Mary Finnegan, Rob Hogendoorn

Sex and Violence in Tibetan Buddhism

The Rise and Fall of Sogyal Rinpoche

Heft: 02 | 2020 Diversity
Verlag:Jorvik Press
Ort:Portland, Oregon, USA
Jahr:2019
ISBN:978-0-9863770-9-9
Preis:18,72 €
Seiten:191
Paperback

Rezension

Wenngleich der Titel diesen Eindruck erweckt, geht es in dem vorliegenden Buch weniger um Sex und Gewalt im tibetischen Buddhismus, als um die Illusionen und Missverständnisse der psychedelischen Londoner Gegenkultur in Hinblick auf buddhistische Spiritualität und vermeintlich übermenschliche Qualitäten tibetischer Lamas in den 1970er-Jahren. Besonders wertvoll sind die persönlichen Berichte von Mary Finnigan. Angeregt von David Bowie, sucht sie das Zentrum von Chögyam Trungpa und Akong Rinpoche auf. In einer angeleiteten Meditation erfährt sie Ekstase, Glück und Zeitlosigkeit – doch diese Zustände vergehen wieder. Sie und ihre Freunde begreifen die zentrale Lektion der buddhistischen Schulung (noch) nicht – dass nämlich die vermeintlich nicht-duale Erfahrung grenzenlosen Bewusstseins ihrerseits vergänglich und deshalb essenzlos ist. Nicht zuletzt deshalb werden die Lamas aus Tibet von ihr zu mystischen Wesen verklärt, die – wenn man sich ihnen hingibt – einen dauerhaften Platz in solch himmlischen Gefilden sichern. Was ist aber, wenn der Lama alkoholabhängig ist (Chögyam Trungpa), seine Schüler wissentlich mit HIV ansteckt (Ösel Tendzin) oder offensichtlich seine Sexsucht nicht unter Kontrolle bekommt (Sogyal Rinpoche)? Sind dann die Lehren falsch, die man bekommen hat? Ist der empfangene Segen hinfällig? (Besonders berührend: die Szene mit Mary Finnigans neugeborenem Baby, das von Sogyal im Arm gehalten wird.) War die erfahrene Heilung keine wirkliche Befreiung?

Es ist nicht einfach, Antworten auf solch verstörende Fragen zu finden. Entsprechend ist den beiden Autorinnen nicht vorzuwerfen, an mancher Stelle übers Ziel hinauszuschießen, etwa wenn sie Sogyal zu einem Scharlatan und Betrüger erklären. Doch sind die Lamas aus Tibet, wie es die Autorinnen an anderer Stelle reflektieren, auch nur Erben ihrer Zeit, nämlich einer feudalen Gesellschaft, in der Frauen als minderwertige Wesen angesehen wurden, Gewalt gegenüber Untergebenen an der Tagesordnung war und nicht wenige Lamas in jungen Jahren bereits im Kloster Missbrauch erfahren haben. Nicht zuletzt möchten die Westlerinnen und Westler in ihrem spirituellen Materialismus entgegen aller Evidenz am unfehlbaren Lama aus dem Himalaja festhalten. Doch muss mit dem Wegfall der Alternative Übermensch versus Unmensch auch der Kern der buddhistischen Spiritualität aufgegeben werden?

Werner Vogd

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