Ein Herz, erfüllt von Liebe und Güte

Ein Interview mit Isolde Schwarz, Nadja Ledenig geführt von Susanne Billig veröffentlicht in der Ausgabe 2020/4 Mitgefühl unter der Rubrik Mitgefühl. (Leseprobe)

Wer sich selbst nicht annimmt, sondern eine Welt ständiger harscher Selbstkritik in sich erzeugt, wird Mühe haben, großzügig und einfühlsam mit anderen zu sein. Wie sich Selbstmitgefühl lernen und stärken lässt, erläutern Isolde Schwarz und Nadja Ledenig, Lehrerinnen für Mindful Self-Compassion (MSC), im Gespräch.

BUDDHISMUS aktuell: Wie kamt ihr zu eurer Beschäftigung mit dem Thema Selbstmitgefühl?

Nadja Ledenig: Ich hatte eine konfliktreiche Jugend und fühlte ich mich in der Welt verloren. Gleichzeitig war ich sehr selbstkritisch und habe mich unter einen hohen Leistungsdruck gestellt. 2007 bin ich dann zum Buddhismus gekommen und meine Praxis war anfangs stark davon geprägt, dass ich mich unbedingt verändern wollte. An das achtsame Selbstmitgefühl MSC bin ich durch meine Doktorarbeit gekommen. Ich bin Ärztin, mache eine Ausbildung zur Psychiaterin und schreibe eine psychologische Promotion. Als ich tiefer in das Thema einstieg, habe ich verstehen können, wie wichtig es ist, sich erst einmal so zu akzeptieren, wie man ist. Selbstannahme, Selbstliebe sind die Basis – und auf dieser Basis kann Veränderung dann von ganz allein passieren. Natürlich erklären das auch die buddhistischen Lehren, doch ich konnte das vorher nicht so sehen und habe dort auch keine Übungen zum Selbstmitgefühl gelernt. 

Isolde Schwarz: Ich unterrichte seit dreißig Jahren Taiji, Qigong und Meditation. Schon lange berühren mich vor allem die Übungen und Texte, die das Herz ansprechen, zum Beispiel der Vers des chinesischen Weisen Laozi: 

Zentriert im Dao kann sie gefahrlos gehen,
wohin sie möchte.
Selbst mitten im großen Leid
nimmt sie den allumfassenden Einklang wahr,
weil sie Frieden in ihrem Herzen gefunden hat.

Als ich mich dann intensiv mit dem Buddhismus befasste, konnte ich sehen: Wo Laozi die Wege zur Öffnung des Herzens poetisch andeutet, erklärt der Buddha sie sehr präzise. Eine meiner Lieblingsstellen lautet:

Verweile, indem du eine Himmelsrichtung mit einem Herzen durchdringst,
das von liebender Güte erfüllt ist,
ebenso die zweite,
ebenso die dritte,
ebenso die vierte Himmelsrichtung,
auch nach oben, nach unten,
in alle Richtungen,
zu allen anderen sowie zu dir selbst. 
Verweile, indem du die allumfassende Welt
mit einem Herzen durchdringst,
das von liebender Güte erfüllt ist,
unerschöpflich, erhaben und unermüdlich.
(Majjhima Nikaya 7,13)

Nachdem ich selbst eine Herzmeditation entwickelt und unterrichtet hatte, hörte ich über Nadja von dem Kurs in Selbstmitgefühl. Da war es wieder – das Herzensthema.

Stellen wir uns eine Person vor, der es an Selbstmitgefühl fehlt – wie macht sich das bemerkbar? 

Nadja: Die Selbstmitgefühlsforschung weist auf Depressionen, Stress und Angststörungen hin. Selbstkritik spielt sicherlich auch eine große Rolle. Im Verhalten ist diese Person wahrscheinlich sehr nach außen orientiert, weil sie Glück nicht in sich selbst finden kann. Sie ruht nicht in sich, weil eine harsche innere Stimme das verhindert. 

Isolde: Eine solche Person braucht viel Kraft, um ihre innere Spannung zu unterdrücken. Vielleicht wird sie deshalb viel Alkohol trinken, exzessiv Sport treiben oder arbeiten. Wobei, das möchte ich betonen, hier nicht die normale Selbstreflexion gemeint ist, sondern die vernichtende Selbstkritik. Wer so mit sich umgeht, schneidet sich von den eigenen Gefühlen ab und verliert die Ressourcen, etwas gegen das eigene Unglück zu unternehmen. Es gibt dann so viel Wut und Traurigkeit, dass man dem nur noch ausweichen möchte. Irgendwann hat der Stress gesundheitliche Auswirkungen.

