Jenseits von Hoffnung und Furcht

Ein Beitrag von Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck veröffentlicht in der Ausgabe 2016/2 Hoffnung und Furcht unter der Rubrik Hoffnung und Furcht.

Im Buddhismus geht es darum, einen Geisteszustand jenseits von Hoffnung und Furcht zu kultivieren, heißt es oft. Doch warum spricht der Dalai Lama dann so häufig davon, man solle die „Hoffnung nicht verlieren“? Steht er damit nicht im Widerspruch zur buddhistischen Lehre? Oder kennt auch der Buddhismus Vorstellungen von Hoffnung und Furcht?

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Die buddhistischen Traditionen lassen sich nicht umstandslos in die westliche Denkweise übersetzen. Die Begriffe „Hoffnung“ und „Furcht“ tauchen zwar in den Pali- und Sanskrit-Texten auf, haben dort aber oft eine andere Bedeutung. Das führt bei Übertragungen zu Verwirrung, auch zu Widersprüchen. Rigdzin Shikpo, ein Schüler von Chögyma Trungpa, fasst dessen Belehrungen in einem Buchtitel zusammen als Pfad jenseits von Hoffnung und Furcht. Auch Sogyal Rinpoche beschreibt in Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben die Meditation als einen Zustand ohne Annehmen und Ablehnen: „weder Hoffnung noch Furcht“. Im Abhidharma kommen Hoffnung und Furcht nicht als ursprüngliche Geistesfaktoren vor. Doch auch im frühen Buddhismus heißt es, dass Praktizierende am Ende das Hoffen aufgäben, denn sie fessele das Denken an Künftiges, an Nichtreales (Majjhima Nikaya 132.4). Am Ende verliere ein Erwachter alle Hoffnung und Furcht (Majjhima Nikaya 1.4). Dem widerspricht aber zugleich ein anderer Gedanke: Ein Mönch, der keine „Furcht (bhaya) vor Übertretungen“ hat, sei pataniya, ein „Gefallener“, heißt es in Vashubandus Abhidharmakosabhasyam (iv 97b). Und – um einen Sprung in die Gegenwart zu machen – S. H. der Dalai Lama sagt bei vielen Gelegenheiten immer wieder: Wenn Probleme auftauchen, verliere nie die Hoffnung! Einmal gelten Hoffnung und Furcht als zu überwindende Fesseln; ein andermal wird den Mönchen und Nonnen, wenn sie auf Befreiung hoffen, Furcht vor Regelverletzungen als Pflicht auferlegt.

Sind diese Widersprüche bloße „Übersetzungsfehler“? Oder drückt sich hier eine fundamentale Schwierigkeit im Verständnis dessen aus, was uns hoffend oder ängstigend bewegt? In der christlichen Tradition gelten Hoffnung und Gottesfurcht als höchste Tugend. Doch auch der deutsche Mystiker Johann Tauler sagt: Wer Gott erkennen will, darf „weder Hoffnung noch Furcht“ haben (Predigten 1841, S. 19). Es lohnt deshalb, diese Frage zunächst aus einer rein westlichen Perspektive zu betrachten. In der Philosophie gibt es in Europa im 20. Jahrhundert eine ausgesprochene Angst-Philosophie – den Existentialismus – neben einer Hoffnungs-Philosophie aus marxistischen Quellen: Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Bloch geht in seinem voluminösen Werk von einer Diagnose aus, die man durchaus „buddhistisch“ nennen könnte: Im Leben fühlen Menschen sich verwirrt, „der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was“. Und daraus entsteht eine fundamentale Daseins-Angst. Das ist auch die Kernaussage des Existentialismus: Es gibt eine grundlegende Angst – letztlich vor dem Tod –, die sich in der Furcht-vor-Etwas vielfältig konkretisiert. Dieser Diagnose folgt bei Heidegger, Sartre oder Camus die Aufforderung zur Tat. Ernst Bloch meint zur Überwindung der Furcht: „Es kommt darauf an, das Hoffen zulernen.“ Jeder Tat geht die Hoffnung voraus, dass die erlebte Ungewissheit des Lebens irgendwie aufgehoben werden könne oder aber – ein Erbe des Christentums – das Leiden geduldig zu ertragen sei als Gottes Wille.

