Selbstkultivierung in Würde – Über das Leben buddhistischer Nonnen in China

Ein Beitrag von Dr. Johanna Lüdde veröffentlicht in der Ausgabe 2016/4 gut leben unter der Rubrik gut leben.

Über die Situation des Buddhismus in China wissen wir nicht viel, über die Lebenssituation von Nonnen in China noch weniger. Die Religionswissenschaftlerin Johanna Lüdde hatte die Möglichkeit, einige Zeit in einem Nonnenkloster zu leben, wo sie wertvolle Informationen über das Leben der Nonnen erhielt.

Meisterin Chuanheng, Äbtissin des Qingliang-Klosters, führt die Zeremmonie der Weitergabe des Dharma durch | © Johanna Lüdde

Eine Reise zu buddhistischen Nonnenklöstern in China

Von 2011 bis 2015 arbeitete ich als Dozentin für Religionswissenschaft an einer Universität in der Volksrepublik China. In dieser Zeit knüpfte ich Kontakte zu buddhistischen Mönchen und Nonnen, unternahm Reisen in buddhistische Klöster und wohnte sogar mehrere Monate lang in einem Tempel, wo ich freiwillig mitarbeitete.

Eine der Äbtissinnen, die ich kennenlernte – Meisterin Chuanheng vom Qingliang-Kloster in der Großstadt Xi’an – nahm mich besonders herzlich auf. Als sie hörte, dass ich gekommen sei, um etwas über den Buddhismus zu lernen, lieh sie mir zahlreiche Bücher und Sutras aus, die für die Grundausbildung der jungen Nonnen verwendet werden. Diese Werke, die teils in modernem, teils in klassischem Chinesisch geschrieben waren, sollte ich in kurzer Zeit lesen. Dafür gewährte sie mir mehrfach Audienzen, bei denen ich meine Fragen auf Chinesisch stellen durfte. Aber auch Meisterin Xingjue, die im selben Kloster Buddhismuskunde unterrichtet, nahm sich meiner mit großer Geduld an. Auf diese Weise erfuhr ich nicht nur viel über den chinesischen Buddhismus, sondern auch über die Lebenssituation der Nonnen in China.

Leidvoller weiblicher Körper?

Buddhistische Nonnen in China erhalten die volle Ordination und sind somit im Vergleich zu den südlicheren Ländern Asiens von hohem Rang. Trotzdem haben sie es schwer. Neben den politischen Beschränkungen, die verhindern, dass sich Mönche und Nonnen ungehindert in der Gesellschaft engagieren und Sozialarbeit leisten können, wird von ihnen ein Leben in Zurückgezogenheit, Demut und Sesshaftigkeit erwartet. Zudem erhalten Nonnen nicht dieselbe Aufmerksamkeit und Anerkennung wie die Mönche. Ihre Vinaya verlangt, dass sie fast hundert Regeln mehr einhalten müssen (nämlich 348 gegenüber 250 Mönchsregeln). Das Gurudharma, also die Acht Grundlegenden Regeln, weist ihnen in der buddhistischen Hierarchie einen niedrigeren Platz zu: So muss etwa eine hundertjährige Äbtissin vor einem zwanzigjährigen Bikkhu einen Kotau machen und darf ihn nicht kritisieren. Auch werden Frauen in China von alters her negative Eigenschaften zugesprochen, wie etwa eine Neigung zu Eifersucht, zu dummem Geschwätz, Engstirnigkeit oder Charakterschwäche. Viele Chinesinnen erleben ihren weiblichen Körper als leidvoll. Deswegen streben die Nonnen danach, sämtliche „weiblichen“ Schwächen abzulegen und sich einem Zustand anzunähern, der von edlen „männlichen“ Charaktereigenschaften gekennzeichnet ist. Weiblichkeit wird in China nicht als gesellschaftliches Konstrukt, sondern als (vorläufige) essenzielle Wesenheit dieser leidvollen Welt (saha) verstanden, von der sich die Nonnen befreien wollen.

Versammlung im Qingliang-Kloster | © Johanna Lüdde

Meisterin Rurui

Doch auf diesem schwierigen Weg entfalten die Nonnen ungeahnte Kräfte, die meine tiefe Bewunderung hervorriefen. Sie scheuen keine Anstrengungen noch Mühen, um ihr eigenes Verständnis des Buddhismus zu praktizieren und zu verbreiten. Besonders einflussreich ist die derzeit ranghöchste Nonne in China, Meisterin Rurui. Sie ist die Äbtissin des großen Nonnenklosters Pushou auf dem Wutai-Berg in der Provinz Shanxi und rief eine chinesische Bikkhuni-Bewegung ins Leben, die verschiedene Nonnenklöster in allen Teilen Chinas erfasste. Eines davon ist das renommierte Qingliang-Kloster in Xi’an, dessen Äbtissin, Meisterin Chuanheng, eng mit Meisterin Rurui zusammenarbeitet. Ihre Bewegung gründet sich darauf, die Klosterregeln sehr streng zu befolgen und ein Leben in freiwilliger Armut zu führen.

