Soweit die Füße tragen oder: an Grenzen kommen und darüber hinaus gehen

Ein Beitrag von Tsunma Konchok Jinpa Chodron veröffentlicht in der Ausgabe 2018/3 Lebendig unter der Rubrik Verbundenheit.
Der Pilgerstab und der See | Foto: Tsunma Konchok Jinpa Chodron

Vom 12. bis 26. Mai 2018 pilgerten Menschen verschiedenster Weltanschauungen um den Bodensee, mit Stationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz und mit einem internationalen buddhistischen Vesakh-Fest in Radolfzell zum Abschluss. Die Idee dieser Pilgerwanderung stammte von Tsunma Konchok Jinpa Chodron (Jutta Gassner), zur Zeit tätig im Weltkloster in Radolfzell. Sie ist buddhistische Nonne aus der Drikung Kagyu Linie des tibetischen Buddhismus und Ehrenmitglied des Maitreya Mandala in Überlingen. Hier ihr persönlicher Bericht.

Oft werde ich gefragt: „Hast Du vor um den ganzen See zu gehen?“ O ja, das ist meine Absicht, meine Ausrichtung und auch an Willenskraft fehlt es mir nicht. Aber ob mein Körper es schaffen wird, das weiß ich nicht – und der Rucksack ist schwer!



Meine Vision, vierzehn Tage um den Bodensee für den Frieden zu pilgern und dabei einen Pilgerstab als Staffel von Person zu Person weiterzureichen, zieht mich. Es ist der Pilgerstab, der um den See geht, nicht ‚ich‘. Er ist Symbol, Anker, Wegweiser. Er stärkt und vereint uns als Gruppe – eine Gruppe, die niemals die gleiche ist, die mal größer wird, dann wieder schrumpft und sich immer wieder aus verschiedenen Menschen zusammensetzt.

Die Stationen auf dem Weg: sie sind die Häfen, die wir jeden Tag ansteuern. Dort werden wir empfangen und/oder verabschiedet, dort findet die Stabübergabe statt. Ein kleines aber bedeutungsvolles Ritual – ein Abgeben, Loslassen, Weitergeben, das oft schwerer fällt, als das Annehmen. Die Stationen sind Begegnungsorte des interreligiösen, interkulturellen, spirituell-weltlichen Dialoges – berührend, inspirierend und voller Vielfalt.

Mittagspause in Arbon | Foto: Klaus Weyers
Tee-Geschenk am Wegesrand | Foto: Klaus Weyers

Den eigenen Rhythmus finden

Das Wetter ist gnädig. Nur dreimal werden wir begossen, ansonsten erfrischt ein sanfter Sommerregen die Erde und uns Pilger. Den Rest der Zeit ist es bedeckt bis sommerlich heiß.Schon am zweiten Tag macht mir ein Knie zu schaffen. Es hat die Höhenunterschiede zwischen Ludwigshafen und Sipplingen nicht gut vertragen. Bald danach spüre ich das zweite Knie, und nach Friedrichshafen droht ein Fußgelenk umzuknicken. Gut bandagiert geht es weiter. Trotz dieser Beschwerden und einiger Rückenschmerzen, habe ich das Gefühl, ‚ich gehe mich gesund‘. Ich übe das Loslassen, hauptsächlich von Konzepten und Erwartungen – über mich als Pilgerin, über das Pilgern und manches mehr. 

Die einen preschen vorwärts, während andere sich an jeder Blume des Weges erfreuen. Den eigenen Rhythmus innerhalb der Gruppe zu finden ist eine interessante Übung.

Es ist kein Pilgern in Schweigen. Auch wenn es manchmal nervt, so ist der Austausch für viele wichtig und hilft bei der täglichen Neugruppierung. Nur manchmal treten wir aus der Hitze des Tages in die Kühle des Waldes. Seine Bäume umhüllen uns, und die Gespräche verstummen. In der Stille das Zwitschern der Vögel, besondere Geräusche und Gerüche, wohltuend, einfach nur eintauchen, ohne Anstrengung, einfach nur Wald – manchmal gelingt das. 

Pflanzung eines Friedensbaumes | Foto: Klaus Weyers
Impuls für den Weg | Foto: Klaus Weyers

Der See gibt Vertrauen

Dialog auf der Pilgerstrecke | Foto: Klaus Weyers

Und immer wieder der See – immer wieder der gleiche See und doch immer wieder anders. Unsere Stimmung spiegelt sich in seiner Oberfläche. Mal ist es bleierne Schwere, dann spielerische Leichtigkeit, murmelnde Wellen, denen wir meditativ lauschen, oder funkelnd im Sonnenlicht, ein Meer aus Diamanten. Der See und seine Ufer. Mal sind wir ganz nah, dann wieder weiter entfernt. Aber die Präsenz des Sees ist immer spürbar, auch wenn er außer Sichtweite gerät. Das gibt Vertrauen, Sicherheit – nie könnten wir verloren gehen. Und wie unglaublich schön, das Ufer von der anderen Seite zu sehen!

Drei Länder umgeben den See. Durch drei Länder pilgern wir, ohne Angst und Furcht. „Frieden mit jedem Schritt“ – der Spruch Thich Nhat Hanhs begleitet uns seit Nußdorf. Man hat ihn uns bei einer Einladung zum Pilgertee überreicht. Für mich bedeutet er eine Erinnerung zur Achtsamkeit. Mit Achtsamkeit und Offenheit zu gehen, schafft Frieden in mir und in meinem Umfeld. Es bedeutet ein Anhalten, ein Anhalten von Hoffnung und Furcht – nur gehen.

Der Stab kehrt zurück

Schritt für Schritt habe ich den ganzen See umrundet, am Ende als Einzige. Zurück in Radolfzell spüre ich eine Veränderung in mir. Noch kann ich sie nicht in Worte fassen.

Und noch steht mir das Vesakh-Fest bevor, das erste, das am Bodensee gefeiert wird – mit einer Baumspende an die Stadt und mit der letzten Pilgerstabübergabe, in der er wieder zu mir zurückkehrt. Das buddhistische Fest zur Geburt, Erleuchtung und Hinübergehen des Buddha als allerletzte Station.

Wir lassen niemals vom Entdecken

Und am Ende allen Entdeckens

Langen wir, wo wir losliefen, an

Und kennen den Ort zum ersten Mal.*

*T.S. Eliot: Vier Quartette. Four Quartets.
Engl./Dt. Übersetzt von Norbert Hummelt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
Pilgerpause | Foto: Klaus Weyers

Tsunma Konchok Jinpa Chodron

ist in der tibetischen Drikung-Kagyü-Tradition ordiniert, im Vorstand der Deutschen Buddhistischen Ordensgemeinschaft und Vorsitzende des Vereins Gelebter Dialog im alten Kloster, der sich für den interreligiösen Dialog engagiert. Sie unterstützt das internationale buddhistische Frauennetzwerk Sakyadhita.

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