Kinder lernen den Wert der Stille von ganz allein

Ein Interview mit Kaira Jewel Lingo geführt von Ursula Kogetsu Richard veröffentlicht in der Ausgabe 2017/2 Stille unter der Rubrik Stille.

Kaira Jewel Lingo erzählt in ihrem Gespräch mit Ursula Richard, warum Stille auch schon für Kinder und Jugendliche wichtig ist, wie ihnen Zeiten der Stille helfen können und was Erwachsene tun können, um sie darin zu unterstützen.

Kaira Jewel Lingo erlebt Stille mit Kindern | © Kaira Jewel Lingo

Ursula Richard: Was hat Sie dazu geführt, so früh in Ihrem Leben, mit 23 Jahren, eine buddhistische Nonne in der Tradition von Thich Nhat Hanh zu werden?

Kaira Jewel Lingo: Da ich einer Gemeinschaft aufwuchs, die bewusst in der christlichen Tradition lebt, zog mich ein spirituelles, gemeinschaftliches Leben sehr an. Auch nach dem College hatte ich das Bedürfnis, mehr spirituelle Weisheit zu lernen. Ich hatte viel akademisches Wissen erworben und habe das sehr genossen, aber mir fehlte etwas Tieferes – etwa das Wissen, wie ich wirklich glücklich sein könnte oder wie ich mein Leiden lindern und anderen dabei helfen könnte, dies auch zu tun. Ich fühlte mich zutiefst von den Nonnen und Mönchen, die mit Thich Nhat Hanh praktizierten, angezogen, da sie eine Freude und ein Glück ausstrahlten, die ich noch nirgendwo anders gesehen hatte. Ich fühlte auch, dass es wichtig war, zu tun, was für mich am wichtigsten war und nicht damit zu warten. Ich empfand die Praxis der Achtsamkeit als so wichtig, dass ich nicht einer regulären Arbeit nachgehen wollte, um dann in den Ferien Retreats zu besuchen. Ich wollte Vollzeit praktizieren. Und ich war mir der Unbeständigkeit bewusst, dass wir nie wissen, wie lange wir leben werden. Deshalb sollten wir jetzt das tun, was für uns am wichtigsten ist.

Sie haben viel Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Glauben Sie, dass Stille beziehungsweise Meditation für Kinder wichtig ist, und wenn ja, warum? Würden Sie ein bestimmtes Alter empfehlen, um damit zu beginnen?

Ich glaube, dass Stille für Kinder und Jugendliche wichtig ist, weil selbst kleine Kinder ein reiches Innenleben haben, ihre eigenen Erfahrungen mit den Dingen machen sowie über tiefe Weisheit oder die Buddhanatur verfügen. Zeiten in Stille helfen ihnen, mit dieser sehr kostbaren Quelle, die ihnen ihr ganzes Leben hindurch von Nutzen sein kann, in Verbindung zu kommen. Je früher sie lernen, hiermit in Berührung zu gelangen, desto leichter finden sie den Zugang dazu, wenn sie ihn brauchen.

Kleiner Junge unter dem Rosenapfelbaum

Als sich der Buddha in Askese übte und fast verhungert wäre, bewahrte ihn die Erinnerung daran, mit wie viel Freude und Leichtigkeit er als kleiner Junge in Stille unter einem Rosenapfelbaum gesessen hatte, davor, in seiner Praxis zu weit zu gehen. Das war seine erste Erfahrung des Friedens und sie widerfuhr ihm ganz natürlich, während er still dasaß. Dadurch dass er sich an dieses Gefühl der Leichtigkeit und anstrengungslosen Wachheit und Aufmerksamkeit erinnerte, ließ er von den extremen Praktiken ab und entschied sich für den mittleren Weg. Diese ausgeglichenere Herangehensweise führte zu seiner Erleuchtung. Die Zeit der Stille, die er als kleiner Junge erfahren hatte, erwies sich für sein Erwachen also als sehr bedeutsam.
Was das Alter angeht, um mit dem Meditieren zu beginnen: Es ist wunderbar, wenn Kinder so früh wie möglich in Kontakt mit einer Gemeinschaft kommen, die Achtsamkeit praktiziert. Es genügt, wenn Kinder mit einer Gemeinschaft zu tun haben, deren Mitglieder achtsam gehen, essen, sitzen und achtsam miteinander umgehen; sie werden den Wert der Stille dann ganz von alleine lernen und ohne, dass jemand sie darum bittet, still zu sein. Sie werden einfach wissen, wie sie still sein können. In unseren Retreats in Plum Village heißen wir Kinder willkommen und ebenso ihren Lärm. Wir zwingen ihnen keine Stille auf, wir erlauben ihnen, Kinder zu sein, und erwarten von ihnen nicht, dass sie sich wie Erwachsene benehmen. Mit der Zeit fühlen sie, wie wunderbar nährend die Stille ist, sie ist eine Einladung, kein Zwang, und so machen sie gerne mit. Und wenn sie Krach machen wollen und das brauchen, gibt es auch dafür Raum.

