Zen oder die Kunst, kein Rassist zu sein

Ein Beitrag von David Sumerauer veröffentlicht in der Ausgabe 2020/3 Transformation unter der Rubrik Transformation. (Leseprobe)

Im kalifornischen Tassajara Zen Mountain Center, dem größten buddhistischen Kloster außerhalb Asiens, stehen die Zeichen auf Transformation. Seit Neuestem finden hier nicht mehr nur stundenlange Meditationen und viel harte Arbeit statt, sondern auch jede Menge hitziger Diskussionen. Sind Afroamerikaner oder Angehörige der First Nations im Kloster? Nein! Männer und Frauen aus der Dominanzkultur? Ja! Dürfen Weiße Dreadlocks tragen? No chance! David Sumerauer kam als forschender Ethnologe und Zen-Meditierender in das Kloster. Auf seinem Kissen sitzend fragt er sich: „Passen die simplen Entweder-oder-Denkmuster in diesen Debatten zur buddhistischen Lehre? Oder bin ich, schon wenn ich diese Frage stelle, bloß ein weiterer, weißer, heterosexueller Mann, der Angst hat, seine Privilegien zu verlieren?“

As die Glocke ertönt, versuche ich recht kraftlos, meine Aufmerksamkeit auf die Atmung zu lenken und im Übrigen die zehntausend Dinge so sein zu lassen, wie sie eben auftauchen. Doch immer wieder schweife ich ab – zu dem Gespräch, das ich gestern Nachmittag mit Elaine hatte. 

Mache ich es mir zu einfach, frage ich mich, wenn mir die überall eingeforderte politische Korrektheit und die vielen Debatten um Identitätspolitik hier im Kloster übertrieben erscheinen? Als ich vor fünf Wochen für meine Feldforschung hier eintraf, war ich, gelinde gesagt, erstaunt, ja schockiert, wie politisch aufgeladen die Stimmung im Vergleich zu meinem Aufenthalt vor ein paar Jahren war. Auch damals hatte es schon eine kleines Cultural Awareness and Inclusivity Committee gegeben, das sich mit Fragen des Rassismus und Sexismus beschäftigte. Doch außerhalb dieses Komitees hatte kaum jemand über diese Themen gesprochen. 

Diesen Sommer aber haben sich die verschiedensten Kleingruppen gebildet, in denen diskutiert wird – über kulturelle Aneignung, toxische Männlichkeit und über die fragwürdigen Privilegien und die Unfähigkeit Weißer, über Rassismus zu sprechen. Auch sonst sind identitäts- und genderpolitische Themen ständig präsent. Sei es, dass die Neuankömmlinge bei der morgendlichen Begrüßung im Arbeitskreis gebeten werden, neben ihrem Namen auch das Gender-Pronomen ihrer Wahl zu nennen, seien es all die hitzigen Diskussionen, die plötzlich im Speisesaal und anderswo aufflammen. Gestern Nachmittag hat eine junge Priesterin aus Brooklyn einen Vortrag über Zen-Buddhismus und Feminismus gehalten, und obwohl die Veranstaltung, im Gegensatz zum zweimal täglichen Zazen und den abendlichen Dharmavorträgen, nicht verpflichtend war, hatte sich doch ein guter Teil der Sangha versammelt. Die junge Priesterin sprach ausführlich über das berühmte Koan „Miazongs Dharma-Interview“ aus dem Buch „The Hidden Lamp“ (auf Deutsch erschienen als „Das verborgene Licht“, siehe Literaturhinweise unten, die Red.). In diesem zeigt sich Miazong einem etwas verklemmten jungen Mönch nackt und erklärt ihm, dass ihre Vulva der Ort sei, aus dem alle Buddhas und Patriarchen stammen. Als der Mönch seinem Meister schockiert von der Begegnung erzählt, kommentiert der bloß, dass „der alte Drache recht weise“ sei. Als wir anschließend über diese Geschichte sprachen, meldete ich mich zu Wort und gestand: 

„Meine Gefühle über das, was das Koan zu sagen scheint, sind zwiespältig. Es ist, als würde Miazong einfach verschiedene patriarchale Konstruktionen idealer Weiblichkeit durchlaufen – erst Sexualobjekt, dann Mutter und schließlich alte weise Frau.“ 

Da meldete sich auch Elaine und sagte: „Ja, das stimmt. Da gebe ich David recht. Aber ich glaube, sie macht das absichtlich – als ein geschicktes Mittel, um dem Mönch zu zeigen, wie eng sein Blick auf Frauen ist.

