Wir wollen die Botschaft des frühen Buddhismus in eine säkulare Gegenwart tragen

Ein Interview mit Akincano Marc Weber geführt von Bettina Hilpert veröffentlicht in der Ausgabe 2017/4 Erleuchtung unter der Rubrik Erleuchtung.

Seit einem Jahr bietet das „Bodhi College“ als europäische Initiative für meditatives Lernen ein buddhistisches Bildungs- und Kursprogramm an – Veranstaltungen auf Englisch, Deutsch und Italienisch werden an verschiedenen Orten abgehalten. Über die Gründungsidee und die Visionen des Bodhi College sprach die Leiterin der Geschäftsstelle der Deutschen Buddhistischen Union, Bettina Hilpert, mit Akincano Marc Weber, einem der Initiatoren und Hauptlehrer des Bodhi College.

Wann hat das Bodhi College seine Arbeit aufgenommen und wie sah die Gründungsidee aus?
2015 wurde das Bodhi College formell eröffnet, seit 2016 bieten wir Kurse an. Dieses „Wir“ umfasst mittlerweile die fünf InitiatorInnen und HauptlehrerInnen – Stephen Batchelor, Chris Cullen, Christina Feldman, John Peacock und mich selbst. Die Vision für das Bodhi College gründet in unserer langjährigen Erfahrung als Meditationslehrer, die zu der Erkenntnis führte, dass viel Nützliches aus den Darlegungen des Buddha in einem klassischen Schweigeretreat – so kostbar solche Retreats sind – nicht angesprochen wird. Einige von uns unterrichten seit vielen Jahren parallel zu Meditationskursen auch Studienkurse und Studiengruppen, und seit 2008 läuft unser zweijähriges Ausbildungsprogramm in England (CPP); aus diesen Erfahrungen entstand die Vision, ein langfristigeres und nachhaltigeres Bildungsprojekt zu entwickeln und dieses unter einen organisatorischen Hut zu bringen – das Bodhi College.

Was genau fehlt in Meditationsretreats – sind es Diskussionen und kritisches Hinterfragen?
Vorweg: Das Meditationsretreat ist ein vorzügliches Format. Es leistet einfach nicht alles. Vor allem der Austausch ist in einem Meditationsretreat nicht gut möglich. Auch Praxis- und Weggemeinschaften (Sangha) bilden sich dort in der Regel nicht. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen, schweigen und gehen. In unseren Studienkursen und den sich regelmäßig treffenden Studiengruppen, welche über längere Zeit thematisch zusammenarbeiten, sehen wir dagegen viel Gemeinschaftlichkeit: Die Leute bringen ihre Erfahrungen und ihr Leben in den Austausch ein. Das ist zum einen sehr kostbar und bereichernd – und würdigt zum anderen die beträchtliche Kompetenz unter den Teilnehmenden. Auch hilft es uns individualistischen Abendländern bei einer der großen Herausforderungen unserer Zeit: Wie schafft man Sangha?

War das Bodhi College ein völliger Neustart oder gab es einen Vorlauf?
Wie bereits erwähnt, hatten wir zwei große Inspirationen: Der eine Strang war unser zweijähriges „Committed Practitioner’s Program“, das wir seit 2008 in England angeboten haben und in dem sich jeweils über 30 Teilnehmende für einen Zeitraum von zwei Jahren für sechs Studienmodule und zwei Retreats verpflichten. Diese dichte und intensive Ausbildung bietet eine vertiefte Auseinandersetzung mit buddhistischen Darlegungen für erfahrene Praktizierende. Wir halten den Lehrgang ab nächstem Jahr ein fünftes Mal ab, diesmal in Holland. Anfangs dachten wir, dass wir ihn nur ein einziges Mal anbieten würden, weil wir glaubten, der Pool Interessierter sei damit abgeschöpft. Zu unserer Verblüffung gab es aber auch in den Folgejahren immer weitere Interessierte, darunter auch viele Menschen, die von weither extra für den Lehrgang nach England reisten. In diesem Programm haben wir Lehrer auch gemerkt, wie viel Freude es uns macht, kontinuierlich und vertieft mit Menschen zusammenzuarbeiten. Der zweite Strang von Inspiration geht auf eine Institution in den USA zurück, an der wir alle irgendwann unterrichtet haben – das Barre Center for Buddhist Studies. Dort, in einem überschaubaren Rahmen in den Wäldern von Massachusetts, nimmt eine Vision von Studium und Meditationspraxis Gestalt an – eine Versöhnung von Meditationshalle und Bibliothek, wie sie uns in Europa bislang fehlt. Diese Erfahrungen haben uns bewogen, hier in Europa, über Länder und Sprachgrenzen hinweg, eine Lehrstätte zu initiieren, die einem tieferen Studium buddhistischer Darlegungen für Meditierende einen institutionellen Rahmen geben soll. Inzwischen sind wir nach englischem Recht als „Company Limited“ und „Educational Charity“ registriert. Wir haben ein ehrenamtliches Unterstützerteam, einen internationalen Vorstand, drei Angestellte, fünf Hauptlehrerinnen und -lehrer und mehrere assoziierte Lehrende. Einen physischen Ort haben wir bislang nicht; das hält einerseits die Kosten gering, bedeutet andererseits natürlich Arbeit, um unsere geografisch auseinander liegenden Ressourcen zu bündeln und als Organisation effektiv zu sein. Wir bieten unsere Kurse in verschiedenen Zentren und Veranstaltungsorten auf dem europäischen Festland und in England an.

