Wer in Ihnen hat solche Sehnsucht, dass Sie sogar Gewalt ertragen?

Ein Interview mit Prof. Dr. Luise Reddemann geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2018/1 Liebe unter der Rubrik Liebe.

Wie kommt es, dass sich erwachsene Menschen in zum Teil extreme Abhängigkeitsbeziehungen begeben – zum Beispiel auch zu einem spirituellen Lehrer – und Dinge mit sich machen lassen, die offenkundig unheilsam sind? Das fragte Ursula Richard die Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychiatrie, Dr. Luise Reddemann. Ein Gespräch über die Dynamik spiritueller Lehrer- Schüler-Beziehungen.

URSULA RICHARD: Wie kommt es, dass sich erwachsene Menschen in zum Teil extreme Abhängigkeitsbeziehungen, zum Beispiel zu einem Lehrer, begeben und Dinge mit sich machen lassen, von denen offenkundig ist, dass sie unheilsam sind?

LUISE REDDEMANN: Vermutlich hat das viele Gründe, und es gibt Menschen, die Erfahrungen dieser Art wirklich wollen. Sie wollen bewusst extreme Abhängigkeit erfahren. Die meisten Menschen, die mir begegnet sind, leiden allerdings sehr darunter und sagen, dass sie, ohne es zu wollen, da hineingeraten sind. Es gilt, zwischen einer massiven Bedrohung, gegen die sich kaum jemand wehren kann, weil er oder sie in jedem Fall unterliegen würde, und einer Bedrohung, gegen die man sich wehren könnte – wenn man könnte –, zu unterscheiden. Betroffene beschreiben, wie sie genötigt wurden, Dinge mit sich geschehen zu lassen, weil sie sich bedroht fühlten, materiell oder in ihrer Integrität, und weil sie nicht die Kraft hatten, sich zu wehren. Für diesen Mangel an Wehrhaftigkeit halte ich Gewalterfahrungen in der Kindheit und/oder sexualisierte Gewalterfahrungen – auch im späteren Leben – für entscheidend; beides ist oft gekoppelt. Bei Gewalt geht es sowohl um körperliche als auch um verbale, die sich ähnlich verheerend auswirken kann, was übrigens erst seit kurzem bekannt ist. Wenn jemand eine solche Geschichte hat, geschieht es relativ häufig, dass dieser Mensch, wenn er sich bedroht fühlt, in einen Zustand gerät, den man als „Einfrieren – freezing“ beschreibt. Er ist zwar innerlich in höchster Aufregung, aber seine Motorik ist gelähmt, auch die sprachliche. Solche Menschen sind nicht mehr fähig, sich zu wehren, selbst wenn es jemand anderem in der gleichen Situation noch möglich wäre. Diese Menschen wollen nicht ihre alten Traumata wiedererleben, sondern geraten, ohne es zu wollen, in Zustände der Wehrlosigkeit. Was sich wiederholen kann, ist, dass gequälte Menschen sich angezogen fühlen von Menschen, die etwas Ähnliches ausstrahlen wie frühe Bezugspersonen. Da wird meist die Sehnsucht nach Angenommensein und Geliebtwerden aktiviert. Und wenn die Beziehung erst einmal besteht – und nach meiner Erfahrung ist die nicht in erster Linie davon getragen, dass der Mensch sich schlecht behandeln lassen will, sondern im Gegenteil Liebe erfahren will –, kommt eben bei Gewalt dann das alte Muster der Wehrlosigkeit zum Tragen.

Sind diese Mechanismen auch in spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehungen wirksam, in denen es ja nicht primär um die Erfahrung von Liebe geht, sondern darum, dass der Lehrer mir zu spirituellen Verwirklichungen verhelfen soll, vielleicht sogar zur Erleuchtung? Wirken da Übergriffe, Grenzverletzungen möglicherweise noch desaströser?

Diese Mechanismen sind vor allem wirksam, wenn es um strukturelle Abhängigkeit wie beispielsweise in Lehrer-Schüler-Beziehungen geht. Man spricht auch von Übertragung; das heißt Sehnsüchte, die frühen Bezugspersonen galten, werden auf Lehrende übertragen. Aber genau hier sollte es wegen der potenziellen strukturellen Abhängigkeit ganz klare Regeln für die Lehrenden geben, dass Schüler, Schülerinnen in keiner Weise ausgebeutet werden dürfen. Mir sind keine Forschungen in Bezug auf Besonderheiten spiritueller Lehrer-Schüler- Beziehungen bekannt. Es ist für mich aber vorstellbar, dass Ausbeutung auf einer solchen Grundlage besonders schädigend sein kann. Darüber hinaus denke ich, dass Fürsorge und Verantwortung sowie Verstehen durchaus Aspekte von Liebe – jedenfalls nach Erich Fromm – sind.

© Andre Rabelo

Auch heute noch ist des Öfteren zu hören, dass Frauen – es sind ja viel seltener Männer den Lehrer durch aufreizendes Benehmen oder bestimmte Kleidung provozieren und als Erwachsene zumindest eine Mitverantwortung daran tragen, wenn Lehrer Grenzen überschreiten oder es sogar zu sexualisierter Gewalt kommt. Was meinen Sie?

Sexualisierte Gewalt ist niemals zu rechtfertigen und die Einwände gehören zum Repertoire patriarchaler Rechtfertigungslogik. Lehrer-Schüler-Beziehungen sind nun einmal besonders schutzbedürftig, und das heißt, dass Lehrende eine große Verantwortung haben und nicht schaden dürfen. Sie müssen einsehen, dass es da ein Gefälle gibt und eine hundertprozentige Gleichrangigkeit eben nicht gegeben ist, sodass Wege gesucht werden müssen, verführerisch erscheinendes Verhalten von Schülerinnen oder auch Schülern zu begrenzen, zum Beispiel, es zu ignorieren oder eben ein klärendes Gespräch zu führen.

Was würden Sie Menschen raten, die in spirituellen Abhängigkeitsbeziehungen stecken?

Ich frage: „Wer in Ihnen hat solche Sehnsucht nach Liebe, dass Sie sogar Gewalt ertragen? Ist das der erwachsene Mensch, oder ist das ein jüngerer Teil oder jüngere Teile von Ihnen?“ Wir finden dann fast immer misshandelte jüngere Anteile, die diese Sehnsucht haben, teilweise aber auch Teile, die sich schuldig fühlen, wenn sie sich zur Wehr setzen, manchmal sogar in Todesangst geraten und nicht zuletzt deshalb wehrlos sind. In einer Psychotherapie arbeiten wir daran, dass diese jüngeren misshandelten Teile gesehen, getröstet und mitfühlend versorgt werden. Das ist ein innerer Vorgang, den ich begleite. Dann arbeiten wir parallel auch an der Wehrhaftigkeit der erwachsenen Person, auf der emotionalen Ebene, aber auch mithilfe von Selbstverteidigungsangeboten. Dadurch können Betroffene nach und nach lernen, sich abzugrenzen, Nein zu sagen, wegzugehen und sich auch handfest zu wehren. 

Prof. Dr. Luise Reddemann

Professor Dr. Luise Reddemann ist Fachärztin für Psychiatrie sowie Psychoanalytikerin. Zahlreiche Publikationen zu Traumafolge- erkrankungen, u.a.: „Mitgefühl, Trauma, Acht- samkeit“. Sie meditiert seit gut 40 Jahren und ihre wichtigste Lehrerin ist Sylvia Wetzel.

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