Nichts und niemand kann uns je vom Gewebe des Lebens trennen – die Tiefenökologin Joanna Macy

Ein Interview mit Prof. Dr. Joanna Macy geführt von Marietta Schürholz veröffentlicht in der Ausgabe 2013/4 Verbundenheit unter der Rubrik Im Gespräch.
© Werner Ratering

Marietta Schürholz: Durch deine Rezitation von Rilkes Gedicht an diesem Morgen bin ich auf eine für mich neue Bedeutungsdimension aufmerksam geworden. Wir wachsen in unserem Verständnis darüber, was das Selbst ist; wir wachsen im Laufe des Lebens, und vielleicht bzw. hoffentlich wachsen wir auch als Menschheit in diesen Jahrzehnten. Denn auf die Frage „Warum bin ich hier?“ kann man mit einer zu kleinen Vorstellung von dem, was das Selbst ist, keine Antwort finden. 

Joanna Macy: Du kannst dich nicht hinsetzen und aus dir selbst heraus finden, was die Bedeutung deines Lebens sein könnte, denn sie wird sich zeigen, sie wird sich entwickeln. 

Unsere Vorstellung von „Selbst“ erweitern 

MS: Es sieht so aus, als ob die Dringlichkeit unserer globalen Krise und die Evidenz, dass alles mit allem zusammenhängt, dazu beitragen, dass wir lernen, unser Selbst als größer und umfassender zu erleben. 

JM: Ja, das Erleben von Selbst ändert sich. Denn „Selbst“ ist zunächst einmal nur eine Metapher, die du auf verschiedene Weise definieren kannst. Du kannst das Selbst als etwas begreifen, das mit deiner Haut endet, mit deiner Familie oder deiner Nation. Im Buddhismus oder anderen spirituellen Traditionen finden sich dagegen viel weitgehendere Vorstellungen. Mit tiefenökologischen Ansätzen und Übungen kannst du dich zwischen den Ebenen hin und her bewegen. Shantideva, der Verfasser des Bodhicharyavatara (Anleitung zum Leben als Bodhisattva), empfiehlt z. B., „Selbst“ durch „Andere“ zu ersetzen.

Wir sind also nicht auf eine Definition von Selbst beschränkt, sondern können unterschiedliche Ebenen von Selbst erleben und erproben. Mein Horizont wird natürlich sehr klein, wenn ich unter körperlichen Schmerzen leide. Und er wird groß, wenn ich mir bewusst mache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Folgen unserer Handlungen, d. h. unser Karma, sofort globale Konsequenzen hat, Konsequenzen, die so weitreichend sind, dass ich sie „ewig“ nenne. Was heute jemand in der Industrie, in der Regierung oder im Militär entscheidet und auf den Weg bringt, kann Auswirkungen haben, deren Ende nicht mehr abzusehen ist.

Vor diesem Hintergrund steht für uns eine Transformation unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit an. Dieses neue Verhältnis wird in der Wissenschaft durch die Vorstellung eines holografischen Universums beschrieben. Jedes Teil ist dabei Teil des Ganzen und zugleich enthält jeder Teil das Ganze. Ludwig von Bertalanffy, der die Systemtheorie entwickelte, war hiervon tief bewegt, und auch die Ansätze von Karl Pribram oder David Bohm sind sehr davon geprägt. Diese Vorstellung findet sich aber auch schon im Buddhismus, besonders entwickelt in der Hua-Yen-Schule des chinesischen Buddhismus, einer im 7. Jahrhundert gegründeten Schule, deren Grundlage u. a. das Avatamsaka-Sutra, das Blumengirlanden-Sutra, war. Es gibt darin unglaublich viele Formulierungen dafür, wie unendlich oft alle Universen in einem Haar erscheinen. Dies zu sehen war eine Fähigkeit von Mystikern. Juliana von Norwich, die in völliger Abgeschiedenheit gelebt hat, kommt mir dabei in den Sinn. In einer Folge von „Erleuchtungen“ vermochte sie, Gott in einem Haselnussstrauch zu sehen. Unter bestimmten Umständen und bei bestimmten Menschen besitzt der menschliche Geist also die Fähigkeit, diese Wirklichkeit wahrzunehmen. Ich gehe davon aus, dass wir heute alle dazu aufgerufen sind, zu einem solchen Verständnis der Wirklichkeit zu „erwachen“. Natürlich können wir diese Sicht nicht herstellen. Aber wir können den Weg dafür frei machen, dass diese wirkende Realität in unser Wesen hineinfließt.

Im Vergleich dazu sind die Praktiken in meiner „Arbeit mit der Tiefenzeit“ sehr einfach. Aber sie sind kraftvoll. Menschen können die Zukunft durch sich sprechen lassen. Das fällt ihnen meist nicht schwer, und was wir dann erleben, ist kein Wunschdenken. Vielleicht sind wir fähig, die Zerstörung der Welt für immer abzuwenden, wenn wir das tun können, was im Blumengirlanden-Sutra beschrieben wird. 