Gibt es so etwas wie einen Lehrplan für das Bodhi College?
Der Fokus liegt auf der Vermittlung einer lebenspraktischen und traditionsübergreifenden Form frühbuddhistischer Darlegungen. Zu den Inhalten, die wir meist auf Englisch, aber auch auf Deutsch und Italienisch vermitteln, gehören buddhistische Psychologie, Fortbildung für Achtsamkeitslehrerinnen und -lehrer, Quellen- und Textstudien des frühen Buddhismus und klassische Sprachen. Das „Committed Practitioner’s Program“ ist weiterhin ein Schwerpunkt unseres Institutes. Zusätzlich gibt es zwei weitere mehrjährige Programme. Dazu gehören eine Fortbildung für Achtsamkeitslehrer (vier Module), in der wir das Achtsamkeitskonzept in den Rahmen einer buddhistischen Psychologie und Praxis stellen; ferner Stephen und Martine Batchelors „Secular Dharma“-Programm (sechs Module), innerhalb dessen auch Renate Seifarth und Letizia Bagnoni lehren. Hinzu kommen einzelne Wochenenden, Studienkurse und Meditationsretreats auf Deutsch (zum Beispiel mit Christoph Köck und mir). Bei all diesen Programmen gilt, dass Menschen dadurch tiefer in ein buddhistisches Verständnis vordringen können und in der Botschaft des frühen Buddhismus eine lebenspraktische und weltzugewandte Botschaft erkennen lernen. Unsere Programme bieten Schwerpunkte an, wie es sie – soweit mir bekannt ist – in Europa als nicht traditionsgebundene Ausbildungen nirgendwo gibt. Sie sind einerseits gewichtig durch die Konzentration an Lehrinhalten; sie sind zudem außergewöhnlich, weil alle Teilnehmenden über den Lehrplan hinaus in eine Mentorenbeziehung eingebunden sind, aber auch in eine Gemeinschaft, die sich mindestens viermal im Jahr für mehrere Tage trifft und in dieser Zeit zusammen lebt, arbeitet, studiert und praktiziert. Gemeinsam sitzen und gemeinsam studieren – das ist immer noch selten; wir wünschen uns sehr, dass diese beiden Aspekte unterstützend zusammen finden.

Nun bieten aber auch die verschiedenen buddhistischen Traditionslinien Kurse und Studienprogramme an. Was ist beim Bodhi College anders?
Ausbildungen mit buddhistischen Inhalten sind oft entweder an Zertifikaten orientiert, wenn es um berufliche Qualifikationen geht, oder aber sie sind traditionell auf eine spezifische Schulrichtung festgelegt (Zen, Theravada, eine bestimmte tibetische Linie etc.). Die meisten der Lehrenden des Bodhi College kommen aus mehreren solcher Schulrichtungen, und uns ist eine traditionsübergreifende Bildungsinstitution wichtig. Wir unterrichten übrigens immer zu zweit, damit ein bestimmter Themenkreis aus verschiedenen Blickwinkeln und von Lehrenden mit unterschiedlichem Hintergrund beleuchtet werden kann. Dem Bodhi College geht es nicht um Orthodoxien, auch nicht um eine säkulare Orthodoxie. Die Lehre des Buddha, wie sie uns aus den frühen Darlegungen entgegentritt, ist bereits von Schulrichtungen geprägt. Es ist das Privileg des Westens und unserer Zeit, dass diese Schulrichtungen, vermutlich erstmals in der Geschichte des Buddhismus, in ihrer Pluralität nebeneinander auf weitgehend neutralem Boden bei uns auftauchen – was uns Abendländern wiederum die Möglichkeit eröffnet, uns auf die Breite dieser Darlegungen und deren Perspektiven einzulassen. Der historische Buddha war weder ein Theravadin, noch gehörte er zu irgendeiner anderen Schule. Uns geht es darum, einer Vision seines Wachstumspfades und seiner praktischen Geistesschulung nachzuspüren und diese im weitesten Sinne zu übersetzen und zu vermitteln – jenseits der Auslegung einer einzelnen Schule oder Tradition.