Ein Leben in freiwilliger Armut zu führen ist in einem Land wie China, wo Äbte und Mönche leicht den Versuchungen der Kommerzialisierung erliegen, keine Selbstverständlichkeit. Unter dem Druck lokaler Beamter, die kräftig an den Tempeln mitverdienen wollen, werden Mönchsklöster (oft gegen den Willen der Äbte) in Touristenattraktionen verwandelt, die nur gegen Eintrittsgelder zu besichtigen sind. Gleichzeitig beauftragen viele Äbte Laiengläubige damit, außerhalb des Klosters Unternehmen zu gründen, deren Erträge zum Teil in die eigenen Taschen fließen. Gern nehmen sie auch großzügige Privatspenden entgegen. Privat- und Klostereigentum werden nicht sauber voneinander getrennt. So bin ich einigen sehr selbstbewussten Äbten begegnet, die mehrere Luxusautos und einen Chauffeur besaßen, von dem sie sich auf privaten Vergnügungsreisen kutschieren ließen – von ihrem gelegentlich recht lockeren Umgang mit der Vinaya im Allgemeinen und Frauen im Speziellen ganz zu schweigen.

Unterricht in der Buddhistischen Akadamie des Qingliang-Klosters | © Johanna Lüdde

Ohne Smartphone und Computer

Die Nonnenklöster, die ich kennengelernt habe, waren ganz anders: Abgelegen und nur Insidern bekannt, verirrt sich kaum je ein Tourist dorthin. Es werden keine Eintrittsgelder verlangt. Spenden werden sehr gewissenhaft für genau jenen gemeinnützigen Zweck eingesetzt, den der Spender dafür bestimmt hat. Da die Vinaya es ihnen verbietet, in direkten Kontakt mit Geld zu treten, nehmen sie keine Privatspenden entgegen. Im Pushou- und Qingliang-Kloster dürfen Nonnen, die kein leitendes Amt innehaben, weder Smartphone noch Computer besitzen, geschweige denn eigene E-Mail-Accounts führen. Eine Nonne soll sich nicht allein mit einem männlichen Laien in einem Zimmer aufhalten; sie darf auch nur mit Erlaubnis der Äbtissin und in Begleitung anderer das Kloster verlassen. Sie wird dazu angehalten, wenig zu reden, leise aufzutreten und – zumindest in der Anfangszeit – schwere körperliche Arbeiten zu verrichten. Nonnen haben ganz offensichtlich ein härteres Leben als Mönche. Gleichzeitig treten sie bescheiden, zurückhaltend und einfühlsam auf. Die Äbtissin des Qingliang-Klosters in Xi‘an, Meisterin Chuanheng, betrachtet diese äußeren Maßnahmen als wichtige Übungen, um die eigene Gier zu überwinden und einen Zustand innerer Reinheit und Freiheit zu erlangen.

Für Meisterin Chuanheng ist die Vinaya die Grundlage jeglicher Selbstkultivierung. Sie hilft einer Nonne dabei, ihre Würde zu wahren. Um ihre Würde wahren zu können, dürfen Nonnen beispielsweise nicht rennen, sich nicht hinhocken, nicht nebeneinander hergehen und schwatzen, nicht in den Spiegel schauen, nicht Kaugummi kauen, keine Sonnenbrille oder Mütze tragen, nicht laut sprechen, nicht über ihre Vergangenheit reden, nicht weinen, nicht herumalbern, nicht naschen, keine Angst zeigen und so weiter. Vielmehr sollen sie sich gesetzt, bedachtsam und konzentriert verhalten. „Würde“ wird mit edler Männlichkeit assoziiert, und Nonnen, die sich an die Vinaya halten, erlangen Macht über sich selbst, indem sie ihre Geschlechtlichkeit transformieren.

Nonnen im Qingliang-Kloster | © Johanna Lüdde

Regeln sind kein Selbstzweck

Die Nonnen haben mich immer wieder darauf hingewiesen dass Regeln aus Barmherzigkeit übertreten werden können, und dass man nicht an ihnen anhaften darf. Sie sind kein Selbstzweck; sie stellen nicht die höchste Weisheit dar. Trotzdem ist man auf der sicheren Seite, wenn man sie ernst nimmt, und gerät nicht so schnell auf moralische Abwege – geschweige denn, dass man Böses tut. Sie sind der Ausgangspunkt, von dem aus sich die jungen Nonnen auf den langen Weg des Lernens und der Selbstkultivierung begeben. Ohne die Vinaya ist der Unterschied zwischen Nonnen oder Mönchen einerseits und Laien andererseits nicht mehr erkennbar. Sie fördert die innere Gelassenheit und Freiheit als Grundlage der Meditation und Weisheit. Meisterin Chuanheng weist darauf hin, dass man sich auf ganz natürliche Weise wie von selbst an die Klosterregeln hält, wenn man bereits den Zustand des geistigen Friedens erreicht hat. Aber um dorthin zu gelangen, brauchen die meisten Menschen konkrete Übungsschritte. Und diese Übungsschritte gründen sich auf die Tradition der Vinaya.