Immerhin ist in der westlichen Tradition ein Grundgedanke erkennbar: Sie teilt die buddhistische Diagnose, dass wir Menschen in Situationen geworfen sind, die letztlich leidhaft erfahren werden, in Alter, Krankheit und Tod. Daraus entsteht, auch das entspricht durchaus der buddhistischen Diagnose des samsara, eine fundamentale Angst und die endlose Hoffnung, man könne doch alles irgendwann oder irgendwie besser machen: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Während der Materialismus auf eine künftige bessere Gesellschaft hofft, vertrösten die theistischen Religionen auf ein Leben im Himmel – wenn man im Leben Gott nur hinreichend gefürchtet und seine Gebote beachtet habe. Angst und Hoffnung sind zweifellos Erfahrungen einer Energie. Diese kann lähmen, aber auch die Kraft zum Handeln geben. Doch scheint in der abendländischen Tradition der Gedanke vorzuherrschen, dass Angst und Hoffnung unvermeidliche, kausale Produkte der Erfahrung sind. Der große Unterschied zum Buddhismus besteht darin, dass man im Dharma Furcht und Hoffnung als Denkprozesse begreift, nicht als eine Art ursprünglicher, teils unbewusster Naturmacht über die menschliche Psyche.

Hoffnung und Angst entstehen aus der spezifischen Weise, wie Menschen ihre Lebenssituation wahrnehmen und interpretieren. Zwischen Erfahrung einerseits, Hoffnung und Furcht andererseits, schiebt sich ein Denkprozess, ein Prozess der Ich-Illusion, der Verblendung. Nur ein Ich hat Hoffnungen, nur ein Ich fürchtet sich. Es hat Angst, weil das Ich kein Sein aus sich selbst (svabhāva) besitzt. Es ist leer (anatman), vermeint aber, es sei der Mittelpunkt der Welt. Das Ich „ist“ gar nicht; es muss seine Existenz immer wieder illusionär aufbauen und verteidigen. Wie geschieht dies? Durch vielfältige Denkprozesse, in denen wir die Erlebnisse durch Begriffe ergreifen und daran Werturteile knüpfen: Das mag ich, das mag ich nicht. Das Ich ist ein Produkt des Denkens, nicht dessen Voraussetzung. Wir „machen“ aber die Dinge der Erfahrung,der Umwelt nicht selbst – wir er-leben, er-leiden sie. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen der Ich-Illusion, die sehr mächtig ist, und der faktischen Ohnmacht in einer Welt des Wandels ist der Ort, an dem unaufhörlich Gedanken der Furcht und der Hoffnung entstehen. Man fürchtet, was man nicht in seiner Gewalt hat. Und man hofft auf Veränderungen, die den eigenen Wünschen entsprechen. Richtig bleibt allerdings: Durch eigenes Handeln lassen sich viele Erfahrungen positiv verändern. Hier spielen die Hoffnung und die sie nährenden Gedanken eine durchaus produktive Rolle. Wer auf Veränderungen nicht mehr mit Hoffnung reagiert, der verzweifelt. Das Gegenteil ist die blinde Zuversicht: Es ist immer noch alles gut geworden; Krankheit und Tod betrifft nur die anderen. Verzweiflung ist das eine, leere Zuversicht das andere Extrem der Hoffnung. Sie lähmen das Denken und fesseln es an einen passiv erlebten Wandel.