Dennoch ist die Inspiration des Bodhi College der frühe Buddhismus…
Dem ist ganz klar so – wobei uns ja die buddhistische Überlieferung von Anfang an eher als ein verästeltes Netz kleiner Flüsschen begegnet denn als ein breiter geordneter Strom: In allen uns zugänglichen Quellen  findet sich Diversität. Ich befasse mich mit diesen Themen seit 35 Jahren; je gründlicher man hinblickt, umso deutlicher wird, dass die Aussagen des Buddha schon in frühester Zeit interpretiert worden sind – und dass es in diesen Interpretationen erhebliche Unterschiede gibt. Zwischen dem Tod des Gründers und der Verschriftlichung seiner Darlegungen liegen immerhin 300 Jahre mündlicher Überlieferung: In dieser Zeit haben Menschen die Lehrreden zusammengetragen, die Textsammlungen mündlich kompiliert, dargelegt und interpretiert. Was wir heute zum Beispiel als Pali-Kanon vor uns haben, ist das Resultat vieler Generationen redaktioneller und editorialer Arbeit. In gewisser Weise ist dieser anfängliche Reichtum vielleicht die interessanteste Phase des Buddhismus. Es ist uns ein Anliegen, dass an Buddhismus Interessierte sich mehr mit den Quellen dieses Reichtums auseinandersetzen, und es scheint im Licht neuerer kritischer Forschung auch durchaus nötig, die eine oder andere etablierte Idee zur Lehre und ihrer Geschichte zu hinterfragen. Dabei ist von Vorteil, dass das Bodhi College mit seinem Team Zugang zu Quellmaterialien in den Ausgangssprachen Pali, Sanskrit und Tibetisch hat und eine aufgeschlossene Haltung auch zu nicht traditionellen Quellen pflegt, wie etwa der indologischen Forschung.

Wie sieht es mit dem Kontakt zur universitären Forschung aus, etwa der Buddhologie oder den Religionswissenschaften?
Leider begeistern sich praktizierende BuddhistInnen nur zögerlich für die Erkenntnisse aus relevanten Forschungszweigen. Auch sind etablierte buddhistische Schulen oft mehr daran interessiert, die Außerordentlichkeit ihrer eigenen Übertragungslinie herauszustellen, als mit der gebotenen historischen Nüchternheit tatsächlich ihre eigene Geschichte zu erforschen. Während das Bodhi College keine explizit akademischen Ziele oder Programme hat, glauben wir, dass Praktizierende von akademischer Forschung durchaus etwas lernen können, dass die Wissenschaft eine ganze Menge über den historischen Buddhismus weiß, was für Praktizierende von Nutzen sein kann – etwa ein tieferes Verständnis der Lehrtexte und -aussagen, von Zeitabläufen, eine größere Klarheit hinsichtlich verschiedener Authentizitätsansprüche oder historischer Akzentverschiebungen in der Deutung von Lehrinhalten. Etwas Forschung kann besonders angesichts traditioneller Selbstmythologisierungen von Nutzen sein – und wenn der Blick sich über die eigene Übertragungslinie hinaus erweitert, erschließen sich oft tiefere Zusammenhänge einzelner Lehraussagen; nicht selten wächst gerade dadurch eine tiefere Wertschätzung der eignen wie auch anderer Traditionen.

Und die Stille, die Kontemplation?