Elaine stammt aus Irland. Sie ist 24 Jahre alt, hat lange in besetzten Häusern in Dublin gewohnt und Soziologie studiert, bis sie mit ihrem Freund Eddy vor einem Jahr nach Tassajara gezogen ist. Wie viele andere hier ist sie radikal antikapitalistisch eingestellt und bemüht sich (neben ihren Aufgaben als Klosterbäckerin) darum, dass der Ort sich weiterentwickelt. Darum hat sie die Undoing-Patriarchy-Gruppe gegründet und engagiert sich im Cultural Awareness and Inclusivity Committee. 

„Das ist kein Kloster – es ist eine Ferienanlage“ 

Ein paar Stunden nach dem Vortrag der Priesterin saßen Elaine und ich auf Teakholzstühlen unter einer großen Buche im Kräutergarten. Während ich in mein Feldtagebuch kritzelte, strickte sie und erzählte mir, was sie an Tassajara alles störte. Vor allem dachte sie, dass Tassajara kein richtiges buddhistisches Kloster sei. 

„Komm schon, David“, sagte sie. „Du hast doch Augen im Kopf. Das hier ist kein Kloster, sondern eine Ferienanlage! Und die ist verdammt weiß! Na gut, angeblich wollen sie daran etwas ändern. Aber die meisten Leute kapieren nicht, dass es nicht nur darum geht, nach außen hin gut zu wirken. Es ist keine Frage der Optik!“ 

Sie legte ihr Strickzeug beiseite und sah mich an. „Ein paar Wochen, bevor du hier warst, hat Greg in einem Dharma-Talk gesagt, dass es ihn traurig macht, wenn er ins Badehaus geht und da nur weiße Körper sieht. Hört sich toll an – ist aber die totale Heuchelei. Er ist doch der Erste, wenn es darum geht, diese ganzen superstrengen Regeln durchzusetzen, die Tassajara für viele so unzugänglich machen. Wir klopfen uns selbst auf die Schulter, wenn wir die Mücken mit Mitgefühl behandeln und stellen gleichzeitig sicher, dass bloß keine Schwarzen hier auftauchen. Zen in Kalifornien ist in Wirklichkeit das Zen von weißen amerikanischen Männern.“ 

So ganz begriff ich noch nicht, worauf sie hinauswollte. „Jedes Kloster hat Regeln. Was ist denn daran besonders weiß? Oder männlich?“, hakte ich nach. 

Elaines Stimme wurde eine Spur lauter. „Die ganze Struktur wurde doch für junge, topfitte Männer – Mönche – in Japan entwickelt!“ rief sie. „Und dann bringen die das hierher, in ein Land, in dem sich alles ums Geld dreht, und mischen das hierarchische japanische Zeug mit der amerikanischen Effizienzkultur, und voilà: Du kannst nie genug schlafen, vor allem nicht im Winter. Du musst den ganzen Tag arbeiten. Du darfst nach neun Uhr abends nicht mehr sprechen. Du darfst keinen Alkohol trinken oder – Gott bewahre! – Gras rauchen. Du darfst nicht ins Internet. Du darfst mit niemandem eine Beziehung anfangen, bevor du nicht mindestens sechs Monate hier warst. Dieses ganze Zeug ist weiß und männlich, David!“ 

„Aber Elaine, Tassajara ist eben ein Zen-Kloster – oder versucht zumindest eines zu sein. Ich glaube nicht, dass sie die ganzen japanischen Regeln über Bord werfen können. Oder auch nur wollen. Es ist doch offensichtlich, dass zur Zen-Praxis nun einmal eine strikte Disziplin gehört. Wo ist das Problem?“ 

Elaine lächelte kühl und griff wieder nach ihrem Strickzeug. „Sie haben doch schon ganz viel über Bord geworfen: Wir chanten auf Englisch und nicht mehr auf Japanisch. Wir erlauben, dass hier Pärchen wohnen. Und welches Kloster auf der Welt hat denn sonst bitte einen Swimmingpool? Deshalb habe ich vorhin ja auch gesagt, dass Tassajara eher eine spirituelle Ferienanlage als ein Kloster ist. Behalten haben sie nur diesen ganzen Macht- und Disziplinkram, weil der nämlich zur Kultur der männlichen weißen Vorherrschaft passt.“ 