Der Buddhismus ist ein mittlerer Weg. Er pflegt weder leere Zuversicht noch verharrt er in Verzweiflung. Diese Mitte zuerkennen, mit den eigenen Hoffnungen und Ängsten vertraut zu werden, das ist die Aufgabe der Meditation. In der Meditation bemerken wir, dass alle Erfahrungen und Erlebnisse im Raum der Achtsamkeit erscheinen. Die Achtsamkeit gibt den Erfahrungen ihre offene Weite; sie ist kein Gott, der alles macht, noch ist sie ein Nichts. Sie ist immer da, gleich welchen Wandel wir gewahren. Und dieses offene Gewahren ist ebenso das Aufscheinen der Leere aller Phänomene wie der Buddhanatur in uns. Wer mit diesem Raum der Achtsamkeit vertraut wird in allen Erfahrungen, der ist immer schon angekommen. Hoffnung und Furcht treiben uns an, sind Weg-Begleiter. Doch dieser Weg – Samsara – erreicht keinen endgültigen Ort der Stille, auch wenn diese Stille im Lärm der Erfahrungen immer in der Achtsamkeit „da“ ist. Es ist die tiefe Lehre des Mahayana, dass Samsara und Nirvana untrennbar sind. Nirvana, die Freiheit von Hoffnung und Furcht, ist nicht irgendwo und irgendwann in der Zukunft. Sie ist stets mit Hoffnung und Furcht als Gewahrsein in Samsara gegeben. 

Die Einsicht, dass das Ich ein illusionärer Prozess ist, mag einige Menschen zur Trennung von der Gesellschaft treiben, in die „Waldeinsamkeit“ – wie es im frühen Buddhismus hieß, die aber heute noch irgendwo zu erhoffen naiv wäre. Auch Klöster können sich nicht einfach von der Welt abschließen; sicher nicht im Westen. Zwar erlaubt die Meditation immer wieder, in der Arbeit mit der eigenen Achtsamkeit die Welt und alle Erfahrungen vorübergehend hinter sich zu lassen. Doch dann heißt es für uns: Zurück in Samsara, in den Alltag. Dennoch verwandelt die meditative Erfahrung jenseits von Hoffnung und Furcht das Handeln grundlegend. Nichts ist letztlich dauerhaft und nichts ist wirklich „mein“. Also ist es einfach nur klug, eine mitfühlende Haltung allen anderen Menschen gegenüber einzuüben und zu vertiefen. Hier hat die Hoffnung ihre ethische Aufgabe: Sie hilft uns, Menschen zu motivieren, gibt uns selbst immer wieder Kraft, auch in sehr schwierigen Situationen das Mitgefühl nicht aufzugeben. Auch die Furcht wird im mitfühlenden Handeln schließlich verschwinden. Niemand benötigt die Furcht (vor der Hölle oder vor negativem Karma) als Motivation, um sich ethisch zu verhalten: Das Mitgefühl allein genügt. Je weniger wir das Ich in die Mitte stellen, desto weniger Raum bleibt für Angst, denn nur ein Ich fürchtet sich. 

Verzweiflung ist ebenso wenig ein Weg wie das andere Extrem der Hoffnung: die falsche Zuversicht, der Glaube, „irgendwie“ werde schon alles gut. Die Dinge werden nur gut, wenn wir Gutes tun. Und da Handeln (Karma) nur in und als Samsara möglich ist, werden wir auch immer wieder scheitern. Doch die Leerheit, die sich im Scheitern zeigt, ist zugleich auch ein Raum zur Neugestaltung. Dies zu wissen verleiht im Alltag Kraft: Wenn wir stürzen, können wir den Boden als Halt benutzen, um wieder aufzustehen. Diese Entschlusskraft ist auch die Tugend eines Bodhisattva (viriya, das vierte der sechs Paramitas). Das meint vermutlich der Dalai Lama, wenn er sagt: „If tragedy strikes, don’t lose hope. Transform it into an opportunity to make things better.“

Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Karl-Heinz Brodbeck, Prof. Dr., ist Dharma-Praktizierender seit 35 Jahren; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats im Tibethaus Frankfurt. Bis 2014 war er Professor für Volkswirtschaftslehre, Statistik und Kreativitätstechniken an der Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und an der Hochschule für Politik an der Universität München. Er ist Autor zahlreicher Bücher.

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