Wir alle sind seit vielen Jahren Meditationslehrer – und wünschen uns Menschen für unsere Angebote, die einen kontemplativen Hintergrund haben. Außerdem sind wir an der persönlichen Umsetzung interessiert: Wie setzt man die auf Durchschauungsebene gewonnenen Erkenntnisse in einen Lebensalltag, in eine wirksame, tägliche Praxis um? Wir verstehen den Buddha als einen spirituellen Pragmatiker. Seine Genialität ist weder die eines Erfinders noch die eines Systematikers. Je mehr ich von seinen Darlegungen lerne und vom Kontext ihrer Entstehung verstehe, desto mehr bin ich beeindruckt von seinem Engagement für eine situative Ethik, seinem undogmatischen Umgang mit Wirklichkeitsverständnissen, von seiner Bereitschaft, Vorgefundenes aufzugreifen und umzuformen, seiner Insistenz auf kontemplativer Praxis, seiner Bereitschaft, eigene Darlegungen auszufeilen und im Laufe eines langen Lebens neu zu gewichten. Ich bin berührt von seinen erstaunlichen Reflexionen über Psychologie und den menschlichen Geist, seinem Umgang mit Sprache, seinem Enthusiasmus für Bildung, seinem reformatorischen Willen. Wenn man schaut, was er beispielsweise für Frauen tat: Er hat ihnen die Möglichkeit, voll zu erwachen, zugebilligt, für sie eine Ordensgemeinschaft eingerichtet, sie Männern spirituell für ebenbürtig erklärt – alles gänzlich unerhörte Aussagen und Handlungen für seine Zeit. Auch wenn es nicht ohne Zähneknirschen gelaufen ist und er (und sein Schüler Ananda) dafür kritisiert wurde: Angesichts des bedauerlichen Zögerns vieler männlicher Ordensgemeinschaften der Gegenwart, die Wiederherstellung des Nonnenordens als Bhikkhunis zu begrüßen und zu ermöglichen, scheint die Voraussicht und Liberalität des Gründers vor 2500 Jahren umso spektakulärer.

Wie steht es mit dem Etikett „säkularer Buddhismus“ – trifft das den Ansatz des Bodhi College oder eher nicht?
„Säkular“ ist ein Reizwort geworden – es bedeutet sehr unterschiedliche Dinge in verschiedenen Köpfen. Ich habe mich anderswo ausführlich zu Aspekten des Begriffes geäußert.* Gewiss scheint mir vor allem eines: dass der Kontext, in dem wir heute leben, fraglos ein säkularer ist. Wir leben in einer säkularen Gesellschaft. Die großen Diskurse unserer Zeit – in den Natur- und Geisteswissenschaften, in Medizin, Psychologie, Wirtschaft und Recht – sie alle  finden ausnahmslos in einer säkularen Terminologie statt. Wenn die Vision von Buddhas Dharma in relevanter Weise in diese Diskurse einfließen soll, müssen Buddhistinnen und Buddhisten sich auf einen Dialog in säkularen Begriffen einlassen.

Wenn Buddhistinnen und Buddhisten hier mitmischen möchten …
… können sie von anderen nicht verlangen, dass man mit ihnen ausschließlich in religiöser Terminologie spricht. Heute sind viele an der Botschaft des Buddha interessiert, sofern man ihnen die Werte buddhistischer Überlieferung in die säkulare Sprache unserer Zeit zu übersetzen bereit ist. Tut man das nicht, verschwindet der Buddhismus über kurz oder lang in der Nische des Privaten. Dann haben wir unsere persönlichen Anschauungen, unsere Rituale und unsere Meditationsräume, aber wir versäumen es, die Vision des Buddha dieser Gesellschaft zu vermitteln, in deren Mitte wir leben – seine zutiefst verheißungsvolle Bekräftigung, dass Menschen wachsen, lernen, ihre Lebensräume und Beziehungen mitfühlend gestalten können, dass sie sich aus beklemmender Konditionierung und unfreien Umständen befreien, ein sinnstiftendes Dasein führen und erwachen können. Ich hoffe, dass das Bodhi College und seine Angebote einen Schritt der Vermittlung im obigen Sinn darstellen – und einen für Menschen dieser Zeit gangbaren Weg auf den Spuren des Buddha ermöglichen.

* „Säkularer Buddhismus: Neue Vision – oder mehr vom Mythos, für dessen Aufklärung er sich hält“ in BUDDHISMUS aktuell 1/2017, Seite 56-62.

Akincano Marc Weber

Akincano Marc Weber, Dharmalehrer und Therapeut, unterrichtet international Meditation und Buddhistische Psychologie und führt eine Praxis für therapeutische Prozessbegleitung. Er fühlt sich der Tradition des frühen Buddhismus verbunden, war lange Jahre Mönch in der Waldtradition (Asien und Europa) und ist Mitbegründer des Bodhi-Institute. Er lebt mit seiner Frau in Köln.

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