Wie das Festhalten an der Geschelechteridentität die Erleuchtung untergräbt

Ein Beitrag von Achraya Rita M. Gross veröffentlicht in der Ausgabe 2015/3 Gender unter der Rubrik Gender. (Leseprobe)

Es ist absurd, sagt die Wissenschaftlerin und Dharma-Lehrerin Rita M. Gross: Im Buddhismus geht man davon aus, dass es kein Ich oder Selbst gibt, aber hält an starren, festen Geschlechternormen fest. Wir müssen uns entscheiden, was uns wichtiger ist – Nicht-Ich und Erleuchtung oder die Bewahrung konventionellen Vorstellungen von Geschlecht?

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Alle Formen des Buddhismus beziehen sich auf die Lehren von Nicht-Ich oder Nicht-Selbst und behaupten, es gebe kein dauerhaftes, unvergängliches Selbst jenseits des Kommens und Gehens der Erfahrung – trotz der tief in uns sitzenden emotionalen Reaktion, es müsse ein solches Ich geben, da es sich schließlich so real anfühlt. Buddhistische Lehren behaupten auch, dass viele unserer Leiden durch das Festhalten an diesem nicht existenten, aber trügerischen Selbst verursacht würden. Erleuchtung, Frieden, Befreiung – mit welchen Begriffen man auch immer den Kern buddhistischer Sichtweisen und Praktiken beschreibt – erfordern, dass man sich von der Last des ständigen Versuchs befreit, ein Selbst, eine dauerhafte und zuverlässige Identität aus dem Kaleidoskop der eigenen Erfahrungen zu konstituieren. Deshalb forderte uns der Buddha auf, der Arbeit an der Ichlosigkeit mit größtmöglicher Ernsthaftigkeit nachzugehen.

Daher müsste es uns eigentlich wundern, warum Buddhisten so vorsichtig die zentrale Rolle infrage stellen, die wir der Geschlechteridentität in unserem täglichen Leben einräumen, und so blind gegenüber der anmaßenden Rolle sind, die Geschlechteridentität in buddhistischen Institutionen spielt. Kein anderes Element unserer Erfahrung besitzt eine solche Macht über unsere unmittelbaren Reaktionen auf Menschen, denen wir begegnen; sie bedingt, wie wir andere wahrnehmen, und verunmöglicht es uns, anderen unvoreingenommen und frei von Vorurteilen zu begegnen. Eine solche alltägliche Reaktivität wäre vielleicht nicht so verheerend, wäre sie nicht zum übergeordneten Organisationsprinzip des traditionellen institutionellen buddhistischen Lebens geworden. Buddhistische Institutionen wie Ausbildungszentren, Meditationszentren und klösterliche Orden praktizieren nicht nur Geschlechtersegregation, sondern ebenso eine Geschlechterhierarchie, die dazu führt, dass männliche Praxis und Ausbildung ökonomisch und emotional immer schon mehr gefördert wurde als weibliche. Kein Wunder, dass die Ansicht, eine weibliche Wiedergeburt sei gegenüber einer männlichen nachteilig, mit der Zeit immer stärker wurde, sodass in weiten Teilen der buddhistischen Welt schließlich die Überzeugung herrschte, nur eine männliche Wiedergeburt sei letztlich eine Lösung für das Unglück einer weiblichen Geburt.

ENDE DER LESEPROBE

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Achraya Rita M. Gross

Achraya Rita M. Gross war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Vergleichende Religionswissenschaft an der University of Wisconsin–Eau Claire. International bekannt wurde sie durch ihre innovativen Arbeiten über Gender und Religion. Seit 1977 ist sie tibetische Buddhistin und wurde von Jetsun Khandro Rinpoche als Dharma-Lehrerin autorisiert.

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