Trefft ihr im Alltag oft Menschen, bei denen euch das auffällt?

Isolde: Ich denke oft, dass Menschen so ungnädig mit sich sind. Sie hacken sofort auf sich herum und rufen: „Eigentlich müsste ich ganz anders sein!“ Auch in unseren Kursen. Ständig ist da ein latenter Ausdruck von: „Ich bin zwar jetzt hier und nehme teil, aber eigentlich müsste ich anders sein – entspannter, konzentrierter, lernfähiger.“

Nadja: Meine Patientinnen und Patienten in der psychiatrischen Klinik sind oft extrem hart zu sich selber, oft aber auch sehr kritisch zu anderen – wer wenig Verständnis für andere hat, hat auch in der Regel wenig Verständnis für sich. Wenn Menschen nicht verstehen, dass Schwierigkeiten zum Leben dazugehören, nehmen sie solche Erfahrungen persönlich: „Immer passiert mir so etwas. So schlecht wie mir geht es sonst niemandem.“ 

Was weiß man über die Ursachen mangelnden Selbstmitgefühls? 

Nadja: Laut Entwicklungspsychologie entwickeln wir unser Selbst in den ersten drei Lebensjahren. Wenn uns andere Menschen in dieser frühen Lebenszeit ernst nehmen und unsere Bedürfnisse gerne erfüllen, dann erleben wir, dass wir es wert sind, unsere Bedürfnisse zu äußern. Andernfalls wird die Überzeugung „Ich bin es nicht wert und habe kein Recht, so zu sein, wie ich bin“ zu einer Grundannahme. Und weil man die Welt an den eigenen Grundannahmen entlang wahrnimmt, interpretiert und dann entsprechend reagiert, lebt man dann subjektiv in einer Welt, in der die eigenen Bedürfnisse keine Rolle spielen oder aber nichts als Probleme verursachen. 

Wir leben, so heißt es oft, in einer Kultur der Gier. Sollten wir da nicht eher Selbstlosigkeit erlernen?

Nadja: Als soziale Wesen können wir ohne andere nicht überleben. Wenn wir gut für uns sorgen können, strahlen wir das auch auf andere aus und können sie besser unterstützen. Man kann auch nicht pauschal sagen, dass es grundsätzlich eine gute Eigenschaft sei, anderen immer zu helfen. Entscheidend ist die Motivation. Ich arbeite in einem helfenden Beruf und kenne Kolleginnen und Kollegen, die sehr nach außen orientiert sind. Sie helfen anderen, um selbst gesehen zu werden, Dankbarkeit zu erhalten oder Abhängigkeit zu erzeugen. Mit der Zeit verlieren sie sogar das Gespür dafür, was anderen wirklich hilft. 

Wenn wir in einem MSC-Kurs oder auf andere Weise die Verbundenheit mit anderen vertiefen, gelingt uns die Perspektivübernahme schneller. Wir können nachvollziehen, was andere gerade durchmachen, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben. Es gibt einen weiteren Aspekt: Da hungern Menschen. Flüchtlinge ertrinken. Um das zu ignorieren, müssen wir Verdrängungsarbeit leisten und uns von unseren Gefühlen abschneiden. Resonanz mit anderen passiert natürlicherweise – sie zu unterdrücken, ist mühsam. 

Ich spitze es trotzdem noch einmal zu: Was unterscheidet das Selbstmitgefühl von einer Selbstfürsorge in Form von, sagen wir, ständigem Shoppen und Konsumieren?

Nadja: Ich würde nicht sagen, dass ständiges Shoppen überhaupt etwas mit Selbstmitgefühl zu tun hat. Selbstmitgefühl ist auch nicht immer sanft und unmittelbar wohltuend. Es gibt auch ein forderndes Selbstmitgefühl, wenn man zum Beispiel Dinge erledigt, die man lange vor sich her geschoben hat. Dann kann man sich sagen: „Ich bin es mir wert, dass ich das heute erledige, auch wenn es mir schwerfällt, doch ich möchte, dass mein Leben klarer wird.“ 

Das Thema hat also eine Tiefendimension. Im Raum steht die Frage: Was tut meinem Leben in der Tiefe wirklich gut?