Ist Stille, Meditation etwas, was Kinder oder Jugendliche natürlicherweise interessiert? Oder müssen sie von den Eltern oder Lehrern von der Bedeutung der Stille überzeugt und auf spielerische Weise an sie herangeführt werden?

Thay (Thich Nhat Hanh) hat gesagt, dass Kinder während eines Retreat am meisten Nutzen aus der edlen Stille der Gemeinschaft ziehen. Nichts, was ihnen mit Worten beigebracht wird, hat diesen Wert. Im täglichen Leben kommt es selten vor, dass wir eine Gruppe Erwachsener beim Praktizieren edler Stille sehen – einer Stille, die heilt, die eine Zuflucht bereitstellt. Kinder fühlen das, und es ist das größte Geschenk, das sie von einer Sangha erhalten können.
Wenn Kinder Erwachsene sehen, die glücklich sind und wissen, wie sie die Stille genießen können, werden sie diese ganz selbstverständlich als etwas sie Miteinbeziehendes und Kraftvolles, etwas Sicheres und Nährendes erleben. Und nicht als eine Stille, die erstickend und bedrückend ist. Sicherlich brauchen Kinder auch, dass ihnen freigebig zugehört wird und dass sie dazu ermutigt werden, zu sprechen. Dann werden sie, wenn es Zeit ist, in der Stille zu sein, empfänglicher sein. Wir können sie nicht darum bitten, still zu sein, wenn wir ihnen nicht offen und einfühlsam zuhören. Das gilt auch für Erwachsene.

Reihum die Klangschale einladen

Eine Form, in der Kinder und Jugendliche nach meiner Erfahrung Gefallen an der Stille finden, besteht darin, dass sie die Klangschale „einladen“ und ihr lauschen. Das kann spielerisch und lustig sein. Wenn Kinder lernen, dies zu tun, sind sie sehr darauf bedacht und sehr daran interessiert, einen schönen Klang zu erzeugen. Dann halten alle anderen inne und spüren ihren Atem. Es ist etwas sehr Kraftvolles, wenn eine Gruppe kleiner Kinder oder Jugendlicher innehält, um zu lauschen und gemeinsam auf diese achtsame Weise zu atmen. Ich bin oft über große Schulklassen von 30 Kindern oder mehr erstaunt: Nachdem ich den Kindern gezeigt habe, wie sie die Klangschale einladen können, sitzen alle ganz still, während jedes Kind Gelegenheit hat, das Einladen der Klangschale zu praktizieren. Sie lauschen und atmen mit jedem Ton, wobei sie manchmal zehn oder 15 Minuten still sind! Und ich muss nicht um Ruhe bitten. Jedes Kind will an die Reihe kommen und dann auch den anderen lauschen, wenn diese die Klangschale einladen.

Welche Bedeutung hat die Stille in Ihrem eigenen Leben?

Stille ist für mich persönlich eine sehr wichtige Praxis. Ich brauche jeden Tag Zeit, um in Stille zu gehen und zu meditieren, allein oder zusammen mit anderen. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass Stille-Retreats für mich ebenfalls sehr förderlich sind und mir helfen, ein Ausmaß an Intimität und Verbundenheit mit mir selbst zu finden, das ich sonst nur schwer erreichen kann.

Haben Sie irgendwelche Empfehlungen für Lehrerinnen und Lehrer, wie sie solche Praktiken in ihre tägliche Arbeit mit Kindern einbeziehen können?

Ich würde Lehrerinnen und Lehrer ermutigen, zu Achtsamkeits-Retreats oder auch „Wake Up Schools“-Retreats zu gehen – in erster Linie als Menschen und erst in zweiter als Lehrende. Wenn sie einmal die Praxis für sich selbst lernen, können sie sie auch mit ihren Schülerinnen und Schülern anwenden. Außerdem gibt es mittlerweile viele Bücher, um sie darin zu unterstützen, Achtsamkeit zu praktizieren. Wichtig ist, dass sie die Achtsamkeit für sich selbst entdecken und sie nicht nur von ihren Schülerinnen und Schülern erwarten.

Inzwischen haben Sie die Robe abgelegt. Was tun Sie jetzt?

Ich bin nun als Vollzeit-Laien-Dharmalehrerin tätig, biete Retreats, Achtsamkeitstage, Dharmagespräche und Kurse in Achtsamkeit und Meditation in Washington DC, wo ich lebe, und an anderen Orten in den USA und Europa an. Ich biete jungen Leuten in Schulen ebenso wie Lehrern, Eltern, Künstlerinnen, Umweltschützern, Farbigen, politischen Aktivistinnen und Gefängnisinsassen Achtsamkeitsunterweisungen an. 

Kaira Jewel Lingo

Kaira Jewel Lingo war 15 Jahre Nonne in der Tradition von Thich Nhat Hanh. Sie lebt in den USA, lehrt weltweit Meditation, Achtsamkeit und Mitgefühl und bietet Achtsamkeitsprogramme für Erziehende, Lehrende, Kinder und Jugendliche an.

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