MS: Es scheint so zu sein, dass das, wofür Mystiker Zeugnis ablegen, und das, was die Wissenschaft und die Physik als Ergebnisse präsentieren, jetzt zusammenkommen. Früher hätte ich gesagt, dass man eine spirituelle Praxis braucht, um mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Heute würde ich sagen, dass es so unglaublich viele offenkundige Beweise dafür gibt, was die Mystiker beschreiben, dass wir allein dadurch, dass wir unsere Erfahrungen betrachten, fast automatisch Mystiker werden. 

JM: Das mag ich. Denn häufig ist das, was Menschen in ihrer spirituellen Praxis gelernt haben, durch die prägenden Paradigmen einer Gesellschaft und deren Denken beschränkt. So werden spirituelle Einsichten häufig klein. Und ganz sicher gibt es eine Tendenz, spirituelle Erfahrungen „persönlich“ zu machen, sie auf die eigene Person zu beziehen. So dient spirituelle Praxis häufig nur der persönlichen Befriedung und Beruhigung.

Eintauchen und Einswerden | © Werner Steiner
© Werner Steiner

MS: Was ist unsere Arbeit, was gibt es zu tun? Wie würdest du das definieren? 

JM: Darauf gibt es viele Antworten. Wir sehen diese Arbeit als einen Weg, einen Übungsweg. Und dem liegt eine Gruppe von konzeptionellen Voraussetzungen und Praktiken zugrunde. Eine dieser Grundannahmen ist die Tatsache, dass die Erde lebt, dass sie ein lebendes System ist. Daraus ergibt sich dann der Rest: Wenn die Erde traumatisiert ist und wenn andere Lebensformen angegriffen, traumatisiert oder zerstört werden, dann fühlen wir das. Gefühle von Bedrängnis und Schmerz auf unserer Seite sind normal, natürlich und gesund. Sie sollten nicht dadurch missverstanden werden, dass wir sie auf eine private Pathologie reduzieren. In der Anerkennung der Tatsache, dass du mit deiner Welt leiden kannst, liegen wichtige Informationen darüber, wer du wirklich bist. Wenn man sich mit diesem Schmerz befreundet, wenn man ihn als ein Indiz für die innere Verbundenheit allen Lebens ehrt, werden deine Hände, deine Augen, dein Herz, dein Verstehen aus ihrer Starre und Verschlossenheit befreit und deine Motivation wird gestärkt.

Arbeit heißt auch Handeln in der Welt, Aktionen. Egal, ob du dies mit dem Körper, der Sprache oder dem Geist tust, ob du schreibst oder sprichst, ins Büro gehst oder in einer politischen oder gesellschaftlichen Weise aktiv wirst. Du bist dann aktiv für die Erde. Die Stärke, die du dadurch bekommst, kann als „dich durchfließend“ erfahren werden. Es ist nicht „deine“ Stärke, „deine“ Kraft, aber sie wirkt durch dich. Das bewahrt dich vor exaltierten Vorstellungen von deiner eigenen heldenhaften Fähigkeit. Diese Kraft hilft dir auch zu vertrauen. Vertrauen ist wunderschön, denn es wird durch ein Wissen geprägt, dass nichts und niemand dich je vom Gewebe des Lebens trennen kann. Keine Dummheit, keine Feigheit, kein Unvermögen können dich je davon lösen. Die konzeptuellen Grundlagen von der „Arbeit, die wieder verbindet“ sind daraus erwachsen. Der Buddha sagte über Weisheit und ethisches Verhalten, über prajna und sila, dass sie wie zwei Hände seien, die sich gegenseitig waschen. Keine von beiden kommt zuerst oder ist wichtiger.

Buddhistisches und systemisches Denken, spirituelles und indigenes Denken finden heute zusammen. Nach meinem Dafürhalten wollen alle diese Traditionen im Dienste und zur Rettung unseres Planeten zusammenarbeiten. Das ist also der konzeptuelle Teil, und zugleich gibt es ein großes und wachsendes Konvolut von Übungen, die genauso ein Teil dieser Arbeit sind, eben wie die beiden Hände, die einander waschen.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen, ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise Jahrtausende lang. Und ich weiß noch nicht, bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.“

Rainer Maria Rilke

Prof. Dr. Joanna Macy

Joanna Macy, Ph.D., weltweit geachtete Ökophilosophin. Als Lehrende für Buddhismus, Systemwissenschaften und Tiefe Ökologie hat ihre Stimme Gewicht in der Bewegung für Frieden, soziale Gerechtigkeit und für den Schutz der Umwelt. Mit ihrer Arbeit der „Tiefen Ökologie“ schuf sie in den letzten 35 Jahren ein wegweisendes, unerschrockenes Werkzeug, um Menschen durch die Wirren einer Krisenzeit zu engagiertem Handeln für das Leben zu leiten.

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