„So viele Frauen – wo ist das Patriarchat?“ 

Obwohl ich verstand, worauf Elaine hinauswollte, konnte ich ihr nicht zustimmen: „Weißt du, was mir als Erstes einfällt, wenn ich darüber nachdenke, was hier anders ist als in Japan?“, fragte ich. „Hier gibt es auch weibliche Priester. Priesterinnen. Das ist doch das Gegenteil von patriarchal.“ 

Elaines Reaktion kam, wie aus der Pistole geschossen: „Ha! Na klar! Damit kommen sie immer. O, wir sind so liberal. Wir ordinieren Frauen. Wir waren das erste buddhistische Kloster überhaupt, in dem Frauen und Männer zusammengelebt haben.“ 

„Und? Ist doch super!“ 

„Kannst du dich erinnern, wie wir noch vor zwei Jahren beim Service die Namen unserer Dharmavorfahren gechantet haben?“ Elaine wartete meine Antwort gar nicht erst ab. „Zwei Tage hintereinander die Namen der männlichen Dharmavorfahren. Und nur an jedem dritten Tag die Namen der weiblichen Vorfahren. Das ist doch bezeichnend. Erst unsere Divine-Femininity-Undoing-Patriarchy-Gruppe konnte das ändern, und das auch erst in diesem Sommer. Ich geb dir noch ein Beispiel. Frauen menstruieren und das ist manchmal verdammt schmerzhaft. Aber bis zu diesem Sommer galt das nicht als Grund dafür, sich von der Meditation abzumelden. Wir Frauen haben dieses Thema wieder und wieder angesprochen. Das haben sie auch erst vor ein paar Wochen geändert.“ 

„Es ist nicht nur das, David“, sagte Elaine irgendwann traurig. „Das ist alles so frustrierend. Wenn man sich die alten Unterlagen aus den 90ern anschaut, da ging es schon um genau das Gleiche. Und nichts hat sich geändert. Weißt du, ich liebe Tassajara wirklich sehr. Aber ich glaube, wenn irgendjemand wüsste, wie reaktionär ich das alles hier finde, dann würden sie mich rausschmeißen. Davor habe ich tatsächlich Angst!“ 

„Der Buddhismus hat sich eben Jahrtausende lang unter patriarchalen Umständen entwickelt“, entgegnete ich, und spürte selbst, dass mein Argument ein bisschen lahm klang. „Seien wir ehrlich, Elaine, ob es uns nun gefällt oder nicht – für die Übertragungslinie unserer Tradition waren eben Bodhidharma und Dogen und Shunryu Suzuki wichtiger als Mahapajapati oder Miaoxin. Es macht also schon Sinn, ihre Namen öfter zu chanten.“ Elaine sah mich spöttisch an, deshalb schob ich rasch hinterher: „Und sei es bloß, um darauf hinzuweisen, dass der Buddhismus im Patriarchat entstanden ist!“ 

„Tolles Argument“, gab sie trocken zurück und ging gar nicht näher darauf ein. 

Wir schwiegen einen Moment und ich musste an mein Gespräch mit Julian, den diese Debatten sehr aufregten, am Tag zuvor denken. „Ich verstehe einfach nicht, was das alles soll!“, hatte er geschimpft. „Wo bitte, David, ist denn hier das Patriarchat? 

Die zentrale Äbtissin des San Francisco Zen Center ist Linda, eine Frau. Die Direktorin in Tassajara ist Caroylin, eine Frau. Der wahre Boss ist Leslie. Die Küche wird von Sarah geleitet. Und so weiter! Die einzige Crew, in der es mehr Männer als Frauen gibt, ist die im Essraum, und das ist mit Abstand der beschissenste Job, zu dem man hier eingeteilt werden kann. Die einzige Vielfalt, die mir hier fehlt, David, ist ideologische Vielfalt. Ich selbst wähle die Demokraten, aber warum soll es hier nicht auch ein paar Republikaner geben? Meinetwegen sogar ein paar bigotte transphobe Rassisten – warum denn nicht? Dogen schreibt: Der Regen des Buddhadharma fällt auf alle.“ 

ENDE DER LESEPROBE

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David Sumerauer

geboren 1990, studierte Ethnologie, Geschichte und Germanistik in München und Mumbai. An einem Münchner Gymnasium leitet er Workshops zu Philosophie und Meditation. Seine Reportagen und Kurzgeschichten sind in studentischen Zeitungen und Anthologien erschienen.

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