Isolde: Es geht um das Heilsame. Was ist heilsam? Und das lässt sich nur in einem längerfristigen Horizont beantworten. Die Begründerin des Selbstmitgefühlstrainings, Kristin Neff, vergleicht es mit der Kindererziehung. Wenn ein Kind sagt, es möchte den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen oder nur Eis essen, dann erlauben wir das als verantwortungsvolle Eltern vielleicht mal für eine Stunde oder einen halben Tag. Langfristig halten wir unser Kind aber liebevoll dazu an, sich doch auch wieder den Aufgaben zuzuwenden, die im Leben anstehen. Um diesen liebevollen, langfristig heilsamen Umgang mit sich und anderen geht es.

Das bedeutet aber auch, dass man so etwas wie eine Weisheit das eigene Leben betreffend entwickeln muss. Mit simplen Tricks lässt sich das nicht erzeugen.

Isolde: Um Oberflächlichkeiten geht es überhaupt nicht. Ein wichtiger Punkt in einem MSC-Kurs ist das Erforschen der eigenen Grundwerte. Ist es besser für mich, im Kreis von Freundinnen, Freunden, Familie, Menschen zu sein? Oder in der Ruhe, vielleicht im Wald, vielleicht ausgerichtet auf meine spirituelle Entwicklung? Wenn ich meine Grundbedürfnisse kenne, weiß ich deutlicher, was gut ist für mich. Daher geht es darum herauszufinden, was ich in der Tiefe brauche. Anschließend kann ich mich darauf ausrichten – oder mitfühlend mit mir selbst sein, wenn sich meine Wünsche vielleicht nicht so verwirklichen lassen, wie ich es gerne hätte. 

Ein MSC-Kurs dauert acht Wochen. Was lässt sich in dieser Spanne lernen und lehren?

Isolde: Selbstmitgefühl hat drei Kernkomponenten, die alle Thema eines MSC-Kurses sind: Achtsamkeit, Verbundenheit und Freundlichkeit. Achtsamkeit ist wichtig, um zu erkennen, wie geht es mir gerade geht, in welcher Situation ich mich befinde und was ich gerade brauche. Verbundenheit brauche ich, um mich in Relation zu setzen. Anderen ergeht es vielleicht ebenso wie mir. Schwierigkeiten gehören zum Leben dazu; andere erleben sie auch. Freundlichkeit ist eine wichtige Ressource, um wohlwollend mit mir umzugehen, wenn ich mich in einer herausfordernden Situation befinde.

Nadja: Insgesamt befassen wir uns in dem Kurs mit 23 Übungen, die alle auf verschiedene Weise dabei helfen, Ressourcen und Kompetenzen zu entwickeln, die das Selbstmitgefühl stärken. Es geht unter anderem um achtsames Wahrnehmen, Bewusstwerdung, Dankbarkeit, Werte. Eine Ressource ist zum Beispiel die beruhigende Berührung. Oft tun wir das instinktiv, streichen über unsere Oberarme oder Beine oder legen uns die Hände an die Schultern oder auf das Herz, um uns zu beruhigen. Weil der MSC-Kurs von einer Psychologin und einem Psychologen entwickelt wurde, die wissenschaftlich an der Universität arbeiten, wird im Kurs viel psychologisches und auch physiologisches Wissen weitergegeben, sodass wir auch von dieser Seite her verstehen können, wie es beispielsweise zu einer Beruhigung kommt, wenn wir die großen Muskelgruppen berühren. 

ENDE DER LESEPROBE

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Isolde Schwarz

Isolde Schwarz ist Sozialpädagogin und lehrt im Taiji-Weg-Berlin seit 25 Jahren Taiji, Qigong und Meditation. Sie hat ein buddhistisches Grundlagenstudium bei Tan Ajahn Piyadhammo absolviert. Beide gemeinsam gründeten 2010 die „Bewegte Philosophie“.

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Nadja Ledenig

Nadja Ledenig ist Ärztin und Psychotherapeutin und beschäftigt sich wissenschaftlich mit den Themen Achtsamkeit und Mitgefühl. Sie lebt seit 8 Jahren im Bodhicharya Zentrum Berlin. Dharma hat sie mit Lehrern der Waldklostertradition des Theravadas und des tibetischen Buddhismus praktiziert.

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