausch, Interaktion, Resonanz4, Dissonanz oder Verbundenheitist. Gäbe es etwas, was „an sich“, ohne Bezug, nur für sich selbst und aus sich selbst existieren könnte, so würde es als ein Unverbundenes unweigerlich aus dem Ganzen des Universums herausfallen und wäre somit in keiner Weise für irgendetwas von Bedeutung oder existent. Alles existiert stattdessen mit allem verbunden, wechselseitig abhängig, enthält und durchdringt sich gegenseitig. Jede Veränderung, jedes Entstehen und Vergehen bedeutet eine Veränderung des Ganzen. Wirklichkeit ist fließende und zirkuläre Verwobenheit von Beziehungen.5

Widersprüche gelassen ertragen

Das heutige ganzheitliche und ökologische Denken kennt das inzwischen auch in Begriffen wie Kontext, Kohärenz, Koexistenz, Kooperation, Korrelation, Koevolution, Interdependenz, Synergie, Reziprozität. Das Akzeptieren dessen trägt heute die (nette) Bezeichnung „Ambiguitätstoleranz“. Damit ist gemeint, dogmatisch scheinbar unvereinbare Widersprüche gelassen zu ertragen. Die heutigen Wissenschaften der Ökologie und Biologie, des Klimas und Wetters, der Land- und Forstwirtschaft, der Medizin, der Ernährung, der Sozialwissenschaft, der Psychologie zeigen uns, dass „die Natur“ durchgängig ein fließendes, vernetztes, kommunikatives, wechselwirkendes Geschehen ist.

Die buddhistische Praxis der Achtsamkeit, des Satipatthana, des Vipassana ist darauf gerichtet, eben das direkt zu erfahren und sich auf diese Weise von allem „Anhaften“ (upadana), allem Ergreifen, Festhalten und Aneignen eines einzelnen Seiendensowie allem Verabsolutieren eines ewigen Seins (satta) oder beständigen Selbst (atta) zu lösen.

Buddhas Sichtweise steht damit in deutlichem Widerspruch zur gleichzeitig in Griechenland sich herausbildenden westlichen metaphysischen Philosophie, die auf dem Konzept der strengen Trennung von Sein und Nichtsein (etwa bei dem griechischen Philosophen Parmenides im 6. Jahrhundert v. u. Z.) und der Existenz von „für sich“, „aus sich“ oder „an sich“ bestehendem, autonomem, unveränderlichem, substanziellem Sein oder Selbst (bei Aristoteles) beruht. Die grundlegenden Begriffe dafür sind, griechisch: die ousia oder das hypokeimenon, lateinisch: die substantia oder essentia, deutsch: die Substanz oder Wesenheit. Das seiende Selbst braucht da nichts anderes, um zu existieren; es besteht in sich, es ist autonom, mit sich identisch.

Der Buddha findet in Indien das gleiche metaphysische Konzept in der Tradition der brahmanisch-hinduistischen Veden und Upanishaden vor, wo das letzte und höchste, beständige und eigenständige Sein (sat) die Bezeichnung brahman und atman hat und das kosmische oder individuelle, ewige und absolute, immer gleichbleibende, identische „Selbst“ darstellt. Für den Buddha gibt es kein beständiges Ich, keine „unsterbliche Seele“, kein „wahres Selbst“, keinen „unzerstörbaren Geist“, keine „ewige Gottheit“. Auch keine immer schon vorhandene, unveränderbare, gestufte, „natürliche“ oder „göttliche“ Ordnung oder „Seinshierarchie“ des Kosmos und der Menschenwelt (wie Religionen, Konfessionen, Nationen, Rassen, Klassen, Kasten, Stände, Geschlechter).

Wie das Leiden entsteht

Aus solchen, sich von der direkten sinnlichen Wahrnehmung entfremdenden Begriffen, Konzepten, Emotionen geht das menschliche Leiden hervor. Von täuschenden Vorstellungen und begehrendem oder abweisendem Verlangen getrieben, greift das Subjekt nach Wahrnehmungen, um sie zum Objekt, Eigentum oder zur Identität zu machen. Um dann jedoch leidvoll zu erleben, dass das mühsam Erlangte und Verwirklichte nicht den eigentlichen Wünschen und Erwartungen entspricht oder nicht festgehalten und angeeignet werden kann, weil es unbeständig (anicca), unbefriedigend (dukkha) und nichtichhaft (anatta) oder unverfügbar, offen, „leer“ (sunna) ist.

Das ist die „Soheit“ (tathata) oder „Leerheit“ (Pali sunnata, Sanskrit shunyata)des Daseins, die in der Satipatthana-Meditation direkt erfahren wird und das befreiende Erwachen (bodhi) ausmacht. Insofern es hier keine vom „Willen zum Sein“, „Willen zum Ich“, „Willen zur Macht“ beherrschten, trennenden Vorstellungen, Konzepte und Emotionen mehr gibt, führt dies zum Erfahren der innigen Verbundenheit (sambandha) aller Phänomene der Lebendigkeit wie der Verbundenheit mit all jenen Phänomenen wie des unbegrenzten Mitgefühls (mahakaruna) mit allen leidenden Wesen.

