Joan Halifax

Gratwanderung

Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben

Heft: 03 | 2019 jung & alt
Verlag:O.W. Barth Verlag
Ort:München
Jahr:2019
ISBN:978-3-426-29292-1
Preis:19,99 €
Seiten:368
Hardcover mit Schutzumschlag

Rezension

US-merikanische buddhistische Lehrerinnen und Lehrer zeichnen sich oft dadurch aus, dass sie gut verständlich schreiben. Das gilt für alle Richtungen, von Vipassana über tibetisch bis Zen, von Sharon Salzberg über Pema Chödrön bis Joan Halifax. Sie kennen das „weltliche“ Leben mit seinen Anforderungen und Annehmlichkeiten, seinen Versuchungen und Tücken aus eigener Erfahrung und können so ihre Leserinnen und Leser in ihrem Alltag, bei ihren beruflichen und privaten Schwierigkeiten abholen. Und sie scheuen sich auch nicht, von eigenen Erfahrungen zu berichten.

Joan Halifax hatte sich als junge Frau der Studentenbewegung und vor allem der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen. Sie wurde dann Schülerin von Bernard Glassman Roshi und Zen-Meister Thich Nhat Hanh, erhielt von ihnen die Dharma-Übertragung, gründete das Upaya Zen-Zentrum, das sie leitet und an dem sie lehrt. Gleichzeitig ist sie medizinische Anthropologin, Buchautorin und engagierte Ehrenamtlerin. Sie arbeitete mit Gefangenen in einem Hochsicherheitsgefängnis, organisierte Hilfen für Erdbebenopfer in Nepal, engagierte sich viele Jahre in der Sterbebegleitung, ist bewandert in den Disziplinen Anthropologie, Psychologie und Hirnforschung und wandert gerne um den Kailash, den heiligsten buddhistischen und hinduistischen Berg.

Ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Einsichten bringt sie nun in ihr neues Buch „Gratwanderung“ ein. Es geht darin um fünf verinnerlichte Werte, die sie „Grat-Zustände“ nennt. Diese Grate, die, so Halifax, jede und jeder erklimmen kann, sind: Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement. Man kann aber auch von ihnen abstürzen. Dann verwandeln sich die hilfreichen Qualitäten in schädliche Zustände. Schädlich für andere, aber auch für einen selbst. Empathie kann zu empathischem Leiden werden, Integrität zu moralischem Leiden, Respekt zu Respektlosigkeit und Engagement zu Burn-out führen.

Joan Halifax beschreibt beide Seiten – das Stehen auf dem Grat und den Absturz – anhand vielfältiger Beispiele aus dem praktischen Leben. Sie berichtet von Menschen, denen sie in unterschiedlichen Situationen und Ländern begegnet ist, von Krankenschwestern, Ärzten und Sterbebegleiterinnen, die an Schulungen teilnahmen, die sie in Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen gab, von mexikanischen Dorfbewohnerinnen, die durchreisende Flüchtlinge mit Nahrung versorgten, von amerikanischen Ehrenamtlern, die tibetischen Bergbauern die Füße wuschen, von schwarzen Bürgerrechtsaktivistinnen, die mit ihrem Engagement gegen die Rassentrennung ihr Leben riskierten … Von Menschen, die Unglaubliches geleistet haben. Und von Menschen, die an ihren Leistungen zu zerbrechen drohten. Stets stellt sie beide Aspekte dar, den Grat und den Absturz – um letztlich immer wieder auf den unschätzbaren Wert des Mitgefühls zurückzukommen: den für sie bedeutendsten, zentralen Grat.

Ingrid Strobl

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