Die Vinaya-Bewegung der chinesischen Nonnen legt also großen Wert darauf, buddhistische Traditionen zu wahren. Gleichzeitig verschreibt sie sich aber auch der modernen Reformbewegung des humanistischen Buddhismus, die in Taiwan sehr stark vertreten ist. Demnach besteht die buddhistische Kernidee nicht nur aus theoretischen Sätzen, sondern soll in die Welt hineingetragen und auf den Alltag angewendet werden. Das Pushou-Kloster etwa leistet Sozialarbeit, und zwar durch regionale Armutsbekämpfung, Katastrophenhilfe, karitative Netzwerkarbeit und ein kostenloses Altersheim für Buddhisten. Als noch wichtiger wird jedoch die Bildungsarbeit angesehen. Sie bezieht sich auf Unterrichtskurse für Laien, vor allem aber auf die Ausbildung der Nonnen selbst. Die Pushou- und Qingliang-Klöster verfügen beide über buddhistische Akademien, an denen junge Nonnen Buddhologie studieren können. Im Qingliang-Tempel dauert dieses Studium insgesamt elf Jahre. Meisterin Chuanheng hofft, gelehrte Dharma-Meisterinnen ausbilden zu können, die die buddhistische Lehre in die Welt tragen.

Zeremonie im Qingliang-Kloster | © Johanna Lüdde

Flexibilität und Kreativität

Diesem Spagat zwischen Traditionswahrung und Modernisierung liegen zwei buddhistische Konzepte zugrunde: zum einen die Welt zu verlassen, zum anderen in die Welt hineinzugehen. Die Welt zu verlassen bedeutet, in die Hauslosigkeit zu ziehen, den Kontakt zur Außenwelt weitestgehend abzubrechen, sich streng an die Vinaya zu halten, sich in Selbstdisziplin, Genügsamkeit und Meditation zu üben, die Gier zu überwinden und einen Zustand von innerer Reinheit, Tugend, Gelassenheit und Weisheit zu erlangen. In die Welt hineinzugehen wiederum heißt, sich aus Mitgefühl unter die Menschen zu begeben, um sie auf den Weg der Erleuchtung zu bringen – so wie es die Bodhisattvas tun. Dafür braucht man Flexibilität und Kreativität.

Für Meisterin Chuanheng ist es aber wichtig, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Zuerst sollen die jungen Nonnen durch die strenge Einhaltung der Vinaya lernen, auf die weltlichen Vergnügungen und schlechten Gewohnheiten zu verzichten, das heißt, der Welt den Rücken zu kehren. Erst auf dieser Grundlage erlangen sie genügend Standhaftigkeit, Gelassenheit und Weisheit, um wieder in die Welt hineingehen und allen fühlenden Wesen helfen zu können. Wendet sich ein Mönch oder eine Nonne aber der Welt zu, ohne sie vorher richtig verlassen zu haben, läuft er oder sie Gefahr, von latenter Gier getrieben zu werden. Laut Meisterin Chuanheng ist es zum Beispiel empfehlenswert, moderne Methoden der Dharmaverkündung anzuwenden, aber nur dann, wenn man gleichzeitig auf dem Boden der Tradition bleibt. Auf diese Weise kann man etwa Foren sozialer Medien für die Verbreitung des Dharma nutzen, ohne von ihnen (unbewusst) abhängig zu werden.

Die Visionen und Taten von Meisterin Rurui und Meisterin Chuanheng sind für den gegenwärtigen Buddhismus in China, der von Kommerzialisierung aufgeweicht zu werden droht, äußerst wichtig. Sie sollten eine größere internationale Beachtung finden. Es lohnt sich, davon zu lernen!

Dr. Johanna Lüdde

Johanna Lüdde, Dr., ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Sinologie der Freien Universität Berlin. Von 2011 bis 2015 arbeitete sie als Dozentin für Religionswissenschaft an einer staatlichen Universität in China und führte Feldstudien in buddhistischen Nonnenklöstern durch. Ihre Forschungsschwerpunkte sind chinesischer Buddhismus und Christentum sowie interreligiöser Dialog.

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