Orientierungslosigkeit und Verwirrung

Unsere heutige Welt ist jedoch maßlos beherrscht von Orientierungslosigkeit, Verwirrung, Unübersichtlichkeit, Verblendung, gedanklichem Chaos, überbordenden Gefühlen. Das treibt viele Menschen in Stress, Überforderung und Depressionen, andere in Wut-, Hass-, Rache- und Gewaltausbrüche, in Vergewaltigungs-, Mord- und Vernichtungsfantasien (die zuweilen auch furchtbar realisiert werden) und wiederum andere in absurde und bizarre Verschwörungstheorien über die „wahren“, aber unerreichbaren Schuldigen, Bösewichte, Drahtzieher hinter allem.

In beträchtlichem Maße hervorgebracht und gefördert wurde und wird das durch eine zunächst technische, dann ökonomische, dann kulturelle Innovation, die seit etwa dreißig Jahren unsere nunmehr endgültig globalisierte Welt radikal umgekrempelt hat: die digitale Vernetzung und Verbundenheit, das Internet mit seinen Möglichkeiten der Selbstinszenierung, seinen Chat-Foren, „sozialen“ Plattformen und Netzwerken. Computer, Laptops, Tablets, Smartphones sind aus unserem Alltagsleben kaum noch wegzudenken und das nicht nur individuell, sondern auch kollektiv, ja nahezu die gesamte Menschheit umfassend. Wir sind plötzlich – räumlich und zeitlich – miteinander verbunden, wie es die Menschheitsgeschichte noch nie erlebt hat.

Doch nicht nur das verbindet uns heute, sondern ebenso die globale Betroffenheit von einem gravierenden menschengemachten Klimawandel, von bedrohlichem Artensterben, vom Schwund ökologisch gesunder Böden, von der Vermüllung, Vergiftung, Plastifizierung, Gentechnisierung unseres Planeten. Das Coronavirus zwingt uns zudem zu individueller Unverbundenheit (Distanz) auf Grund globaler Verbundenheit (Pandemie). Nicht genug damit, sind wir in nahezu allen Ländern konfrontiert mit dem drohenden Ende der jahrhundertelang unter vielen Opfern erkämpften Staatsform der Demokratie, der Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung und Wahrung der Menschenrechte zugunsten der Etablierung, Ausweitung und Perfektionierung totalitärer Systeme der Überwachung, Datenspeicherung, Kontrolle und Steuerung.

Innere Verbundenheit

Verbundenheit ist so auf eine Weise in unser Dasein eingetreten, wie es der Buddha ganz sicher nicht angestrebt hat und wie wir Menschen der Moderne es noch vor Kurzem nicht erwartet haben. Sind wir auf diese Weise nun dabei, auf eine äußere, materielle, technische Weise das zu realisieren, wohin uns der Buddha einst auf dem inneren Weg der ethischen Verantwortung (sila), des Zur-Ruhe-Kommens des Geistes (samatha), der Wirklichkeits-Einsicht in der Praxis der Achtsamkeit (satipatthana) führen wollte? Was wir Menschen bis heute jedoch nicht verwirklicht haben!

Schon die nüchterne (oben angedeutete) Betrachtung dessen, was gegenwärtig in unserer Welt geschieht, macht überdeutlich, dass dies wohl der größte und fatalste aller Irrwege wäre. Im Gegenteil, es zeigt sich so deutlich und eindringlich wie noch nie, dass es dafür, den Weg Buddha zu gehen und die achtsame und mitfühlende Verbundenheit alles Lebendigen und aller Menschen zu fühlen, keinen Umweg und keinen Ersatz gibt.

Anmerkungen

1 Palikanon: Majjhima Nikaya 28, Mahahatthipadopama-Sutta 

Palikanon: Unter anderem Samyutta Nikaya, Nidana Samyutta, Mahavagga, Sutta 61,9

Palikanon: Samyutta Nikaya, Nidana-Sutta 12,15 Kaccana

Hartmut Rosa: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“, Berlin 2016

Thich Nhat Hanh hat dafür den Begriff „Intersein“ geprägt.

Franz-Johannes Litsch

Franz-Johannes Litsch ist Architekt und war viele Jahre Mitarbeiter des Umweltbundesamts. Seit über 50 Jahren ist er auf dem Weg des Buddha. Seit 20 Jahren studiert und praktiziert er im Theravada, zuvor im Zen und im tibetischen Buddhismus. Er ist Autor und Dozent für buddhistische und westliche Philosophie, Vipassana-Lehrer sowie Mitarbeiter am Institut für interreligiöse Studien in Freiburg.

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