Kisagotamis Senfsamen

Ein Beitrag von Christina Feldman veröffentlicht in der Ausgabe 2016/3 Vom Leben und Sterben unter der Rubrik Vom Leben und Sterben. (Leseprobe)

KISAGOTAMI stammte aus einer armen Familie, aber der Sohn einer wohlhabenden Familie verliebte sich in sie und nahm sie zur Frau. Aufgrund ihrer Herkunft behandelten die Schwiegereltern sie unfreundlich, aber als sie einen Sohn gebar, respektierten sie ihre Schwiegertochter schließlich doch. Als das Kind so alt war, dass es laufen lernte, starb es, und Kisagomati wurde irre vor Trauer. Sie trug das tote Kind von Haus zu Haus und bettelte um Medizin, um es gesund zu machen, und alle schickten sie fort mit den Worten: „Das Kind ist tot. Hier kann keine Medizin mehr helfen.“ Schließlich riet ihr ein freundlicher Mann, den Buddha aufzusuchen. Der Buddha sagte: „Wenn du mir einen Senfsamen aus einem Haus bringst, in dem noch niemand gestorben ist, dann gebe ich dir eine Medizin, um dein Kind wieder zum Leben zu erwecken.“ Mit neuer Hoffnung machte sich Kisagotami auf den Weg, den Senfsamen zu besorgen, aber in jedem Haus erfuhr sie, dass hier jemand gestorben war. Also kehrte sie, ihr totes Kind noch immer in den Armen, zum Buddha zurück. „Bringst du mir einen Senfsamen?“, fragte er sie. „Ich dachte, der Tod widerfahre nur meinem kleinen Sohn, aber jetzt verstehe ich, dass er jedem Lebewesen widerfährt. Unbeständigkeit ist ein universelles Gesetz.“ Sie begrub ihr Kind im Wald und kehrte zum Buddha zurück, um die Ordination zu empfangen.

Kisagotamis Geschichte ist die Geschichte jeder Mutter, die ein Kind verliert, die Geschichte aller menschlichen Wesen, die in ihrem Herzen wissen, dass einen Menschen zu lieben, zu schätzen und sich um ihn zu kümmern mit dem Risiko von Kummer und Verlust verbunden ist. Für uns als Frauen birgt das Leben ein zeitloses menschliches Dilemma – wir müssen von ganzem Herzen und zutiefst lieben und das, was wir lieben, mitfühlend und weise verlieren können.

Der Buddha rügte Kisagotami nicht wegen ihrer Trauer und Verzweiflung, noch lehrte er sie die unbestreitbaren Gesetze der Unbeständigkeit. Stattdessen schickte er sie ins Dorf, um auch nur eine Person zu finden, die das öde Land der Trauer, den tiefen Schmerz darüber, von den liebsten Menschen getrennt zu werden, nicht kannte. Jede Familie, die sie aufsuchte, jede Person, mit der sie sprach, konnte ihr nur aufzeigen, wie unermesslich weit die Landschaft der Verluste ist.

Wir alle haben eine persönliche und eine universelle Geschichte. Unsere persönliche Geschichte, entstanden aus allem, was wir in diesem Leben erfahren und gefühlt haben, ist einzigartig. Unsere Familien; unsere Freuden und Kümmernisse; unsere Werte, Bestrebungen und Hoffnungen; unsere Enttäuschungen; die zahllosen Ereignisse unseres Lebens haben uns zu dem Menschen gemacht, der wir sind, und sind ausschlaggebend dafür, dass wir die Welt so sehen, wie kein anderes menschliches Wesen sie zu sehen vermag. Doch wenn wir verstehen, dass unsere persönliche Geschichte die universelle Geschichte aller menschlichen Wesen birgt, haben wir die radikale Möglichkeit, die Grenzen zwischen „ich“ und „du“, „wir“ und „sie“ aufzulösen.

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ENDE DER LESEPROBE

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Christina Feldman

Christina Feldman ist leitende Lehrerin der Insight Meditation Society in Barre, Massachusetts, und Mitbegründerin des Gaia House in England und des Bodhi College, Early Buddhist Teaching for a Secular Age. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher.

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